Heiko Maas (SPD) hat sich diese Woche aus der Politik zurückgezogen. Er könne sich nicht mehr den politischen Ritualen unterwerfen, schrieb der ehemalige Außenminister in einem Abschiedsbrief. Solch ein politisches Ritual spielt sich gerade um Nancy Faeser (SPD) ab. Die Bundesinnenministerin soll im Herbst hessische Ministerpräsidentin werden. Jeder weiß das, doch verkündet soll es erst im Frühjahr werden. Journalisten fragen nach, um wissend zu wirken. Faeser vertröstet sie, um Spannung aufzubauen. Politische Rituale, die letztlich nur zeigen, wie weit sich die Berliner Blase von der Realität der Menschen entfernt hat.
Hessen war in der alten Bundesrepublik eine sozialdemokratische Hochburg. Erst 1987 konnte die CDU zum ersten Mal die Staatskanzlei besetzen. Dann kam es noch zu einem achtjährigen Zwischenspiel mit Hans Eichel (SPD) an der Spitze des Landes. Doch seit 1999 ist Hessen fest in der Hand der CDU. Seit Mai regiert der ehemalige Innenminister Boris Rhein (CDU) als Ministerpräsident zusammen mit den Grünen.
Die Reichsbürger-Razzia hätte für Faeser nicht günstiger inszeniert werden können: Sie fand am ersten fußballfreien Tag nach Wochen statt und just an diesem Abend war die Innenministerin bei Sandra Maischberger eingeladen. Mit viel Rückenwind ging Faeser in die Offensive: „Nicht verfassungstreue“ Beamten sollten künftig leichter aus dem öffentlichen Dienst entlassen werden können. Um das Verfahren zu vereinfachen, müssten sie ihre Verfassungstreue beweisen – und nicht mehr, wie in einem Rechtsstaat üblich, der Arbeitgeber ihr Fehlverhalten belegen. Juristen nennen das Beweislastumkehr.
Dagegen gab es Widerstand. Aus den Medien. Selbst aus befreundeten. Und auch vom Koalitionspartner FDP. Vier Tage später ruderte Faeser bei Anne Will zurück: Sie habe es so nicht gemeint. Stattdessen beschrieb sie ein Verfahren, das sie beabsichtige und das der Beweislastumkehr faktisch recht nahekommt. Faesers Fehler lag nicht darin, dass sie Beamte leichter loswerden will. Das bleibt ihr Vorhaben. Die Politikerin hat den Fehler gemacht, das zu deutlich und nachvollziehbar zu benennen. Sie will Beamte weiter unbürokratisch feuern können – nur soll das der Öffentlichkeit nicht so bewusst sein.
Deutschland den Scheinwerfer weg von Unternehmen und hin zu missliebigen Beamten gedreht hat.
Rund 350.000 Menschen arbeiten laut Kommunalforum in Hessen im öffentlichen Dienst. Laut Bundeswahlleiter gibt es in Hessen rund 4,3 Millionen Wahlberechtigte. Die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes stellen also schon mal eine wichtige Wählergruppe dar. Im vergangenen Jahr ließ der Beamtenbund DBB eine Umfrage durchführen. Demnach würden 32 Prozent der Beamten Grüne wählen, 28 Prozent die Union und nur 16 Prozent die SPD. Will Faeser Ministerpräsidentin in Hessen werden, muss sie also im öffentlichen Dienst zulegen. Doch mit ihrer Offensive der vergangenen zwei Wochen dürfte sie das Gegenteil bewirkt haben: Faeser hat das in Frage gestellt, was Beamten und Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes am wichtigsten ist. Nicht in erster Linie das Geld, sondern die Sicherheit. Mit Schnüfflergesetz und faktischer Beweislastumkehr müssen Beamte nun jederzeit mit beruflichen Ängsten rechnen. Um diesen aus dem Weg zu gehen, haben aber eben viele den öffentlichen Dienst gewählt.
Drei Faktoren entscheiden die Hessenwahl im kommenden Herbst: FDP und Linken droht der Rauswurf aus dem Landtag. Fliegen die beiden kleinsten Fraktionen raus, kommt es darauf an, ob es der CDU gelingt, mit der AfD eine theoretische Sperrmehrheit zu erreichen. Gelingt das nicht und fliegen FDP sowie Linke aus dem Landtag, dann reicht es für SPD und Grüne zu einer gemeinsamen Mehrheit. Dann kommt es wiederum darauf an, wer das bessere Ergebnis holt, um den Ministerpräsidenten zu stellen. In der Umfrage des Hessischen Rundfunks vom Oktober lagen die beiden Parteien in etwa gleich auf. Andere Umfragen sehen die SPD um einige Prozentpunkte vor den Grünen.
