Die Titel künftiger Geschichtsbücher über die gegenwärtige Epoche lassen sich bereits heute formulieren: „Krise, Krise, Krise“ oder „Drama, Drama, Drama“, vielleicht sogar „Tragödie, Tragödie, Tragödie“. Die Probleme jagen sich: Krieg, Pandemien, Flüchtlingsströme, Inflation, Sabotageakte, Handelsstörungen, Engpässe bei Gas, Öl, Atomenergie. Und auf alles das weiß die Politik als Antwort nur ein situatives Krisenmanagement. Fehlanzeige herrscht bei jenem Ansatz, der eigentlich unverzichtbar ist: die strategische Lösungsperspektive.
Es ist ein merkwürdiges Phänomen der Verweigerung des Dazulernens. Allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten erlebte Deutschland etliche große Krisen: Finanzkrise, Eurokrise, Klimakrise, Flüchtlingskrise, Corona-Krise, Russland-Ukraine-Krieg. Und jede neue Krise zog alle Aufmerksamkeit auf sich – und man blickte unvorbereitet auf die neue Krise. Dabei hatte es nie an Warnungen gefehlt, doch die Politik blieb jeweils weitgehend sprachlos.
Dies wird in der Gesellschaft natürlich schmerzhaft festgestellt. Die aktuellen Umfrageergebnisse sind deshalb keine Überraschung: 68 Prozent können weder bei Scholz noch bei Habeck oder Lindner eine Strategie erkennen. Es gibt keine Orientierung, wohin es denn nach dem Ausruf der Zeitenwende gehen soll.
Bestimmte Begriffe haben in diesem situativen Krisenmanagement entsprechende Konjunktur: Gießkanne, Füllhorn, Abschlagszahlung, Preisdeckel et cetera – man fühlt, was es bedeutet, in der „Gerechtigkeitsfalle“ zu sitzen.
Auf der Angstskala wechseln einzelne Einstellungen die Plätze. Mal steht die Kriegsangst ganz oben, dann ist es wieder die Gesundheitsangst. Abgelöst werden die beiden zwischendurch von der Angst um wachsende Lebenshaltungskosten und unbezahlbaren Wohnraum.
Aber dann kommt es – von vielen zunächst fast unbemerkt – zur eigentlichen Öffnung der Tür zum gesellschaftlichen Niedergang: Die Politik streicht die Wege in die eigene Zukunft. Sie streicht die Budgets der Talentförderung. Bildung wird plötzlich klein geschrieben. Die wichtigen Bildungseinrichtungen schreiben Alarmbriefe. Die Alexander-von-Humboldt-Stiftung tut dies ebenso wie der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die Gesellschaft für Osteuropakunde und das Goethe-Institut, also jene Institutionen, die die Nachwuchsförderung und den damit verbundenen internationalen Austausch als ihre besonders bedeutsame Aufgabe ansehen.
Tausende Wissenschaftler haben in einem offenen Brief an das Auswärtige Amt gegen die geplanten Kürzungen der Kulturmittel protestiert. So würden der Standort Deutschland und seine Reputation nachhaltig beschädigt. Die drohende Talentlücke, man könnte auch sagen Bildungslücke, reduziert morgen und übermorgen tiefgreifend die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft. Das Leistungspotenzial der Gesellschaft hängt ja nicht nur von Bodenschätzen und unternehmerischen Einsatzgrößen ab – primär sind es die geistigen, sozialen, kulturellen Talente, die eingebracht werden. Und ausgerechnet diese Talente sollen nun beschnitten werden.
So wird eben die Tür zur Zukunft zugeschlagen. Wenn in den Protestbriefen etablierter Wissenschaftler von einem „fatalen Zeichen“ die Rede ist, dann ist dies zu harmlos formuliert. Es handelt sich mittelfristig um eine schwere gesellschaftliche, kulturelle Selbstbeschädigung, die nur noch existenzielle Fragezeichen aufruft.
