Lorenz Adlon geht spazieren. Am Brandenburger Tor. Er lebt. Aber eigentlich ist er schon ein Gespenst. Es sind die ersten Jahre der „Weimarer Republik“ und Adlon gehört nicht in diese Zeit. Er ist übriggeblieben. So wie Charlie Chaplin den Stummfilm überlebt hat – aber für immer in dieser Zeit verhaftet ist. Es sind die letzten Tage Adlons, es sind traurige Tage. Lorenz Adlon ist ein gebrochener Mann.
Adlon geht am Brandenburger Tor auch nicht spazieren. Er sucht. Er wartet. Auf seinen Kaiser. Der war früher jeden Morgen, wenn er in Berlin war, durchs Brandenburger Tor geritten. Durch den mittleren Bogen, der ausschließlich ihm vorbehalten war. Wenn er Adlon sah, hielt er gerne mal für einen kleinen Plausch. Die beiden verband eine gemeinsame Geschichte. Im Kleinen wie im Großen. „Mein Adlon“ gehörte für Wilhelm II. zu seinem Leben, so wie der Kaiser zu Lorenz Adlons Leben gehörte. Er, der treueste aller Preußen. Der eigentlich ein Rheinhesse war.
Erst nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 darf Mainz seine Festung schleifen und sich selbst so Platz verschaffen. Lorenz Adlon ist sofort dabei. Der Sohn eines Schusters und gelernte Tischler ist ein Aufsteiger. In seinem Lehrbetrieb, der Kunstschreinerei Bembé hat er Kontakt zu der Welt der Reichen gefunden. Für den Beruf des Gastwirts scheint er wie geboren, bringt sowohl Unternehmergeist, als auch Durchhaltevermögen mit sich und am wichtigsten: Charme. Seine Raimundigärten am Rhein, in der Nähe des Schlosses, werden zur ersten Adresse der Stadt. Fastnachts-Sitzungen finden hier statt und das immer reicher werdende Bürgertum fühlt sich mit seinem Geld wie einst nur der Adel.
Doch Mainz bleibt für Adlon zu eng. Es zieht ihn weiter. Er übernimmt Großveranstaltungen, ein Hotel in Amsterdam und landet letztlich in Berlin. Die Hauptstadt Preußens und der Rheinhesse werden zu einer Symbiose. Adlon übernimmt das Restaurant Hiller, führt eine französische Küche ein, die ihn berühmt macht und strebt nach mehr. Immer mehr. Er bewirtet die Gewerbeausstellung in Treptow, betreibt ein Restaurant am Zoologischen Garten und gründet das Hotel Continental nahe des Bahnhofs Friedrichstraße.
Nur: Das reicht Adlon nicht. Er will mehr. Es ist der Geist der Gründerjahre, die nach dem siegreichen Deutsch-Französischen Krieg und der Reichsgründung einsetzen. Und die ihren eigentlichen Charakter 1888 erhalten, als Wilhelm II Kaiser wird. Ein unreifer Mensch. Erst 29 Jahre alt und das Opfer einer verkorksten Erziehung am preußischen Hof. Aber auch ein Mann voller Tatendrang und Utopien. Am Ende führt das mit in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Aber dazwischen liegt eine Zeit des Optimismus und Tatendrangs.
Als Gastronom weiß Adlon, was zählt: Lage, Lage, Lage – Unter den Linden, Friedrichstraße, Bahnhof Zoo und das Freizeitgelände in Treptow. Schön und gut. Aber Adlon will in die erste Lage Berlins. Die allererste Lage. Und das ist das Brandenburger Tor. Er bedenkt alles. Alles richtig. Betritt der Bürger den Pariser Platz von Westen aus – nicht durch den mittleren Bogen, der ist dem Kaiser vorbehalten –, dann sieht er gleich auf den ersten Blick die Gebäude auf der rechten Seite. Sie bilden eine Oase der Ruhe. Das ist wichtig. Denn um den Jahrhundertwechsel verdrängen die ersten Autos allmählich die Pferdekarren und in dem Tumult kommt es fast täglich zu Toten. Der Platz auf der rechten Seite liegt zwar mitten im Geschehen, bietet aber den gestressten Bürgern eine Atempause in der Hauptstadt.
