Seit dem 26. Februar des Jahres 2014 organisiert die russische Führung eine gewaltsame Landnahme zulasten eines benachbarten, souveränen Staates. Damals besetzten russische Spezialkräfte ohne Hoheitszeichen Parlament und Regierungsgebäude der ukrainischen Krim. Bereits am 16. März 2014 wurde ein Scheinreferendum durchgeführt, bei dem vorgeblich 96,77 Prozent der Bürger der Krim für die „Wiedervereinigung“ mit der Russischen Föderation stimmten.
Schon am 18. März war die völkerrechtswidrige Annexion vollzogen. Parallel dazu schufen sogenannte Separatisten in den ostukrainischen Provinzen Donezk und Luhansk mit Rückendeckung durch Moskau Volksrepubliken, aus denen Wladimir Putin, wie zuvor bereits in Moldawien und Georgien, „frozen conflicts“ organisierte, mit denen Russland jederzeit einen Anlass zum unmittelbaren militärischen Eingreifen schaffen konnte.
Am 24. Februar 2022 nutzte Putin einen dieser „conflicts“ zur Invasion in die Ukraine. Anders noch als 2014, als die Begründung zur Annexion der Krim lautete, sie sei seinerzeit von Chruschtschow widerrechtlich an die Ukrainische SSR übergeben worden, und mit Blick auf den Donbas auf eine angeblich russische Bevölkerung verwies, konstruierte Putin bereits vor dem Überfall jene Legende von einem ukrainischen Nationalismus, der in den Territorien eines illegitimen ukrainischen Staates die russische Bevölkerung brutal unterdrücke.
Putins Weltbild
Putins Legende basiert auf dem, was heute gern „völkisch“ genannt wird und damit die Denkwelt der nationalen Sozialisten beschreiben soll, die 1933 im Deutschen Reich die Macht an sich brachten. Diese Denkwelt definiert sich über eine verworrene Vorstellung aus sozial-kollektivistischer Blut- und Boden-Ideologie bei nationalstaatlichem Anspruch und gleichzeitig angestrebter Universalität.
Putins Weltbild geht von einem russischen Volk blutsverwandter Individuen aus, welche als Großrussen im Kernbereich und Kleinrussen in der westlichen Nachbarschaft in einem geschlossenen Siedlungsgebiet unter einer gemeinsamen Herrschaft ihren Weg durch die Geschichte gegangen sind und weiter gehen müssen. Es knüpft damit an die universal-kollektivistische Ideologie des Panslawismus an, welcher bereits unter den Zaren einen russischen Führungs- und Vertretungsanspruch für alle Nationen behauptete, die der slawischen Sprachfamilie angehörten.
1914 war dieser panslawistische Anspruch der entscheidende Auslöser des Ersten Weltkriegs. Die Telegramme zwischen dem Deutschen Kaiser und Zar Nikolaus II, Kaiser und Selbstherrscher von ganz Russland, sind überaus aufschlussreich hinsichtlich der Frage, wo eine wesentliche Verantwortung für das vierjährige Gemetzel zu suchen ist.
Nationale Identität ist kein Rassismus
In Putins Weltbild sind die Bewohner der Ukraine Russen. Das, was Putin als „Russen“ definiert, ist aber, anders als in seiner Vorstellung, kein „Volk“ als russische „Rasse“, sondern ein Volk als Nation mit russischer Identität. Neben dieser nationalrussischen Identität gibt es – mit Blick auf den aktuellen Konflikt – eben auch eine ukrainische und – das nur nebenbei – auch eine weißrussische. Von den anderen und den kleineren, wie den Krimtataren, ganz zu schweigen. Putin aber unterstellt eine russische „Rasse“, weist gleichzeitig jedoch von sich, rassistischer Nationalist zu sein.
Putin vermengt diese Vorstellung mit dem imperialen Anspruch auf ein Siedlungsgebiet, in dem die Russen dominieren und deshalb einheitlich zu führen sind. Andere werden nur toleriert und dürfen im russischen Staat mitwirken, solange sie den russischen Führungsanspruch akzeptieren. Das wiederum darf getrost als römisch-byzantinisches Erbe betrachtet werden. Auch in diesen Imperien der Antike und des Mittelalters hatten Menschen unterschiedlichster Identität das Recht, als Bürger unter der jeweils römisch-griechisch geprägten Führung mitzuwirken.
