Nein, Rishi Sunak möchte der EU nicht nach dem Vorbild der Schweiz wieder „beitreten“. Ganz so radikal ist der Wechsel von Boris Johnson, inklusive des kurzen Truss-Interregnums, also doch nicht. Johnson ebenso wie Liz Truss und Sunak sind Brexiteers der mindestens zweiten Stunde. Premierminister Sunak hat das nun deutlich gemacht, indem er sich auf der Jahreskonferenz des britischen Arbeitgeberverbandes eindeutig gegen eine Assoziierung des Vereinigten Königreichs mit der EU nach dem Muster der Schweiz aussprach: „Ich habe für den Brexit gestimmt, ich glaube an den Brexit, und ich weiß, dass der Brexit dem Land enorme Vorteile und Chancen verschaffen kann und bereits verschafft.“
Offensichtlich sei das bei der Migrationsfrage, wo die Regierung inzwischen „eine angemessene Kontrolle über unsere Grenzen“ habe und in der Lage sei im Gespräch „mit dem Land“ zu klären, welche Migration man wolle und brauche. Das ist vielleicht schon etwas anders: Johnson sah sich selbst als Repräsentanten „des Landes“, Sunak will immerhin mit ihm in den Dialog treten. Und auch das Maß an Kontrolle, das einer angemessen findet, liegt wohl im Auge des Betrachters. Die Ankunftszahlen an der Kanalküste haben dieses Jahr Höchstmarken erreicht, wobei unverfolgte Albaner mehr als ein Drittel der sicher 44.000 illegalen Ankünfte auf der Insel ausmachen. Allerdings gab es laut Frontex bis Ende Oktober schon mehr als 62.000 illegale Ausreisen aus der EU nach England.
Albanischer Botschafter: Kein Braindrain der Gebildeten im Gange
Natürlich hatte der Brexit noch einen Sinn über die Migrationsfrage hinaus. So ging es sehr grundsätzlich und auf alle Politikfelder bezogen darum, die Souveränität des britischen parlamentarischen Systems zu bewahren und sich nicht von ausländischen Gerichten in nationale Entscheidungen hineinreden zu lassen. Insofern ist auch die fortgesetzte Bindung an die Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) ein Punkt, an dem die kontinentalen Bande für manch einen noch nicht hinreichend gelöst wurden.
Im britischen Innenministerium ist man jedenfalls noch nicht zufrieden mit den Maßnahmen gegen die illegale Migration, was allerdings kein Wunder ist. Und im Innenausschuss fand eine Befragung zur anhaltenden Krise der kleinen Boote statt. Besonders interessant: Die albanischen Migranten profitieren von einem Gesetz von 2015, dem sogenannten „Modern Slavery Act“, der den Opfern von Menschenhandel helfen soll. Nun begeben sich zumal Albaner halbwegs freiwillig in Schuldknechtschaft, um die enormen Schleusungskosten zu bezahlen. Laut Balkan Insight werden diese Schulden direkt bei kriminellen Banden aufgenommen.
Centre for Policy Studies: Kein Asyl für Antragsteller aus sicheren Ländern
Doch die Krise der Überfahrten bleibt eine britische, und die britische Regierung ist weiterhin in Verantwortung (und sieht sich darin), etwas gegen die „kleinen Boote“ zu unternehmen. Die illegale Migration kostet das Königreich derzeit 2,1 Milliarden Pfund im Jahr. Das wäre genug, um 62.000 Krankenschwestern zu bezahlen, wie in einem neuen Bericht des Londoner Centre for Policy Studies festgestellt wird.
Die einst von Margaret Thatcher mitbegründete Denkfabrik mit wirtschaftsliberalen und pro-nationalstaatlichen Positionen hat unter dem Titel „Stopping the Crossings“ einen zumindest groben Fahrplan zur Eindämmung der Kanalkrise vorgelegt, der von Innenministerin Suella Braverman ausdrücklich begrüßt wird, auch wenn sie sich noch nicht jeden einzelnen der Vorschläge zu eigen macht. Was das Programm vorschlägt, ist aus Sicht der regierenden Konservativen erwartbar, die Vorschläge sind aber immerhin konkret:
- Illegal eingereiste Migranten sollen demnach für unbegrenzte Zeit in Gewahrsam genommen und so schnell wie möglich nach Ruanda gebracht werden.
- Wenn nötig, soll dafür auch die Menschenrechtsgesetzgebung geändert werden – bis hin zu einem Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Das zu ändernde Gesetz wäre in jedem Fall der Human Rights Act, der die Anwendung von auf der EMRK beruhenden Urteilen im Königreich regelt. Die Urteile stammen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, aus dem London ebenfalls noch nicht ausgetreten ist.
- Weitere Länderabkommen sollen das Ruanda-Abkommen ergänzen.
- Einmal illegal eingereisten Migranten soll die Ansiedlung auf den britischen Inseln lebenslang verboten sein.
- Der Modern Slavery Act soll ergänzt werden, um seinen Missbrauch – wie durch die unechten albanischen „Opfer“ des Menschenhandels – zu verhindern.
