Neunzehn lange Jahre lang führte Theo Sommer die ZEIT als Chefredakteur, von der Brandt-Ära bis zur Zeit nach dem Mauerfall. Anschließend bestimmte er im Blatt als Herausgeber noch acht Jahre ein wenig mit. Wenige Figuren prägten den westdeutschen Journalismus so sehr wie der Wahlhanseat. Im August 2022 starb Sommer, Jahrgang 1930. Seine Lebenserinnerungen erleben am heutigen Dienstag in Hamburg ihre Premiere. Was auch immer jemand als Lebensbilanz notiert, der so wie er jahrzehntelang Meinungen mitprägte – es trägt zur Erhellung bei.
Manchmal deutet schon die Verlagsankündigung auf das zentrale Problem eines Buches hin. Propyläen bewirbt Theo Sommers Buch „Zeit meines Lebens. Erinnerungen eines Journalisten“ mit dem Satz, der Autor habe „viermal Deutschland erlebt“, nämlich die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die Bundesrepublik und die DDR. Zur Weimarer Republik kann der 1930 geborene Autor naturgemäß keine eigenen Wahrnehmungen beisteuern. Sein DDR-Erlebnis beschränkte sich auf drei staatlich betreute Reisen durchs Land, 1964, 1984 und 1986, auf denen er mit Erich Honecker, Egon Krenz und etlichen anderen Funktionären parlierte, um ZEIT-Lesern speziell über den Generalsekretär die Erkenntnis zu vermitteln: „Die Bürger des anderen deutschen Staates bringen ihm fast so etwas wie stille Verehrung entgegen.“ Selten in der Mediengeschichte dürfte es einen Journalisten gegeben haben, der von seinem Thema so wenig verstanden und in seinen Texten eine derartige Stusshalde aufgetürmt hatte wie der Leitartikler aus Hamburg über den ostzonalen Staat.
In Sommers Fall bleiben realiter also zwei Deutschlands übrig, NS-Zeit und Bundesrepublik. Es kostet Mühe, sich durch seine Autobiografie zu arbeiten, aber am Ende steht durchaus ein kleiner Gewinn. Denn Sommer stand idealtypisch für ein bundesrepublikanisches Milieu, das jahrzehntelang Begriffe und Diskussionen bestimmte, für eine chattering class, die mit ihrer ganz speziellen Mischung aus Mediokrität, Hochmoral und bodenloser Selbstwertschätzung die Grundlagen für sehr vieles, wenn nicht sogar alles legte, was das offizielle Deutschland heute ausmacht. Da schon das Stichwort durcharbeiten fiel: Die ersten Kapitel gehören zu den allerzähesten des Buchs.
Sommer breitet seine Reminiszenzen an die Burg Hechingen aus, in der sein Großvater als Kastellan diente, er listet die Kinderkrankheiten des sehr jungen Theo auf und noch dies und das, und zwar samt und sonders ohne die geringste literarische Verdichtung. Vor allem – und das gilt für das Opus insgesamt – ohne das allerkleinste Körnchen Witz. Dann folgt allerdings ein nicht uninteressanter Teil, der auch etwas zur bundesdeutschen Tiefengeschichte beiträgt, nämlich der Abschnitt über seine Zeit in der Adolf-Hitler-Schule Sonthofen, einem Institut zur Erziehung des sogenannten Führernachwuchses. Bei den Adolf-Hitler-Schulen handelte es sich um deutlich exklusivere Einrichtungen im Vergleich zu den „Nationalpolitischen Erziehungsanstalten“, kurz Napola: Von denen gab es seinerzeit 37, Hitler-Schulen nur drei (was Sommer den Leser auch wissen lässt).