Der großrussische Sonderweg der Delegitimation der Ukraine
Toleriert Putin nun beispielsweise sibirische Mongolen als einen Bestandteil der Russischen Föderation, so ist er nicht bereit, Menschen mit slawisch-europäischen Wurzeln denselben Status einzuräumen. Das ist zuvörderst per se zutiefst rassistisch, denn es differenziert die Bürger der Russischen Föderation in Mitglieder mit Führungsanspruch und solchen, die diesen Anspruch zu akzeptieren haben. Es ist zudem aber auch national-imperialistisch, weil es Menschen, die in Putins Weltbild Russen sind, das Recht verweigert, eine nicht-russische Nationalidentität und eine darauf aufbauende Nationalstaatlichkeit zu entwickeln. So anerkennt Putin weder eine weißrussische noch ein ukrainische Nationalidentität, sondern brandmarkt diese Identitäten in seinem eigenen, nationalrussisch-imperialen Internationalismus als „Nationalisten“, die als Kleinrussen dem russischen Volk abtrünnig werden und damit ihre Herkunft verraten.
Diese tatsächlich verworrene und in sich wenig schlüssige Gemengelage aus imperialer Großstaatssucht und rassistischer Volksidee führte zu jener Begründung, mit der Putin Anfang 2022 seinen Überfall auf das Nachbarland zu legitimieren suchte. Faktisch gebe es überhaupt keine Ukrainer, weil auf dem ukrainischen Staatsgebiet nur Russen und Kleinrussen lebten. Diese würden lediglich von einer nationalistischen – mithin nach internationalistischer Definition faschistischen – Clique beherrscht, welche eben deshalb einen faschistischen Nationalismus repräsentiere. Die demokratisch gewählte Regierung der Ukraine wurde so gezielt in die Ahnenreihe der nationalen Sozialisten Deutschlands und der von diesen instrumentalisierten ukrainischen Nationalisten gestellt.
Damit legitimiert Putin sich selbst gegenüber nicht nur das vermeintliche Recht, die „Nationalfaschisten“ als Unterdrücker einer russischen Bevölkerung zu vernichten, sondern nun auch den Terrorkrieg, den er gegen die ukrainische Zivilbevölkerung führt: Da offensichtlich faschistische Nationalisten nicht nur in den Regierungspalästen in Kiew sitzen, sondern auch in den Städten und Dörfern die Russen verdrängt haben, ist deren Ausmerzung lediglich ein antifaschistischer Reinigungsakt. So wird aus dem gescheiterten Annexionsversuch im Handstreich, der in seiner Zielsetzung der Re-Russifizierung der ukrainischen Nation bereits die bei der UN definierten Voraussetzungen eines vorsätzlichen Völkermordes trug, nun tatsächlich ein solcher, indem die Ukrainer als faschistische Nationalisten durch Kälte ausgemerzt werden sollen. Wer will und kann, der mag die Flucht gen Westen ergreifen – wer nicht will oder nicht kann, hat sich die Folgen selbst zuzuschreiben.
Aus dem als „militärische Spezialoperation“ geframten Terrorüberfall wird somit ein vollendetes Kriegsverbrechen, unter welchem sich die zahllosen „kleinen“ Kriegsverbrechen der Folter, Vergewaltigung und des willkürlichen Mordes zu verstecken suchen.
Der Universalstaat als Geburtshelfer der Nationen
Dieses von der russischen Führung initiierte und befohlene Vorgehen stellt sich in eine historische Reihe, die ihren eigentlichen Ursprung im zaristisch-russischen Zarismus hat.