Noch wichtiger und sehr grundlegend scheint aber ein weiterer Vorschlag: Ein neues Gesetz soll es unmöglich machen, in Großbritannien um Asyl nachzufragen, wenn der Antragsteller aus einem sicheren Land eingereist ist. Die Regelung wäre praktisch für London, denn auch Großbritannien ist wie Deutschland von sicheren Staaten umgeben. Aus dieser Regelung folgt zudem ein weiterer Punkt des Papiers, wonach Asyl künftig nur noch im Zuge von Wiederansiedlungs-Vereinbarungen („resettlement routes“) erteilt werden soll. Das betreffende Kontingent soll auf 20.000 Personen pro Jahr beschränkt werden. Natürlich ist das eine Kann-Regelung, kein Soll, das jedes Jahr zu erfüllen wäre – was man in Friedrich Eberts Schoß, der uns hierzulande regiert, manchmal vergisst.
Braverman: Werden Probleme um Ruanda-Plan lösen
Es sind wohlgemerkt nicht die Pläne von Innenministerin Suella Braverman, auch wenn sie dem nahekommen. Die Ministerin steuerte ein Vorwort zu dem Fahrplan der Denkfabrik bei. Darin schreibt Braverman: „Die britische Öffentlichkeit ist gerechtigkeitsliebend, tolerant und großzügig im Geiste. Aber wir haben es satt, dass unsere Gesetze und Einwanderungsbestimmungen beständig missachtet werden, um unser Asylsystem auszutricksen. Und wir haben genug vom ständigen Missbrauch der Menschenrechtsgesetze, um die Abschiebung von Menschen zu vereiteln, die kein Recht haben, sich im Vereinigten Königreich aufzuhalten. Das muss ein Ende haben. Dies zu sagen ist nicht fremden- oder einwanderungsfeindlich.“
Braverman hebt hervor, dass eine erfolgreiche Kontrolle der illegalen Migration von vielen Faktoren („politischen Herausforderungen“) abhänge und also ein komplexes Problem sei: „Menschenrechtsgesetze, internationale Konventionen, diplomatische Beziehungen zu Drittländern, operative Effizienz und die verschiedenen Push- und Pull-Faktoren, die Menschen dazu bringen, hierher kommen zu wollen, um hier zu leben“. All das will betrachtet sein, nur in Deutschland scheinen derlei zweckmäßige Überlegungen tabu.
Was auch Braverman nicht kommentierte, das ist die vorgeschlagene Abschaffung des „Asyls à la carte“, wie es der österreichische Bundeskanzler Nehammer sagte, und man fragt sich, warum sie nicht diesen einfachsten aller Punkte anspricht und angeht. Vermutlich würde das in Paris „unkollegial“ aufgenommen. Aber genau das ist die Frage: Will London versuchen, durch Liebedienerei an Frankreich zum Erfolg zu kommen oder geht man wirklich eigene Wege?
Umfrage: Zuwanderung hat negative Folgen für Wohnen, Schule, Arbeit, Kriminalität
Interessant sind auch die Umfragedaten, die die Autoren mitteilen. So sind 59 Prozent der befragten Briten noch immer der Meinung, dass die Zuwanderung der letzten zehn Jahre zu zahlenstark gewesen sei. Ein gutes Viertel (27 Prozent) sieht die Zuwanderung als eines der wichtigsten Themen an. Das scheint wenig. Unter den konservativen Wählern von 2019, die der Partei seither wieder den Rücken gekehrt haben – vermutlich Brexit-Unterstützer und wohl deshalb von Labour zu den Tories geschwenkt –, ist fast die Hälfte (48 Prozent) der Ansicht, dass Migration zu den zentralen Themen gehört. Drei Viertel der Briten glauben, dass die Kanalkrise von der Regierung schlecht gehandhabt wird. Die Kritik „von links“ ist dabei eher selten: 68 Prozent wünschen sich an dieser Stelle eine restriktivere Politik.
55 Prozent der Befragten – und da ist sie wieder, die Souveränitätsfrage – sind dafür, dass das britische Parlament das letzte Wort in diesen Gesetzesfragen haben soll. Nur 27 Prozent wollen dieses Recht dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg übergeben. Auch das bislang gescheiterte Ruanda-Abkommen hat eine Mehrheit zumindest bei konservativen Wählern von 2019 (56 Prozent) und Brexit-Befürwortern (60 Prozent). Insgesamt ergibt sich eine starke Unterstützung für die konservative Programmatik, die leider in der Vergangenheit von NGOs und Gerichten verunmöglicht wurde. Kann man davon ausgehen, dass der Common Sense der britischen Bürger auch in Deutschland eine Entsprechung fände?
Der Co-Autor des Programms Nick Timothy, ein mitfühlender, also an mehr als die Londoner Blase denkender Konservativer und Brexit-Anhänger, dessen politische Karriere über seine Assoziation mit Theresa May zu Ende ging, meint, dass „weder die Zahl der Menschen, die den Ärmelkanal überqueren, um illegal hierher zu kommen, noch das Niveau der legalen Einwanderung insgesamt“ nachhaltig sind. Dass die Lage komplex ist, gesteht auch er zu. Doch gerade deshalb fordert er ein unmittelbares und mutiges Vorgehen, um den gordischen Knoten zu zerschlagen, sozusagen eine 180-Grad-Wende, die auch vor der großzügigen, im Übermaß toleranten und gerechtigkeitsliebenden Menschenrechtsgesetzgebung des Vereinigten Königreichs nicht Halt macht.