1979 sind wir nach Humes gezogen. Da war ich noch keine fünf Jahre alt. Als ich nach 15 Jahren weggezogen bin, wurde ich immer noch gefragt: „Gell, dau bischt net von hier?“ Eigentlich ist die Frage angesichts der Umstände ein Witz: 15 Jahre. Mein Stiefvater ist im Nachbarort Hierscheid geboren, ich in Illingen und die ersten fünf Jahre gelebt habe ich in Merchweiler. Zehn Kilometer lang ist die Straße von Hierscheid, über Humes, Uchtelfangen und Illingen nach Merchweiler. Aber nein. Ich bin nicht von hier. Ich habe eine Geschichte. Ich bin eine Geschichte.
Am häufigsten habe ich die Frage gehört, als ich 16 und 17 Jahre alt war. Damals bin ich viel getrampt. Und es ist gut, eine Geschichte zu haben, wenn du trampst. In der Zeit habe ich gelernt, Small Talk zu führen. Ob ein Autofahrer dich mag, kann einen Riesen-Unterschied ausmachen; entscheidet darüber, ob er dich nach fünf Kilometern an seinem Zielort absetzt oder einen Umweg von zehn Kilometern macht, um dich heimzufahren. Weil er dich mag. Weil er erzählen will – oder deine Geschichte zu Ende hören.
Wer in ein fremdes Auto einsteigt, hat erstmal wenige Informationen über seine Mitfahrgelegenheit. Und ja: Wer lange genug trampt, trifft unweigerlich auf Freaks. Es ist die Ausnahme, aber eine Sache der Wahrscheinlichkeitsrechnung, bis man auf sie trifft. Aber für sie wie für die Mehrzahl der normalen Fahrer gilt: Eigentlich gibt es nur zwei Fragen, um das Eis zu tauen – Was machst Du oder woher kommst Du? Die allermeisten Gesprächseinstiege variieren nur diese beiden Fragen. Ich habe nie erlebt, dass jemand ob dieser Fragen brüskiert war. Es gab die, die erzählen wollten, und die, die zuhören wollten. Das hast du als Tramper recht schnell erkannt und bedient – du wolltest die Extra-Kilometer mitnehmen.
Humes und Hierscheid sind Zwillingsdörfer. Beide liegen in der gleichen Bergsenke. Die eigentliche Landstraße führt um sie herum. Die Abgrenzung war früher recht strikt. Das galt gegenüber dem jeweils anderen Ort noch viel stärker als zu den anderen Orten der Nachbarschaft. Meine 14 Mitschüler in der Humeser Grundschule kannte ich fast alle aus dem örtlichen Kindergarten. Ich war kein Außenseiter, der sich öfter prügeln musste oder gar Prügel einstecken musste. Aber trotzdem war ich ein Fremdkörper in der Klasse.
Das hatte individuelle Gründe. Im Sport der Grundschule waren Sprint und Turnen gefragt, meine Stärken sind Ausdauer und Kampfkraft. Sodass ich da nicht punkten konnte. Vor allem sind wir aber jeden Nachmittag zu meiner Großmutter nach Merchweiler gefahren. So war ich in den Humeser Spielzirkeln nie drin. Das schneidet dich auf dem Schulhof von gewissen Themen ab, das lässt dich manche Insider nicht kennen.
Es hatte aber auch gesellschaftliche Gründe. Da war der Punkt, erst zugezogen zu sein. „Woher bischt dau?“ Aber wichtiger waren die Verwandtschaften. Eine der örtlichen Parteien brachte mal ein Humeser Telefonbuch raus. Das war peinlich: Ein Drittel der Haushalte verteilte sich auf einen Nachnamen, ein anderes Drittel auf den zweiten Namen und weniger als ein Drittel blieb für die restlichen Namen. Und dann war Humes erzkatholisch. Obwohl nur etwas mehr als 2.000 Einwohner hatte der Ort seinen eigenen Pfarrer. 13 von 15 Kindern gingen regelmäßig in den Gottesdienst. Nur zwei nicht. Die andere war evangelisch und ging dann irgendwann trotzdem in den katholischen Gottesdienst. Aus der Gemeinde habe ich mich ganz bewusst ausgeschlossen. Aber das bekommst du dann halt auch zu spüren.
Heute würde man einen Film draus machen: zwei Millionen Euro Filmförderung, zwei Zuschauer und eine zweistündige Diskussion nach der Premiere, warum der Staat Leuten wie mir helfen müsste. Ich lese von solchen Filmen. Ansehen würde ich mir so was nie freiwillig. Geprägt hat mich die Philosophie von Filmen mit John Wayne: Du bist Sheriff und der mächtige Viehbaron will seinen Sohn aus dem Gefängnis freipressen? Jammer nicht. Schließ dich mit einem Säufer, einem Grünschnabel und einem senilen Alten im Gefängnis ein und wenn die Mörder kommen, dann schieß sie über den Haufen. Das mag weniger anspruchsvoll sein als eine dreistündige Identitätssuche – aber zielführender.