Und noch viel mehr. Auf der Führerschule in Sonthofen, schreibt der Autobiograf, habe er manches „richtige im Falschen“ gelernt. Dazu vergleicht er die von ihm mit AHS abgekürzte Bildungseinrichtung mit dem Internat Schloss Salem: „Kurt Hahn, der Gründer des deutschen Elite-Internats Schloss Salem“, so Sommer, „hat einmal formuliert, welche Eigenschaften er seinen Zöglingen beibringen wollte: ‚Gemeinsinn; Gerechtigkeitsgefühl; Fähigkeit zur präzisen Tatbestandsaufnahme; Fähigkeit, das als Recht Erkannte durchzusetzen gegen Unbequemlichkeiten, gegen Strapazen, gegen Gefahren, gegen Hohn der Umwelt, gegen Langeweile, gegen Skepsis, gegen Eingebungen des Augenblicks; Fähigkeit des Planens; Fähigkeit des Organisierens: Einteilung von Arbeiten, Leitung von Jüngeren; Fähigkeit, sich in unerwarteten Situationen zu bewähren. Sorgfalt im täglichen Leben, bei der Erfüllung besonderer Pflichten; … Leistungen im Unterricht: Deutsch, Alte Sprachen, Neue Sprachen, Geschichte, Naturwissenschaften, Mathematik; praktische Arbeiten; künstlerische Leistungen; Leibesübungen, Kampfkraft, Zähigkeit, Reaktionsgeschwindigkeit.‘ Persönlichkeitsbildung und Erziehung zur Verantwortung waren die Leitideen.“
Und: „So viel anders waren die Erziehungsziele der Adolf-Hitler- Schulen auch nicht. Es gab dort manch Richtiges im Falschen. Auch das Prinzip ‚Jugend wird von Jugend geführt‘, das schon die Bündische Jugend hochhielt, klingt bei Hahn an, wenn er sagt, die Jungen seien ‚in der freiwilligen Unterordnung, im verantwortlichen Befehlen‘ zu üben – wie übrigens ‚im Bestehen von Gefahren und Strapazen‘. War das AHS-Prinzip, gehorchen zu lernen, um befehlen zu können, und die Schüler immer wieder an ihre Leistungsgrenze zu führen, wirklich etwas total anderes? Wir wurden zum Führen erzogen, gewiss, doch wir mussten auch gehorchen lernen.“
Diese Lektion habe er dort gelernt, teilt Sommer mit, bekräftigt durch ein durchaus affirmativ eingestreutes Zitat des damaligen Reichsjugendführers: „Durchsetzungskraft in der Stubenführung schlug kräftig zu Buche. Es galt das Wort Baldur von Schirachs: ‚Wir wollen keine bleichen Musterknaben. Wir verlangen von euch Mut, Tapferkeit, Entschlossenheit und Draufgängertum. Angeber können wir nicht brauchen.‘“ Die Zeit in der Adolf-Hitler-Schule habe ihn für später geformt, und das durchaus zu seinem Vorteil (dazu nachher etwas mehr): „Auch eine gewisse Härte gegen mich selbst, ein robuster Durchhaltewillen, Selbstvertrauen und, wenn nötig, entschlossene Sturheit haben sich mir erhalten.“
An einer anderen Stelle schreibt er: „Reichlich indoktriniert fieberten viele von uns dem ‚Endkampf‘ entgegen. Doch was wir dann alsbald über die nationalsozialistische Herrschaft erfuhren, immunisierte uns für alle Zeiten gegen sämtliche totalitären Heilslehren.“ Nur ein paar Seiten weiter heißt es, so ideologisch sei die AHS gar nicht gewesen. An den politischen Unterricht, so Sommer, habe er keine Erinnerungen. Dass seine Eltern beide Mitglieder der NSDAP waren, sei ihm zu seiner Überraschung erst später bei der Durchsicht von Familienunterlagen aufgefallen.
Der kameradschaftliche Umgang an der Führerschule, von der er berichtet, die Tatsache, dass die Schüler ihre Erzieher duzten, das alles gehört in den Kosmos des Nationalsozialismus, dessen Volksgemeinschaft, die viele andere ausschloss, im Inneren einen Egalitarismus bot, der sich bewusst gegen die Hierarchie des alten kaiserlich-konservativen Deutschland richtete. Götz Aly hatte in seinem (von links wütend attackierten) Buch „Hitlers Volksstaat“ die sozialpolitische Seite dieser Herrschaftsausübung beschrieben. Sommer hätte aus seinen Erfahrungen etwas zur Mentalitätsgeschichte dieser Zeit beitragen können. Aber dazu wäre ein Minimum an kritischer Distanz zu seinem Gegenstand nötig gewesen, also zu sich selbst.
