Tichys Einblick
Serie: "Wo kommst du her?"

Die Woher-Frage öffnet und verbindet

Überall, wohin ich in meinem Leben kam, war die Woher-Frage ein Türöffner, ein Gesprächsschlüssel und führte zum Interessantesten und oft auch Ergreifendsten, das ich je gehört habe. Trennend oder ausschließend war sie nie.

Die Frage nach dem Woher hat lautmalerisch im Tiroler Oberland einen Anklang an Mario Thurnes’ „Wo bisch dau her?“ im Saarland. Denn auch westlich von Innsbruck dominiert das „sch“ statt des „s“. Ich müsste noch etliche Jahre leben, um gleich viel Zeit in meiner Zweitheimat Tirol wie in meiner Erstheimat Steiermark verbracht zu haben. In der Steiermark daheim heißt die Woher-Frage: „Wo bist’n her?“ und hier im Tiroler Oberland „Wo bisch’n her?“

Als ich 1966 nach Bonn kam, war die Woher-Frage ein nützliches Orientierungsmittel. Fragte mich jemand, ob ich aus Bayern bin, wusste ich, aha ein Nördlicher, lautete die Frage hingegen, ob ich aus Österreich wäre, aha, einer aus dem Süden.

In meinem Heimatort in der Obersteiermark spielte für uns Gleichaltrige die Woher-Frage eine besondere Rolle. Das ganze Dorf lebte von einer Papierfabrik, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihre Produktion aufgenommen hatte. Die Arbeiter waren meist aus der Südsteiermark (heute Stajerska, Slowenien) und angrenzenden Regionen Ungarns und Jugoslawiens zugezogen. Wir waren die Kinder der jüngsten Fabrik-Generation. Niemand von uns war „einheimisch“, denn das warst du im Bewusstsein der Einheimischen – und im eigenen – nach der zehnten bis zwölften Generation. Einige meiner Freunde waren die Kinder von Leuten, die erst während des Zweiten Weltkriegs und kurz danach zugezogen waren: Heimatvertriebene aus dem Banat, der Bačka und Baranja. Und „Optanten“ aus Südtirol, wie Hitler und Mussolini die Pistole auf die Brust der deutschen und ladinischen Südtiroler zynisch nannten: raus ins „Großdeutsche Reich“ oder ab nach Sizilien.

Ein guter Schulfreund aus der zu diesem Zweck erbauten Südtiroler Siedlung hieß Benito. Seine Eltern hatte Mussolinis Politik aus Sizilien nach Südtirol beordert, die klugen Leute nutzten die „Option“, um ihr Dasein als schlecht bezahlte und behandelte Industriearbeiter im Raum Bozen durch eine gute Arbeit in der Niklasdorfer Papierfabrik zu ersetzen. Wir hatten uns also schon im Kindergarten und dann der Volksschule nebenan viel zu erzählen, bis wir alle von allen recht gut wussten: Wo bist’n her? Das dauerte bei gut 40 jungen Männlein (drei Viertel) und Weiblein (ein Viertel) – davon drei Einheimische – in meiner Klasse eine Weile, aber wie’s so schön heißt, „beim Redn kommen die Leut‘ z’am“.

Meinen ältesten türkischen Freund Hakki lernte ich in Bonn kennen, der angehende Arzt beantwortete die Woher-Frage immer, bevor sie gestellt wurde: „Leider nicht aus Istanbul, sondern Anatolien, aber wenn ich genug verdiene, hole ich meine Mutter nach Istanbul.“ Was er später auch tat, während er mit einer Deutschen verheiratet und ihren gemeoinsamen Kindern im Ruhrpott lebt und seine Praxis betreibt und mir sein Leid klagt: Fritz, mein Deutsch wird immer schlechter, weil meine Praxis immer voller Türken ist. Hakkis Mutter, das war immer klar, wollte nie weg aus ihrem Land. Und er kann sie in Istanbul besuchen, der Stadt seiner Träume. Denn im Ruhrpott ist er zu Hause, daheim ist er da nicht.

