Tichys Einblick
digitale Naivlinge statt „digital natives“

Wortschatz von Viertklässlern immer geringer – Irrweg Digitalisierung

Unter Viertklässlern in Deutschland gibt es einer Studie zufolge erhebliche Unterschiede im Wortschatz. Der Wortschatz sei „am kleinsten, wenn Kinder oft an digitalen Geräten lesen und gleichzeitig selten bis nie ein Buch“. Dieses Ergebnis ist nicht sonderlich überraschend: Das digitale Lesen unterstützt die Sprachentwicklung nicht.

Symbolbild

IMAGO / IlluPics

Der Wortschatz ist die Basis aller Bildung. Mehr noch: Er ist im Sinne von Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) Grundlage für das Verstehen von Welt. Denn – so Wittgenstein: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Mit anderen Worten: Wer einen geringen aktiven Wortschatz (= aktiver Sprachgebrauch) oder auch einen geringen passiven Wortschatz (= Verstehen von gehörten oder gelesenen Wörtern) hat, schneidet in allen Schulfächern schlechter ab. Selbst in der Mathematik. Denn wer einen mathematischen Sachverhalt (etwa in einer sogenannte. Textaufgabe) sprachlich nicht erfasst oder flüchtig darüber hinwegliest, wird auch in Mathematik scheitern.

Nun wissen wir längst, dass es diesbezüglich bereits bei den Grundschülern hapert. Wir haben auf TE regelmäßig darüber berichtet, zuletzt im Oktober 2022.

Unter Viertklässlern in Deutschland gibt es einer neuen Studie zufolge beim ohnehin schon allgemein reduzierten Sprachverständnis fast aller Schüler obendrein erhebliche Unterschiede im Wortschatz. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Uni Dortmund. Für den Bericht waren die Daten von 4611 Viertklässlern aus 252 Grundschulen ausgewertet worden, die im Frühjahr 2021 an der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) teilgenommen hatten.

Hier zusammengefasst ein paar Detailergebnisse aus der Studie (21 Seiten): Es gibt erhebliche Unterschiede unter Viertklässlern. Diese Unterschiede entsprechen dem Lernzuwachs von über einem Jahr. Die großen Unterschiede hängen mit dem familiären Hintergrund zusammen. Wie der Bildungsabschluss der Eltern ausfällt, ob es einen Zuwanderungshintergrund gibt und wie die familiäre Leseumgebung aussieht, spielt eine große Rolle. Der Rückstand ist besonders groß bei Kindern, die selten oder nie ein Buch lesen, die nicht in Deutschland geboren sind und deren Eltern einen eher niedrigen Bildungsabschluss haben. Die Hälfte der Kinder gab an, täglich oder fast täglich Bücher zu lesen, während 22 Prozent nach eigener Aussage nie oder maximal einmal im Monat ein Buch lesen. Schüler, die (fast) täglich Bücher lesen, zeigten im Mittel einen klaren Wortschatzvorsprung gegenüber den kaum lesenden Viertklässlern.

Dazu unsere Thesen: Die Leistungsabstürze haben vor allem zwei Ursachen. Erstens: Es wurden schulische Ansprüche heruntergefahren. Noch in den 1990er konnte man erwarten, dass ein Viertklässler einen Grundwortschatz von 1.000 Wörtern hatte. Das sind heute eher nur 700 bis 800. Wenn man denn hier noch von einem „Schatz“ sprechen will. „Vereinfacht“ und der Beliebigkeit preisgegeben wurde die Rechtschreibung – nicht nur durch die verkorkste Rechtschreibreform, sondern bis hin zur abstrusen Methode „Schreiben nach Gehör“ (phonetische Schreibweise). Das Schreiben längerer Textpassagen in Prüfungsaufgaben ist mehr und mehr aus der Mode gekommen und damit auch das reflektierende Schreiben. Es wurde teilweise ersetzt durch Multiple-Choice-Tests und das Ausfüllen von Lückentexten.

Zweitens: So manche Leistungsprobleme haben im Gesamtergebnis mit den Migrantenanteilen in den Schulen zu tun. In Berlin oder Frankfurt oder Saarbrücken oder Essen … oder … oder … sind Grundschulklassen mit 80 und mehr Prozent Kindern mit Migrationshintergrund keine Ausnahme. Bei entsprechend defizitärer Beherrschung der deutschen Sprache. Will sagen: Die Zuwanderungspolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte hat den Schulen Probleme beschert, die sie gar nicht bewältigen können.