Im Vergleich mit den Autobiografien von Generationsgenossen wie Karl Heinz Bohrer oder Georges-Artur Goldschmidt (beide übrigens auch Autoren mit prägenden Internatserfahrungen) fällt noch stärker auf, wie seicht und unreflektiert sich Sommer erinnert, teils aus Unvermögen, seine eigene mit der Gesellschaftsgeschichte zu verweben, aber aus seinem Unwillen, überhaupt über Dissonanzen und Brüche nachzudenken. Die Gefahr der Selbsterforschung erledigt er in einem Satz: „Nur von der politischen Prägung, die ich auf der Ordensburg erfahren habe, ist nichts nachgeblieben.“
Warum verfasst jemand überhaupt seine Biografie? Um möglicherweise beim Schreiben etwas herauszufinden, was er über sich noch nicht wusste. Falls die Erkenntnis auch für andere von Interesse ist, lohnt die Veröffentlichung. Anderenfalls bleibt sie besser ein erweitertes Familienalbum. Die Selbstentdeckung scheitert bei Sommer schon an der Sprache. Der Mann, der die ZEIT lange Jahre leitete, kann partout nicht schreiben. Später im Buch notiert er, viele journalistische Texte von ihm seien umständehalber in Eile verfasst worden und deshalb halbfertige Ware. Tatsächlich lieferte er sich damals in Hamburg mit Robert Leicht und ein paar anderen Weltlaufdeutern tote Rennen um den lebertranigsten Leitartikel auf der Frontseite, unter Kollegen auch „Grabplatte“ genannt.
In „Zeit meines Lebens“ beweist er, dass Aufsätze oft schlechter werden, wenn ein Verfasser seines Kalibers mehr Muße dafür hat. Dass sein pomadiger Stil über längere Strecken wie eine Parodie von Eckhard Henscheid klingt, entschädigt immerhin für manches. Da entdeckt Sommer beispielsweise, „dass meine Familie ihre Wurzeln ganz unten im Volk hat“; er erinnert sich an „die blonde BDM-Führerin, die mich während meines Besuchs betreute und mein vierzehnjähriges Blut ganz schön in Wallung brachte“, es kommt ernsthaft das „Lausbubenzeitalter“ vor. Über das Kriegsende fällt ihm der Satz ein: „Ende März oder Anfang April brach die Götterdämmerung an.“ Und dann? „Die Jahre der Gärung schlossen mit der Mittleren Reife ab.“ Kurzum, der Autobiograf klingt wie Hermann Löns, nur zehnmal schlechter.
Nach einer längeren und ledernen Passage über seinen Einstieg bei der ZEIT folgt das zweite unter psychologischen Gesichtspunkten einigermaßen ertragreiche Stück des Buchs, nämlich die Beschreibung seiner DDR-Reisen. Die erste findet 1964 statt; Theo Sommer leitet sie mit einem Lob für die neue ökonomische Politik Walter Ulbrichts ein. „Die Herausbildung eines libertär-marxistischen SED-Regimes“, so unser Chronist, „erschien nicht länger als ein Ding der Unmöglichkeit.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte das beinahe libertär-marxistische Regime gerade seine eigenen Bürger eingemauert.1964 kehrte der Schriftsteller Erich Loest nach sieben Jahren Zuchthaus wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ ins überwachte Zivilleben zurück, andere traten wegen ähnlicher Delikte gerade die Reise in Gegenrichtung an. Mit Indignation nimmt Sommer am Sozialismus weniger die Herrschaftspraxis wahr, sondern dessen Ästhetik, die dem Hamburger zu wünschen übriglässt: „Die Menschen ärmlich gekleidet, in tristem Einheitsschnitt ohne Schick und Farbe.“
Bei der nächsten vom DDR-Presseamt rundum betreuten Visite einer ganzen Journalistentruppe mit Sommer mittemang im Jahr 1984 kommt ihm das Land schon sehr viel bunter vor. Und er darf mit Erich Honecker sprechen. Wobei Sommer couragiert darauf besteht, auch ja an der richtigen Stelle empfangen zu werden: „(…) mir ging es um ein Gespräch mit dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, nicht mit dem Parteichef. Ich wollte daher keinen Termin im Gebäude des Zentralkomitees, sondern einen im Staatsratsgebäude.“ Als ob der DDR-Oberste ernsthaft zwischen beiden Rollen unterschieden hätte. Sommers Urteil über Honecker, wohlgemerkt in seinem Buch von 2022: „Ein Staatsmann von Format“. Wenn ein Journalist von Format das meint, muss es wohl so sein.
Seine Reise führt ihn und die Kollegen überhaupt nicht durch die realexistierende DDR, sondern durch den Ausschnitt, den sie nach Maßgabe diensteifriger Funktionäre sehen sollen. Jeder westliche Journalist, der damals ostwärts reiste, wusste das. Sommer macht diesen Unterschied nie zum Thema, damals in seinen Artikeln für ZEIT genauso wenig wie in seinem Buch. Es scheint, als wäre die Funktionärs-DDR auch genau das gewesen, was er sehen wollte.
