Johann Wolfgang von Goethe hat Neunkirchen/Saar besucht. Eigentlich ist er eher drumherum geritten. Eine weise Entscheidung. Die Stadt zu betreten kann einen nämlich frustrieren.
Der Saarländische Rundfunk hat vor einigen Jahren sein Sendegebiet aus der Luft gefilmt. Entstanden ist eine Dokumentation, die Leute und Sehenswürdigkeiten des kleinsten Flächenlandes in Deutschland vorstellt. Fünf von sechs Landkreisen sind zu sehen – nur Neunkirchen nicht: Die Saarschleife, die Keltenfunde, das Schloss – das Schöne findet sich woanders – Neunkirchen war das Leverkusen des Saarlandes, heute ist es das Gelsenkirchen.
Schon früh hatte sich herumgesprochen, dass es sinnvoller ist, um Neunkirchen herum zu reisen, als sich zu tief in die Stadt zu wagen. Johann Wolfgang von Goethe war hier. 1770. Als Straßburger Student. Er besuchte das Schloss Jägersberg, das kurz danach zerstört wurde. Es beeindruckte ihn, wie sich die Stadt in den Berg reinpresste. Er hinterließ der Nachwelt auch ein Zitat:
„Hier, mitten im Gebirg, über einer waldbewachsenen finsteren Erde, die gegen den heiteren Horizont einer Sommernacht nur noch finsterer erschien, das brennende Steingewölbe über mir, saß ich an der verlassenen Stätte lange mit mir selbst und glaubte niemals eine solche Einsamkeit empfunden zu haben.“
Es sind keine heiteren Worte Goethes. Ja nicht einmal freundliche. Der Bergbau rund um Neunkirchen interessierte ihn, die Eisenverhüttung ebenfalls. In seiner späteren Weimarer Zeit sollte er versuchen, sie nachzuahmen. Wenn auch mit wenig Erfolg. Nicht viele deutsche Autoren beschäftigten sich vor dem Naturalismus mit der Arbeitswelt. Neben Goethe eigentlich nur Heinrich Heine und Georg Büchner. Die Deutschen schrieben lieber über die Grazie griechischer Götter und über verhexte Feen in tiefen Wäldern. Um Neunkirchen herum hätten sie sich wohlgefühlt. Die Stadt selber hätte sie gegruselt.
Wie im Ruhrgebiet haben die Verantwortlichen der Stadt versucht, sich ein neues Image zu geben. Um fair zu bleiben: Was sollen sie auch anders machen? So feiert sich Neunkirchen selbst als „Musicalstadt“, organisiert rund um das Thema Veranstaltungen. Doch um ehrlich zu bleiben: Publikum aus New York oder London abziehen tut das nicht. Nicht mal aus Offenbach. Die Macher sind schon froh, wenn sich jemand aus dem 40 Kilometer entfernten Kaiserslautern auf ein Konzert verirrt.
Andere Projekte verliefen erfolgreicher. Das Saarpark-Center zieht durchaus die lokale Kundschaft an. Wobei die Anreise bevorzugt mit dem Auto erfolgt. Das gibt den Kunden die Möglichkeit, in der abgeschlossenen Glitzerwelt des Einkaufszentrums bleiben zu können – und sich den Rest der Stadt nicht ansehen zu müssen. So wie die Attraktion Bliesterasse, die eigentlich nur in die Landschaft gespuckter Beton ist. Im Alten Hüttenareal sind ein Kino und Gastronomie angesiedelt. Für Nah-Erholer ist Neunkirchen durchaus eine kleine Insel in der Ödnis des Saarlandes.
Für Neunkirchen bedeutet das Hüttenareal eigentlich mehr als Brandenburger Tor, Potsdamer Platz oder Friedrichstraße für Berlin zusammen. Kohle, Eisen und Stahl waren alles in Neunkirchen. Deswegen hat sich an dieser Stelle eine Stadt in die Berge gefressen und auch nur deswegen sind heute noch rund 45.000 Übriggebliebene da. Mitunter etwas frustriert vielleicht.
Bereits hunderte Jahre vor Christi Geburt bauten die Menschen rund um das heutige Neunkirchen Kännelkohle ab. Es gilt als der älteste Steinkohlebergbau in Deutschland. Das Eisenwerk Neunkirchens wurde bereits 1593 gegründet – vor dem 30-jährigen Krieg, vor Ludwig XIV oder Lessing. Auch vor Goethe, der das Werk respektierte, obwohl sein Anblick ihm schlechte Laune bereitete.
Immerhin schrieb die Borussia aus Neunkirchen einmal Fußballgeschichte. Wie Bayern München war sie 1963 kein Gründungsmitglied der Bundesliga. Der DFB bevorzugte die renommierteren Vereine 1.FC Saarbrücken und 1860 München. Doch nach der ersten Saison hätten die Bayern aufsteigen können. Aber die Borussia spuckte dem späteren Weltmeister und Rekordmeister in die Suppe. Das entscheidende Spiel in München gewannen die Saarländer 2:0 und zogen statt der Bayern in die Bundesliga ein. Den ersten Treffer erzielte Günter Kuntz, der Vater des späteren Europameisters Stefan Kuntz.
Damals thronte das Ellenfeld-Stadion fast genauso stolz über der Stadt wie das Eisenwerk. Heute ist es eine verfallene Quasi-Ruine. Beim letzten Besuch des Autors dieses Textes im Herbst 2019 bot es noch eine Pinkelrinne in der Besuchertoilette. Falls sie seitdem nicht modernisiert wurde, dürfte sie bald unter Denkmalschutz stehen. Wer über die einst schöne, heute verfallene Tribüne des Ellenfeld spaziert, bekommt jedenfalls trübe Gedanken. Wie einst Goethe auf den Hügeln rund um Neunkirchen.