Irrweg Digitalisierung: digitale Naivlinge statt „digital natives“

Und jetzt ein weiteres nicht sonderlich überraschendes Ergebnis der Studie: Digitales Lesen unterstützt die Sprachentwicklung nicht – im Gegenteil: Das digitale Lesen schnitt besonders schlecht ab, es trägt zum Ausbau des Wortschatzes kaum bei. Der Wortschatz sei „am kleinsten, wenn Kinder oft an digitalen Geräten lesen und gleichzeitig selten bis nie ein Buch“. Hintergrund: Ein Viertel der Schüler gab an, täglich oder fast täglich außerhalb der Schule an digitalen Geräten zu lesen. Wer digital unterwegs sei, liest häufig eher Chatnachrichten oder kurze Teaser(Anreiz)texte – aber keine längeren Textpassagen mit vielfältigem Wortschatz, mit differenzierter Grammatik und komplexer Syntax.

Auch hier hat die Schulpädagogik – beginnend bereits im Grundschulalter – ihr Sündenregister. Sie förderte damit nicht den Weg zum „digital native“, wie vollmundig angekündigt, sondern zum digitalen Naivling. Seit den 1990er Jahren ist nämlich auch in den Grundschulen ein pädagogisches Trichterstudium angesagt: das des digitalen Nürnberger Trichters. Der Hype der Digitalisierung soll also bereits in der Grundschule, wenn nicht schon in der Kita, beginnen. Jeder Bildungspolitiker und „Bildungsexperte“, der etwas auf sich hält, inszeniert sich – zur Freude von Bertelsmann Stiftung, Vodafone-Stiftung, Telekom-Stiftung, Bitkom-Stiftung, Samsung und Co. – als leidenschaftlicher Befürworter eines Lernens in Laptop- oder Smartphone-Klassen. Angesagt sind: didaktische Hyperlinks, down-load und just-in-time-knowledge, instant-learning, Lernanimation, Online-learning usw. Damit aber wird die Haltung gefördert, Verpackung und Präsentation seien wichtiger als Inhalte. An Beweisen für eine positive Wirkung digitalen Lernens fehlt es trotz intensivsten Bemühens der Digitaleuphoriker freilich bis zum heutigen Tag.

Es mehren sich indes die negativen Begleiterscheinungen: Der Twitter-Stil mit seinen gerade mal 280 Zeichen, entsprechend rund 30 bis 40 Wörtern, provoziert syntaktische, orthographische und grammatische Regelwidrigkeiten. Wenn Sprache nicht ohnehin durch Emojis ersetzt wird. Außerdem wird damit etwas gefördert, was der Philosoph Günther Anders (1902 – 1992) bereits lange vor der Digitalisierungswelle als das Dasein eines kollektiv vereinzelten Masseneremiten bezeichnet hatte. Auf das digitale Zeitalter bezogen: Die digitale Kommunikation ersetzt nämlich – siehe allein Beobachtungen auf Schulhöfen und in Schulbussen – mehr und mehr die reale, direkte zwischenmenschliche Kommunikation.

Günther Anders, der sich früh mit den Folgen des Fernsehens befasst hat, würde jetzt mit Blick auf die digitalen Medien eindringlich vor einer Ikonomanie, vor einer Bildsucht, warnen. Man schaut nur auf Bilder, und man „postet“ sich. Hunderttausende an Selfies landen täglich bei Facebook, Instagram und in WhatsApp-Bildanhängen. „Soziale“ Netzwerke nennt man sie. Was aber ist daran sozial, wenn es hier nur um Egophanie, um die Vergöttlichung des eigenen Egos, geht? Solistisch ist die Kommunikation geworden, sagt Günther Anders. Anders meinte damals das Fernsehgerät, das im Gegensatz zum Familientisch, der eine zentripetale Wirkung habe, zentrifugal wirke. Um wie viel mehr könnte Anders das für iPads und iPhones geltend machen! Falls es denn überhaupt noch ein gemeinsames Essen in einer sogenannten Familie gibt, so ist es keine Ausnahme, wenn neben Messer, Löffel und Gabel griffbereit iPhones liegen.

Will sagen: Smartphones, iPads, iPhones, Spielkonsolen, Laptops und Co haben zumal im Kindergarten- und Grundschulalter nichts zu suchen. Sie schränken die Persönlichkeits- und die Sprachentwicklung ein. Den kommerzorientierten Sirenengesängen der IT-Konzerne und ihrer Stiftungen (Vodafone, Telekom, Bitcom, Bertelsmann usw.) gilt es zu widerstehen.

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