„Das randvolle Programm“, heißt es in seinen Erinnerungen, „brachte uns in Kontakt mit vier Politbüromitgliedern (Axen, Felfe, Hager, Mittag) und einer Handvoll Professoren, zwei Bischöfen und mehreren Oberbürgermeistern, mit den Gebietsparteisekretären Timm in Rostock und Modrow in Dresden, mit dem Umweltminister Reichelt und dem Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi. Wir sprachen mit einem guten Dutzend Schriftstellern, dar- unter Hermann Kant, Heiner Müller und Günter de Bruyn, Monika Maron und den drei Helgas: Königsdorf, Schubert und Schütz.“
Über die Plaudereien mit Egon Krenz und Modrow erfahren die Leser viel, über das Gespräch mit den Schriftstellern und den noch ganz am Rand miterwähnten Bauarbeitern nichts. Seine Erkenntnis von damals, die DDR-Bürger brächten Honecker „fast so etwas wie stille Verehrung entgegen“, zitiert Sommer im Buch, um festzustellen: „Ich glaube aber nicht, dass ich mich in meiner Einschätzung getäuscht habe.“ Es folgt eine der gespenstischsten, aber in ihrer Offenheit auch lehrreichste Seite des Buchs, nämlich ein Lob Honeckers, gesungen von dem langjährigen Herausgeber der ZEIT um das Jahr 2022: „Die meisten Neuerungen gingen auf die Jahre seit 1971 zurück, als Honecker die Nachfolge Walter Ulbrichts antrat. Realismus statt Utopie; bessere Befriedigung der materiellen Bedürfnisse; weniger Angst, mehr Angebot; Intensivierung der Produktion und des Wohnungsbaus; Ankurbelung des Dienstleistungsangebots, Umweltschutz, nicht zuletzt die Einführung von Sexualberatungs- stellen – alles wurde Honecker gutgeschrieben und zugutegehalten. ‚Honi‘ nannte ihn keiner, das war westlicher Sprachgebrauch und wurde als genierlich empfunden. Es war ‚der Chef‘, ‚der Erste‘ oder einfach Erich. ‚Erich währt am längsten‘, hieß eine Kabarettnummer der Berliner ‚Distel‘. Das Publikum im ausverkauften Haus applaudierte lang und heftig. Der Jubel verriet etwas von der heimlichen Zuneigung derer, die Honeckers Regiment unterstanden.“
„Der Chef“ oder „der Erste“, so nannten ihn Leute in Funktionärskreisen, gelegentlich auch „EH“. Wer so sprach, deutete seien Zugehörigkeit zum richtigen Kreis an.
Zu keinem Zeitpunkt bemühte sich Sommer mit seinen anderen Narrativschaffenden um ein Gespräch mit Oppositionsvertretern. Und das, obwohl ihm Honecker versichert hatte, er könne sich völlig frei in seiner DDR bewegen, nichts solle ihm verschlossen bleiben. Das lässt nur einen Schluss zu: Die Oppositionellen interessierten ihn schlicht und einfach nicht, mehr noch, er empfand ihre Existenz, von der er immerhin wusste, als lästig. „Wer die Gegen-Revolution in der DDR fordert und fördert“, belehrte Sommer damals seine Leser, „wird die allmähliche Evolution blockieren. Die Veränderungen müssen zwangsläufig von den Trägern des Regimes bewirkt werden.“
Bei Sommer handelte sich nicht um einen Solitär, sondern um einen Journalistentypus, den es im Dutzend gab. Seine damals mitreisende ZEIT-Kollegin Nina Gruneberg überschrieb einen ihrer DDR-Artikel mit: „Häuserbauen ist ihnen wichtiger als Fahnenhissen“. Den Parteisekretär von Rostock zeichnete sie als bescheidenen Arbeiter, der sich für das wohl seiner Bürger aufreibt. Privilegien genieße er keine, „außer dem, dass er für alles verantwortlich ist. „Bei uns“, fand Grunenberg, „wäre er Ministerpräsident.“ Dem damaligen Mann Monika Marons vertraute Gruneberg damals an, sie könnte es sich vorstellen, auch in der DDR zu leben. Er fragte zurück: „Hast du dir mal überlegt, als was?“ Sie ging offenbar selbstverständlich davon aus, auch dort als leitende Redakteurin im „Neuen Deutschland“ oder der „Wochenpost“-Redaktion zu sitzen statt an einem Kartoffelsortierband. In Sommers Reminiszenz taucht neben anderen auch der SPIEGEL-Redakteur Gerhard Spörl als Mitglied der Reisegruppe auf. Einer größeren Öffentlichkeit wurde der Journalist kürzlich noch einmal durch den Skandal beim RBB in Erinnerung gerufen; zusammen mit Ehefrau und Intendantin Patricia Schlesinger war er Teil der tatkräftigen Zugewinngemeinschaft im Dreieck zwischen Sender, Berliner Messe und dem Powerpärchen. Im Jahr 1986 so Sommer, habe Spörl die DDR dafür gelobt, dass sie „Wohlstand und Ordnung“ verwirklicht hätte.