Genau dort will Lorenz Adlon sein Hotel bauen. Es gibt nur ein Problem, das zwei Stockwerke hoch ist: Dort steht das Palais Redern. Von niemand anderem erbaut als Berlins berühmtesten Architekten, Karl Friedrich Schinkel. Und schon zur Jahrhundertwende unter Denkmalschutz. Aber das ist nicht Adlons einziges Problem: 30 Jahre lang war er ein fleißiger und erfolgreicher Geschäftsmann und konnte sich ein Vermögen von 2 Millionen Mark ersparen. Doch das sind weniger als zehn Prozent Eigenkapital für die Pläne, die er an Berlins allererster Lage umsetzen will.
Ein denkmalgeschütztes Gebäude abreißen für ein Hochrisiko-Projekt mit weniger als zehn Prozent Eigenkapital? Es braucht wenig Phantasie, um sich auszumalen, wie krachend das Vorhaben heute scheitern würde. Doch in der Gründerzeit geht das. Auch noch in ihrer Sehrspätphase. Weil sich der Kaiser persönlich für das Projekt einsetzt. Adlon hat es ihm über Mittelsmänner ins Ohr pflanzen lassen, hat ihn im Zoologischen Garten abgefangen und letztlich bei einer Privataudienz seine Unterstützung erhalten. Mit dem Kaiser im Rücken steht das Adlon in einem Bruchteil der Zeit, die Berlin 100 Jahre später für einen Flughafen braucht.
Adlon hat den Kaiser mit einem Versprechen geködert: Seine Badewannen sollen innerhalb von drei Minuten mit heißem Wasser gefüllt sein. Als das Adlon am 27. Oktober 1907 offiziell eröffnet, nimmt der Kaiser es persönlich ab. Er ist zufrieden. Anfangs. Dann macht er einen Test. Er nimmt seine Uhr und lässt das Wasser in eine Badewanne laufen. Die ist nach weniger als drei Minuten voll. Der Kaiser ist mit seinem Hotelier zufrieden. Er mietet dauerhaft einen Flügel im Nobelbau, verhilft dem Hochrisiko-Projekt so zu einer sicheren Einnahme und dem Renommee seines feudalen Namens. Das wird zu einem Erfolg und gilt bis zum Ersten Weltkrieg als erste Adresse Europas. Auch weil Wilhelm II seinen Gästen empfiehlt, sich doch ein Zimmer in „meinem Adlon“ zu nehmen, statt in seinem „zügigen“ Schloss zu übernachten.
Klugscheißer mögen darüber streiten, wann die Gründerzeit zu Ende gegangen sei. Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg war sie aber definitiv vorbei. Unwiderruflich. Der Kaiser ging in sein niederländisches Exil. Holzhacken. Etwas, das Lorenz Adlon bis zu seinem Lebensende nicht glauben wollte. Gerade in den Tagen der Revolution ging er morgens zum Brandenburger Tor. In der Hoffnung, seinen Kaiser zu treffen. Am mittleren Bogen, der nur ihm vorbehalten war. Dann traf Adlon ein Schlag. Buchstäblich: Ein Militärtransporter hatte ihn erfasst. Ein Transporter voll mit Revolutionären. Von diesem Schlag hat sich der Hotelier nicht erholt.
Drei Jahre lang wandelte er noch wie ein Gespenst durch die Weimarer Republik. Doch er war nicht mehr der charmante Wirt, der von Tisch zu Tisch zog, um mit seinen Gästen zu plaudern. Meist blieb er auf seinem Zimmer. Nur morgens verließ er sein Hotel. Immer. Um zum Brandenburger Tor zu gehen. Voller Hoffnung, seinen Kaiser zu treffen. Am mittleren Bogen. Der nur ihm vorbehalten war. 1921 erwischte ihn dort wieder ein Wagen. Dieses Mal überlebte Adlon den Unfall nicht.