Ich für meinen Teil wurde Mitglied im Ringerverein. Wenn ich in Schlägereien kam, hatte ich ganz gute Chancen, die zu gewinnen. Das hilft auf dem Dorf. Vor allem aber hatte ich durch den Verein einen stabilen Freundeskreis. Die ersten zehn Jahre in Humes waren nicht wirklich schön. Sicherlich nicht die, die ich mir aussuchen würde, um sie nochmal durchleben zu können. Aber sie haben mir eine solide Grundausbildung in Schule und Sozialem ermöglicht. Und ich habe sie nicht als so bedrückend empfunden, wie sie eigentlich waren.
Erst mit zehn Jahren begann mein Leben sich zu erweitern. Fortan habe ich jede Erweiterung als Gewinn gefeiert. Nie vergessen werde ich den ersten Abend, jenen fiebrigen Moment, in dem ich meine erste eigene Monatskarte nach Lebach hatte. Die Idee, den Ort jetzt jeden Tag verlassen zu können – auch außerhalb der Schulzeit –, hatte etwas Bezauberndes. Ich habe sie reichlich genutzt. Als ich später zum ersten Mal Hermann Hesses „Stufen“ las, musste ich mich daran erinnern. Von da an habe ich nach Möglichkeiten gesucht, den Radius zu erweitern. Die Frage „Woher bischt dau?“ war dabei ein Zeichen des Erfolgs. Je öfter ich diese Frage hörte, desto besser gelang es mir, meine noch kleinen Grenzen zu erweitern.
Noch während der Schulzeit bin ich weggezogen, habe meinen Wehrdienst geleistet und bin dann schließlich lange in Mainz hängengeblieben. Die Frage kam jetzt auf Hochdeutsch, Rheinhessisch, Pfälzisch oder oft auch Bairisch. Ich habe sie nie als Affront aufgefasst – sondern als wohlvertrauten Gesprächseinstieg. Ich mag meine Geschichte. Ich pflege sie. Freue mich, Details einzupflegen, die ich bisher vernachlässigt habe, aber hübsch sind: etwa dass meine Wiege in Merchweiler über einer Kneipe stand und ich noch heute gerne in Eckkneipen verkehre.
Identitätspolitiker wollen aus der Frage nach der Herkunft eine rassistische Beleidigung machen. Spannenderweise fordern fast genau die gleichen, dass man selbst von Fremden deren Pronomen kennt und nutzt – zum Kennenlernen also quasi erst mal die sexuelle Identität austauscht. Wie soll ich mir das in der Praxis vorstellen? „Hallo, ich bin Mario. Meine Pronomen sind er und ihm. Zu 90 Prozent bin ich ein Mann, der es mag beim Vernaschen einer sauren Gurke durch ein Schlüsselloch beobachtet zu werden. In Vollmondnächten stelle ich mir vor, eine Frau zu sein, die von einem Piraten als Sklavin gehalten wird. Aber frag mich nicht, wo ich herkomme! Das wäre mir zu intim und würde mich an unverarbeitete Stellen meiner Biografie erinnern.“ Wäre beim Trampen einen Versuch wert gewesen.
Die Pogues singen in „Thousands are sailing“ über irische Immigranten auf ihrem Weg nach New York. Im Refrain heißt es übersetzt: „Wo immer wir hingehen, feiern wir das Land, das uns zu Flüchtlingen macht.“ Deine Geschichte nimmst du mit. Zur Not über Ozeane. Sie ist in dir, deine Geschichte ist du. Ich werde immer Saarländer sein. Aktiv: Wer es hören will, bekommt es erzählt. Manchmal auch, wer es nicht hören will. Auf Extra-Kilometer bin ich nicht mehr angewiesen. Aber auch passiv bin ich überall Saarländer: Wenn mir jemand in Berlin an einem einschlägig bekannten U-Bahnhof erzählt, was er jetzt mit seinen Exkrementen machen will – ja, sowas passiert hier –, beschützt mich der Saarländer in mir und denkt sich: „Is moh was anneres.“ Und geht weiter.
Deine Geschichte bist du. Und wer dich kennenlernen will, fragt dich nach deiner Geschichte. Es mag Menschen geben, die das nicht erzählen wollen. Das ist okay. Die Sprache schenkt einem tausend Möglichkeiten, das auszudrücken. Schon bevor man auch nur ein Wort bemüht hat. Selbstverständlich ist das zu akzeptieren. Beim Trampen gab es auch die, die gemeinsam schweigen wollten. Ist egal, du nimmst die Fahrer, wie sie sind – was zählt, sind die Extra-Kilometer.
Doch die Frage nach der Geschichte tabuisieren zu wollen. Die Frage nach dem anderen zu einem rassistischen Hass-Verbrechen zu machen, das gleich maximal bestraft wird – nämlich durch die Vernichtung der bürgerlichen Existenz. Das ist ein Verbrechen. Ein Verbrechen am Zusammenleben. Es tötet jedes Zusammenleben. Es tötet die Chance, den Fremden kennenzulernen, einen Freund aus ihm zu machen. Die Chance beginnt nicht bei dem Austausch über Körperöffnungen, in denen man Penetration mag – sondern mit den beiden Fragen: „Was machst Du?“ und „Wo kommst Du her?“