Das russische Zarenreich war zu keinem Zeitpunkt eines, das vom absoluten Herrschaftsanspruch der zentralen Administration auch nur ein Jota abgelassen hätte. Zwar gilt in gewisser Weise noch heute der Spruch „Russland ist groß und der Zar ist weit“, doch waren Vorstellungen regionaler Autonomie und Selbstverwaltung zu keinem Zeitpunkt Teil russischer Herrschaftsumsetzung. Daran hat sich auch unter der kommunistischen Zentralregierung und bis heute nichts geändert: Die Befehlskette ist streng hierarchisch aufgebaut, und sollte es unter den Gouverneuren der Provinzen zu wie auch immer gearteten Absetzbewegungen kommen, werden diese strikt unterbunden bis hin zur Inhaftnahme des Betroffenen.
Derartige, streng zentralistisch aufgebaute Befehlsketten behindern nicht nur jede Weiterentwicklung außerhalb der zentralen Metropole – sie organisieren auch den Widerspruch sowohl in politischer wie in nationaler Hinsicht. Das Phänomen Lenin-Stalin beruht auf denselben Mechanismen wie die nationalen Bestrebungen in Belarus und der Ukraine ebenso wie im Kaukasus. Ein System, das Sozialrevolutionäre schafft, weil es die Übernahme der Ideen der westeuropäischen Aufklärung bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts strikt verweigert und auch darüber hinaus stattdessen an tradierten Modellen des Großgrundbesitzertums und der uneingeschränkten Abhängigkeit der ehemaligen Leibeigenen von ihren Herrn festhält; das zudem ein sich aus diesen niederen Kreisen rekrutierendes Industrieproletariat ebenso in politischer Unterdrückung hält, wie es sein Bürgertum von der politischen Partizipation ausschließt, ist über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt. Gleichzeitig zerstört es kollektive Universalidentitäten: So, wie die rechtliche Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung der westlichen Rus durch Polen im 15. und 16. Jahrhundert auf dem Gebiet der heutigen Ukraine dazu führte, mit der Hinwendung zum Moskowiter Zarenhof eine russische Nationalidentität zu entwickeln, sorgte der zaristisch-totalitäre Zentralstaat im 19. Jahrhundert dafür, dass die dortige Bevölkerung eine ukrainische und somit eine weder russische noch polnische Identität entwickelte.
Nationale Identitäten beenden die Universalstaatsidee
Ohne Zweifel trugen zu dieser Entwicklung Impulse aus Westeuropa bei, wo spätestens seit der Französischen Revolution und der Befreiung der französisch besetzten und annektierten Gebiete vor allem der Deutschen und der Italiener die Vorstellung einer nationalen Identität, die für sich Souveränität und Unabhängigkeit beanspruchen kann, ihren Siegeszug antrat.
Russland hing hingegen ebenso wie das Reich der Habsburger und das islamische Kalifat des Osmanischen Reichs einer imperialen Universalstaatsidee an: der Zusammenschluss zahlreicher Ethnien, die als Völker bezeichnet werden, unter einer Zentralregierung, die quasi von Gottes Gnaden eingesetzt ist, um das Geschick ihrer Untertanen bis hinein in den privaten Bereich zu regeln.
Beim Habsburger Reich der Kaiserlich-Königlichen Doppelmonarchie führten die auf Grundlage nationaler Identität – heute: „nationalistisch“ – begründeten Selbstbestimmungsansprüche seiner Menschen ohne deutsche Nationalidentität unter der vor allem von den USA getragenen Vorstellung des Selbstbestimmungsrechts der Völker als Primat einer von Unterdrückung und Fremdherrschaft befreiten Welt infolge des militärischen Zusammenbruchs der Habsburger nach 1918 zur faktischen Auflösung des österreichischen Universalstaats und zur Neugründung zahlreicher kleiner Nationalstaaten, in welchen sich dieser Prozess teilweise bis heute fortsetzt, wie nicht nur der fortgesetzte Zerfall des post-habsburgischen Großserbiens aka Jugoslawien (Süd-Slawien) zeigt.
Das Osmanische Reich wiederum wurde maßgeblich von den beiden westeuropäischen Siegermächten nationalisiert, wobei entsprechende Identitäten wie die der Araber, Griechen, Armenier und Kurden eine entscheidende Rolle spielen sollten. Mustafa Kemal Atatürk reanimierte die Universalstaatsidee als Nationalstaat der Türken mit ähnlichen Unterdrückungsmechanismen gegen Bewohner, die nicht bereit waren, sich der türkischen Nationalidentität zu unterwerfen. Die entsprechend nationalistischen Ansprüche wirken bis heute nicht nur in der kemalistischen CHP, sondern auch in der nationalislamischen AKP, die neben dem kemalistischen Türkeimodell über die Einbindung der politischen Vorstellungen der Muslimbruderschaft einen neo-osmanischen Universalstaat beansprucht.
