Frankreich: Marokkaner begehen Selbstjustiz nach tödlichem Unfall
Matthias Nikolaidis
Nach dem Tod eines 14-Jährigen kam es zu Gewalteskalationen in Montpellier. Marokkaner übten Selbstjustiz gegen jene Gruppe, die sie für den Tod verantwortlich machten. Erst ein Friedensgipfel zwischen ihrem Imam und dem Vertreter der Roma machte dem ein Ende. Der französische Staat zog sich zurück.
Um die tausend Menschen haben sich an diesem Dienstag in Montpellier dem Trauerzug für den 14-jährigen Aymen angeschlossen, der im Zuge von gewaltsamen Auseinandersetzungen nach der marokkanischen Niederlage im WM-Halbfinale gegen Frankreich ums Leben kam. Das Hochglanzblatt Marianne spricht von „Spannungen zwischen verschiedenen Gemeinschaften“ („tensions communautaires“), die nach dem Spiel Frankreich–Marokko und dem Tod eines jungen Marokkaners ausgebrochen sind. Andere fragen besorgt, ob dies das Frankreich von morgen sein wird.
Der 14-Jährige gehörte zu einer Gruppe von Marokkanern, die einen Citroën C4 eingekreist und versucht hatten, eine Trikolore von dem Wagen zu reißen, wie der Figaro berichtet. Der Fahrer scherte aus, um in die Gegenrichtung zu fahren und so der Menschentraube zu entkommen, und überfuhr dabei den jungen Marokkaner, der wenig später in einer Klinik starb. Einzelne Beobachter fügen hinzu, dass die Marokkaner es keineswegs beim Raub der Flagge hätten belassen müssen. In der Tat gab es auch Bilder von Autofahrern, die in die Flucht getrieben wurden, bevor man ihre Wagen plünderte oder in Brand setzte.
Wie sich später herausstellte, gehörte der Fahrer zur ethnischen Gruppe der Sinti und Roma. Und diese Tatsache sollte Folgen zeitigen. Am folgenden Tag brach eine Art Straßenkrieg zwischen den beiden Volksgruppen los, den einige als ethnisch motivierte Verfolgungen („ratonnades“) beschrieben. Bis zu 300 bewaffnete Maghrebiner fielen im Roma-Viertel ein, um den flüchtigen Autofahrer zu suchen, plünderten und zündeten zwei Häuser, einen PKW und einen Lastwagen an. Das berichtete der Sprecher der in Montpellier ansässigen Roma, Fernand Maraval. Vor allem auf den älteren Bruder von Aymen, Saïd, sollen die Krawallmacher gehört haben. Ein Video trägt die Unterschrift „Schaut, was sie für Aymen getan haben“.
Auch die folgende Nacht von Donnerstag auf Freitag blieb in den betroffenen Vierteln La Mosson und Petit-Bard unruhig. Erneut zündeten die Marokkaner Autos und Mülleimer an, errichteten Hindernisse auf den Straßen. Vier Polizeieinheiten waren allein im Außenbezirk La Mosson im Einsatz, um den Unruhen Einhalt zu gebieten. Doch auch die Beamten wurden mit Wurfgeschossen aller Art und Feuerwerkskörpern beworfen und reagierten schließlich mit Tränengas. 90 Prozent der Bewohner von La Mosson haben marokkanische Wurzeln. Daneben leben auch Sinti und Roma dort.
Mit Kalaschnikows auf der Suche nach dem schuldigen Fahrer
Schon direkt nach dem Halbfinalspiel, in dem Frankreich die marokkanische Nationalmannschaft besiegte, war es zu unruhigen Szenen auf einem der zentralen Plätze im südfranzösischen Montpellier gekommen, das eine der konzentriertesten Ansiedlungen von Marokkanischstämmigen auf französischem Boden besitzt. Am Ende musste die Polizei auch hier mit Tränengas einschreiten, um die Scharmützel zwischen Frankreich- und Marokko-Fans zu beenden.