Verheerendes Sparen an der Bildung
Es beginnt im Detail mit sinkender wissenschaftlicher Relevanz, mit nachlassender Attraktivität für Spitzenforscher, die dann nach Asien oder in die USA ziehen. Auswärtige Kulturpolitik wird auf das Terrain der Irrelevanz und der Erfolglosigkeit abgeschoben. Aber kulturelle, technologische, wirtschaftliche Innovationen entstehen nicht von selbst. Hunderte Milliarden Euro werden zu Themen wie Sicherheit, Inflation oder Energie als Sonderetats mobilisiert – aber nicht für den notwendigen kulturellen Aufbruch, für die Talente, die uns morgen retten sollen, jenen Nachwuchs, der unser Zukunftspotenzial ist. Dies alles sind Beweise tiefer Unkenntnis über die gesellschaftlichen Zukunftswege.
Der Kampf um die jungen Köpfe ist verloren, wenn die Wissenschaft und dort insbesondere die Talentförderung zum Krisenverlierer degradiert werden. Der Politik ist anzuraten, den Sinn für Prioritäten sensibel zu korrigieren und fortzuentwickeln. Die Politik muss doch lernfähig sein, wenn sie in der seriösen Tagespresse täglich Schlagzeilen konsumieren muss wie „Ein Bild des Jammers“.
Eine Horizonterweiterung braucht jeder Mensch. Und die gibt es meist nicht zum Nulltarif. Nur durch ein besonders gezieltes Engagement werden Deutschland und Europa „Fit for Future“. Offenbar aber erfordert dies ein Umdenken der politischen Führung: Kreativität, Neugier, Offenheit und strategische Klugheit müssen dominant sein. Nur so lassen sich die Barrieren in den Köpfen überwinden. Wer nun dieser krisengeschüttelten Gesellschaft eine Zukunftsdynamik verleihen will, der muss die Talente zur Entfaltung bringen, die in dieser Gesellschaft schlummern. Dies gelingt in drei Schritten. Erstens: Talente ausfindig machen. Zweitens: Talente strategisch fördern. Drittens: Talente dann weiter fördern. So kann man der Zukunft ein Zuhause geben.
Dass uns dies vor Jahren durchaus gelang, lässt sich an einem Beispiel anschaulich belegen: Es galt damals, Spitzentalente Amerikas für die Kooperation mit Deutschland zu gewinnen. Dazu mussten finanzielle Spitzensätze für die Stipendien mobilisiert, eine optimale Betreuung gewährleistet und hohes Prestige garantiert werden – vergleichbar den Rhodes Scholarships der Universität Oxford. Das bis heute sehr erfolgreiche Stipendium wurde „Bundeskanzler-Stipendium“ genannt. Das Stipendium bewährte sich sehr nachdrücklich, sodass später auch andere Länder – neben den USA – einbezogen wurden. Es gilt heute für Kandidaten unter anderem aus China, Indien, Brasilien und Südafrika.
Drift in die Misstrauensgesellschaft
Wie dringlich es ist, höchst anspruchsvolle Initiativen zu ergreifen, sehen wir, wenn wir in dieser Zeit der strategischen Sprachlosigkeit das geistige Vertrocknen und die politische Auszehrung erfassen. Die Erosion der politischen Inspiration schmerzt.
Erst die Talente der nächsten Generation werden zu neuen Aggregatzuständen des Politischen führen – wenn man diese Talente zur Entfaltung bringt, sie also kraftvoll fördert.
Die tiefgreifende demografische Veränderung bedeutet mehr, als nur immer wieder „Rente!“ zu rufen. Die soziale Komposition der Gesellschaft verändert sich tiefgreifend. Wer dies ausblendet, lässt die politische Landschaft mehr und mehr in die Misstrauensgesellschaft abdriften. Man kann diesen Vorgang resignierend als Dahinwelken der Demokratie bedauern – oder aber zu einem neuen intellektuellen Aufbruch drängen: durch gezielte, umfangreiche, kraftvolle Talentförderung.
Für jede strategische Perspektive bedarf es beweglicher, aufgeweckter Köpfe. Sie verträgt nicht die herkömmliche Denkfaulheit. Nur mit den neuen Talenten kann auf neuem Weg eine strategische Vertrauenselite aufgebaut werden. Die braucht man, wenn man die Zukunft als Lerngemeinschaft konzipieren will. Deshalb dürfen wir das Sparen an der Bildung nicht zulassen.