An wirklich keiner Stelle kommt Sommer in seinem Buch der Gedanke, sein Wohlgefallen an der autoritären DDR könnte in einer tiefen, aber trotzdem soliden Verbindung mit seiner autoritären Prägung durch die NS-Ordensburg stehen, die er ein paar Kapitel vorher in mildleuchtenden Farben malt. Wer sich durch seine Erinnerungen arbeitet, kann an diesem Zusammenhang kaum vorbeilesen. Wie in einem therapeutischen Gespräch zeigen sich tiefere Persönlichkeitsschichten. Nur dem Autor selbst scheint davon nichts aufzufallen.
Sein Sprachgefühl kann Sommer unmöglich auf seinen Posten als Chef der wichtigsten westdeutschen Wochenzeitung gebracht haben. Seine Analysefähigkeit auch nicht. Was ihm offenbar lebenslang half, war das Selbstbewusstsein, dass ihm damals in Sonthofen eingeflößt wurde, das Gefühl, zu Führungsaufgaben bestimmt zu sein. Und dazu etwas Glück, außerdem die Fähigkeit, sich immer und überall – auf der Ordensburg, im Medienbetrieb, in der DDR – so konform wie möglich zu verhalten. Sein Instinkt, der ihn drüben von Oppositionellen fernhielt, leitete ihn schon völlig korrekt.
Mindestens ein dutzend Mal bescheinigt er sich in seiner Selbstbiografie, liberal zu sein. Sein praktisches Verständnis von Liberalität zeigte sich vor allem darin, die ostdeutschen Diktatur gefällig auszuleuchten, im Westen vor „Großmachtschwärmerei und Hurrapatriotismus“ zu warnen (dann aber die deutsche Klimaweltrettungsattitüde, also den Hurrapatriotismus in grün, ebenso glatt wie gnädig zu übersehen), und nebenbei – auch das kommt kurz in seinem Werk vor – die Etablierung des Islam als wertvolle Bereicherung Deutschlands zu lobpreisen. Sommers journalistische Vermächtnis besteht in exakt jener Nullachtfünfzehn-Mischung, die man seinerzeit in Hamburg und heute mit identitätspolitischer Soße verziert auch in Berlin an jeder Medienbetriebsecke dreimal gereicht bekommt. Sein „Zeit meines Lebens“ gleicht erstaunlich den gedruckten Selbstrechtfertigungen greiser DDR-Funktionäre, die sich mit neunzig Jahren auf dreihundert Seiten unentwegt selbst zunicken: war alles richtig, war alles richtig.
„Journalisten“, erklärt Sommer zum Schluss, „sie gehören sämtlich der Gilde der Welterklärer und Weltverbesserer an. Ihr habe ich mich zeitlebens zugehörig gefühlt.“ Wer sich von ihm die Welt erklären ließ, war selbst schuld. Mit den anderen Leitartiklern der Republik aus seiner alten Garde verbindet ihn ebenso wie mit den wohlgesinnten Jüngeren die Eigenschaft, grundsätzlich nie Kleingeld dabei zu haben. Das Kapitel über seine Asienreisen ist allen Ernstes mit „Die Entdeckung Asiens“ überschrieben. Darunter macht es ein Welterklärer einfach nicht. An einer Stelle sinniert Sommer, was aus ihm geworden wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte, und bietet an: „Gauleiter von Jekaterinburg oder Chicago“, aber vielleicht auch ein Widerstandskämpfer, der „am Fleischerhaken in Plötzensee“ hätte enden können. Also in jedem Fall etwas ganz Großes, kein bleicher Musterknabe im Meinungsschaffungsbetrieb.
Dass ein Mann, der sich aus purer Eitelkeit und ohne jeden äußeren Druck einem piefigen Kleindiktator andiente und ihm auch noch im Jahr 2022 ein Kränzchen windet, probeweise in das Kostüm eines Stauffenberg schlüpft, gehört zu den abstoßendsten Stellen dieses Buchs.
Sommers Lebenserinnerung ist, alles in allem, ein deutsches Dokument, das nicht unbeachtet bleiben sollte.