Nun sollen die Marokkaner sogar Kalaschnikows dabei gehabt haben. Am späten Donnerstagabend stürmten einige von ihnen die Wohnanlage „Jupiter“, zertrümmerten Möbel, zündeten Autos an. Sie machten einen jungen Roma ausfindig, den sie für den Fahrer hielten und umgehend verprügelten, nachdem sie seine Wohnung verwüstet hatten. Tatsächlich war der junge Mann, der mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus kam, nur der Beifahrer gewesen. Er war nicht das einzige Opfer der marokkanischen Lynchjustiz: Am Donnerstagmorgen wurde ein Roma auf offener Straße angegriffen und musste ebenso ins Krankenhaus. Laut einer Polizeiquelle hatte man versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden, was die zuständige Staatsanwaltschaft laut Figaro dementierte. Man liest auch von Attacken mit Eisenstangen.
Die Identifikation des Fahrers stellte dabei an sich kein Problem für die französische Polizei dar, denn er hatte sein Auto in der Nähe des Tatorts stehen lassen und war zu Fuß geflohen. Anscheinend ist er noch immer auf freiem Fuß, hat sich möglicherweise ins Ausland abgesetzt, wie Midi Libre berichtet.
Die Tribalisierung der französischen Gesellschaft und die Omertá der französischen Medien
Die Zigeuner von Figuerolles, einem innerstädtischen Bezirk, waren kurzfristig bereit, ebenfalls zu den Waffen zu greifen, machten aber auf halber Strecke Halt. „Wir wollen keinen Krieg“, sagt Maraval dazu. Die Roma von La Mosson hätten gar ihre Koffer gepackt, um sich etwas entfernt von Montpellier in Sicherheit zu bringen.
Die unsichere Situation brachte den Roma-Sprecher Maraval schließlich dazu, bei der Präfektur um ein Treffen mit Vertretern der marokkanischen Gemeinschaft zu bitten. Am Donnerstag riefen auch die Eltern des getöteten Aymen zur Ruhe auf. Maraval sagte bei dem Treffen: „Uns verbindet mit ihnen mehr, als uns trennt. Denn kulturell verbindet uns etwas: Unsere Kinder bedeuten uns viel, und für die maghrebinische Gemeinschaft gilt ähnliches. Und wir verstehen ihren Schmerz, weil wir auch Väter sind.“ Der Imam sagte, alle Eltern müssten die Verantwortung für ihre Kinder übernehmen – damit war sicher nicht vordringlich der Fahrer des Unfallwagens gemeint.
Nach zwei Nächten herrschte laut dem Präfekten der Region Hérault wieder Ruhe. Doch inländische Beobachter sprechen von „Tribalisierung“. Tatsächlich sind vor allem die gewalttätigen Aktionen der marokkanischen Jugendlichen Auswüchse einer Selbstjustiz, die keinen Aufschub duldet, wohl auch den französischen Behörden wenig Vertrauen schenkt. Andere sprechen auch vom großflächigen Schweigen der französischen Medien – mit einzelnen, oft lokalen Ausnahmen – und bezeichnen dieses Verhalten als Omertá. Das ist bekanntlich das Schweigen aufgrund der Aktivitäten einer Mafia, aus Angst, selbst ausgegrenzt oder zur Zielscheibe von Gewalt zu werden.
Ein starkes Wort, das der ägyptischstämmige Jean Messiha (einst RN, nun bei Éric Zemmours Reconquête-Partei) hier benutzt und das natürlich auch für viele Politiker gilt. Vor allem die Antirassisten, die „fortschrittlich Gesinnten“ und „Humanisten“ wahren laut ihm dieses Schweigen, wo es in der Tat um ein „antiziganistisches Pogrom“ samt Allahu-akbar-Rufen gehe. Messiha greift auch die (laut ihm erfundene) Behauptung an, dass die extreme Rechte eine wesentliche Rolle bei den Unruhen nach dem Spiel Frankreich–Marokko gespielt hätte.
Das Geschehen von Montpellier ist sicher ein Fall von klaren ethnischen Frontstellungen. Daneben ist es ein weiteres Anzeichen für den Zerfall der französischen Gesellschaft, für die nunmehr feste Etablierung von Parallelgesellschaften, zwischen denen auch bei geringfügigem Anlass Konflikte ausbrechen können, welche dann durch eine Art provisorische Kantonsbildung befriedet werden müssen, vergleichbar dem Milliyet-System der Osmanen, in dem Konflikte zwischen Christen und Muslimen geregelt werden konnten. Frieden gibt es dann nur noch, wenn der Imam direkt mit dem Roma-Sprecher verhandelt. Vielleicht.
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