Doch Umfragen während einer Wahlperiode berücksichtigen nie den Faktor Wahlkampf. Wenn die Kandidaten wochenlang Aufmerksamkeit erfahren haben, können sich Prognosen noch ins Gegenteil kehren. Die Grünen verfügen mit Tarek Al-Wazir über einen in Hessen etablierten Politiker, der sich schon mehrfach als Wahlkampf-Lokomotive erwiesen hat. Faeser war noch nie Spitzenkandidatin, sondern wirkte bestenfalls medial aus der zweiten Reihe.
Solch schwerwiegende Fehler hat Rhein bisher nicht gemacht. Er arbeitet eher unauffällig. Das kommt aber bei Deutschen durchaus gut an, wie die Beispiele Stephan Weil (SPD, Niedersachsen) oder ganz prominent: Olaf Scholz (SPD) zeigen. Will Faeser Ministerpräsidentin werden, muss sie nicht nur Stimmen von den Linken und den Grünen holen, sondern auch von der CDU. Aus der Mitte. Die Mitte. Die ist nach Meinung von Faeser „anschlussfähig für Rechtsextremismus“, wie sie im Razzia-Rausch bei Maischberger verkündete.
Wie sieht die PR-Strategie der Wahlkämpferin Faeser aus? Liebe Mitte, ich bin die Nancy und liebe euch, ich kümmere mich um euch. Lasst mich das sagen. Zumindest während des Wahlkampfs. Danach sehe ich euch wieder als potenzielle Nazis an, die ich mit aller Entschiedenheit bekämpfe. Ist eine Strategie. Nur halt keine erfolgsversprechende. Faeser ist eine politische Hardlinerin. Sie will Chats, also Dialoge im Internet, kontrollieren. Ohne jeden Anlass. Jeder Maler, der sich mit seinem Mechaniker-Kumpel auf WhatsApp austauscht, muss damit rechnen, dass der Staat mitliest. Auch wenn er 55 Jahre gesetzestreu gelebt und 40 Jahre Steuern gezahlt hat. Für Marktplatz-Reden taugt das nicht.
Ein Millionen-Publikum durfte zuschauen, wie Faeser scheitert, wenn sie sich in Populismus versucht. Sie flog eigens nach Katar, um dort die „One Love Binde“ auf der Tribüne zu zeigen. Damit sollte die Innenministerin wie eine unerschütterliche Freiheitskämpferin wirken. Doch Fifa-Präsident Gianni Infantino zerschoss den Plan in zynischer Professionalität: Er stellte sich neben die deutsche Innenministerin, lächelte in die Kamera und zeigte mit dem Finger auf die Binde. Faeser wirkte nicht mehr wie eine unerschütterliche Freiheitskämpferin, sondern wie ein Schulmädchen, das vom Lehrer gnadenhalber ein Fleißkärtchen erhalten hat.
Der Lebenslauf der 52 Jahre alten Faeser ist auf die Kandidatur zur Ministerpräsidentin zugeschnitten: Mit 33 Jahren wurde sie Landtagsabgeordnete und blieb das bis zu ihrer Berufung als Innenministerin. Davor und bis zu ihrem Ministeramt arbeitete Faeser als Anwältin, zum größten Teil mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsrecht. In etwa zeitgleich mit ihrem Eintritt in den Landtag wurde Faeser auch in den Bezirksvorstand der SPD Hessen-Süd gewählt. Traditionell einem der am weitesten links stehenden Bezirksvereine der deutschen SPD. Von 2014 bis 2019 war Faeser Generalsekretärin der hessischen SPD, seit 2019 ist sie deren Vorsitzende.
Doch in Faesers hessischer Zeit dominierte stets die CDU das Land. Als Roland Koch 2003 mit dem Ballast der Spendenaffäre in den Wahlkampf zog, gelang es der SPD, einen so schlechten Wahlkampf hinzulegen, dass Koch am Ende mit einer absoluten Mehrheit dastand. Die SPD trat währenddessen mit unterschiedlichen Spitzenkandidaten an. Faeser war Ministerin – aber nur in deren „Schattenkabinetten“. Nun soll sie aus dem Schatten treten und als Frontfrau agieren. Drei Monate vor dem Start hat sie den öffentlichen Dienst gegen sich aufgebracht und die Mitte in Deutschland unter Generalverdacht gestellt. Auch eine Leistung.
Wichtiger Hinweis: Die erwähnte EU-Richtlinie trägt den vollständigen Namen „Richtlinie (EU) 2019/ 1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden“.