Dass die Woher-Frage etwas Böses wäre, wie neulich auf TE berichtet (Die britische Monarchie im Minenfeld der antirassistischen Identitätspolitik), gehört zu den Abstrusitäten in Wokistan.

Überall, wohin ich in meinem Leben kam, war die Woher-Frage ein Türöffner, ein Gesprächsschlüssel und führte zum Interessantesten und oft auch Ergreifendsten, das ich je gehört habe. Erst neulich lernte ich beim Abendessen, zu dem unsere Bäckerfamilie eingeladen hatte, eine ortsansässige junge Autorin kennen, die zusammen mit einer anderen die persönlichen Geschichten von „Südtiroler Optanten in der Fremde“ niedergeschrieben hat, kurz bevor sich keine Optanten und Nachfahren mehr finden lassen werden. Wohlgemerkt: Südtiroler Optanten in Nordtirol, die um die 70 Jahre lang in den zwei Südtiroler Siedlungen an meinem Zweitheimat-Ort lebten, die nun Neubauten weichen, die – wie jeder „moderne“ Wohnungsbau – mit der Wohnlichkeit und Wohngemeinschaftlichkeit der alten Südtiroler Siedlungen nicht das Geringste zu tun haben. Der Genossenschaftsbau, in dem ich in der Obersteiermark aufwuchs, ist im gleichen Zeitraum entstanden und gleich gestaltet worden mit jenen Kleingärten, die nicht nur preiswerte Nahrungslieferanten, sondern auch Orte der Nachbarlichkeit waren.

Wer verstehen will, ob, wie und wann die aus Afrika und Asien zugewanderten Individuen, Gruppen und Clans in Mittel-, West- und Nordeuropa „daheim“ sein werden, kann dieses Buch lesen. Die Unterschiede zwischen den Südtiroler Dialekten und dem Nordtiroler Oberländischen waren groß genug, um sich kaum zu verstehen. Die klischeehaften Vorurteile gegen die Zugereisten, die „Walschen“, kamen hinzu. Dass die neuen Südtiroler Siedlungen moderner ausgestattet waren, nährte Neidgefühle. Und so weiter. Die Optanten blieben in ihren Südtiroler Siedlungen, bebauten gemeinsam ihre Gärten, kauften im eigenen Gemischtwarenladen ein und verließen die Siedlungen kaum. In ihren persönlichen Erzählungen wird lebendig, worüber die Herrschaftsklasse daherredet ohne das geringste Verstehen. Wer Leute aus anderen Erdteilen nach Europa lockt, hat nie bedacht, was jeden Einzelnen von ihnen in der noch dazu so fernen Fremde erwartet – Heimatlosigkeit.

Woanders daheim sein, das dauert unglaublich lange, mehrere, wenn nicht viele Generationen, und findet in ja selbst schon strukturlosen und kulturschwachen einheimischen Gefilden gar nicht statt. Im besten Fall leben die unterschiedlichen Kulturen halbwegs friedvoll nebeneinander. Integration (in was eigentlich)? Wer das eilfertig postuliert, gar noch als Aufgabe der Einheimischen den Zugewanderten gegenüber, hat nichts begriffen. Welcher Kultur sich wer angleicht, assimiliert, entscheidet jeder Einzelne selbst und allein, sofern er nicht einfach dem stärkeren Kulturdruck nachgibt – wie der Blick auf sehr viele in der dritten Generation der aus der Türkei Stammenden zum großen Bedauern ihrer Eltern und Großeltern zeigt.

Wer nicht weiß, woher er kommt, kann auch nicht wissen, wohin er will. Und wer von dort, wo er her kommt, nicht los kommt, nicht los will – auch und gerade nicht in der Ferne –, den verstehe ich sehr gut.

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