Der zaristische wie auch der postzaristische Universalstaat Russlands führte mit dem Zusammenbruch des Zarenreichs und der Machtusurpation durch die bolschewistischen Kommunisten in einem ersten Schritt zur Loslösung vor allem der nach Westen gelagerten Peripherie. Finnland, die drei baltischen Republiken sowie Polen lösten sich nach 1917 erfolgreich von Russland.
Die Ukraine wurde im Krieg von 1914 zu einem der wesentlichen Schlachtfelder, auf dem sich die Achsenmächte Deutschland und Österreich mit unterschiedlichen Intentionen sowie Russland ablösten. Eine erste pro-österreichische Nationalregierung der Ukraine führte nach der Teileroberung durch das Zarenreich zum Verbot ukrainischer Nationalbewegungen und der ukrainischen Sprache. Am 25. Januar 1918 begründete ein Beschluss des Ukrainischen Parlaments den ersten ukrainischen Nationalstaat – am 8. Februar 1918 besetzten die Bolschewisten den jungen Staat, was wiederum die Mittelmächte auf den Plan rief. Im Frieden von Brest-Litowsk anerkannten die Bolschewisten eine unabhängige Ukraine, die nach dem Abzug der Deutschen aus Kiew durch den Zusammenschluss mit der Westukraine nunmehr die Polen auf den Plan rief. Die dennoch auf ihre Unabhängigkeit bestehende Ukraine wurde erst durch Polen, dann im Zuge des innerrussischen Krieges in einen bis 1922 dauernden, militärischen Konflikt verwickelt. Nach der dann vollständigen Besetzung der Ukraine durch die Rote Armee wurde im Dezember 1922 die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik gegründet, die nun jedoch auf faktische Souveränität verzichten musste und unter die Moskauer Universalstaatsdoktrin fiel.
Ein Versuch der Nationalisierung ohne Nationalstaaten
Die Kommunisten Lenins unternahmen mit der Machtusurpation den Versuch, alles, was an das zaristische Russland erinnern konnte, zu vernichten. Die Rückverlegung der Hauptstadt von Petersburg, der Gründung Peter des Großen, nach Moskau wies dabei bereits in eine Richtung, die bis heute Russlands Politik prägt. Sollte die Umbenennung der Stadt Peters in Leningrad 1924 auch symbolisch das finale Ende der zaristischen Tradition dokumentieren, verlor die Sowjetunion mit der neuen Machtkonzentration in Moskau die von den Zaren trotz aller Skepsis betriebene Orientierung zum Westen des Kontinents. Russlands Blick richtete sich fortan vor allem nach innen, wobei auch die vorgeblichen Internationalisten des Marxismus-Leninismus an die Universalstaatsidee der Zaren anknüpften. Die Union der Sozialistischen Räterepubliken (UdSSR) war ein aus Moskau zentral geführtes Imperium, zu dessen Erhalt das Prinzip des divide et impera beitragen sollte.
Aus diesem Grunde wurden in den bis 1922 rückeingegliederten Separatistengebieten in Europa und dem Kaukasus die nationalen Identitäten einerseits gefördert, gleichzeitig aber jeder nationale Souveränitätsanspruch gewaltsam unterdrückt. Die als zaristisch und nationalistisch betrachteten Großrusslandvorstellungen sollten auf diesem Wege ausgemerzt werden. Wie so vieles in der russischen Politik war auch dieser Weg nicht bis zu seinem Ende gedacht: Die vorsätzliche Ukrainisierung durch die Sowjetführung unter Lenin, die im Sinne des marxistischen Internationalismus die großrussisch-zaristische Nationalstaatsidee überwinden sollte, führte zwangsläufig zum Erstarken der ukrainischen Nationalidentität.
Lesen Sie in Teil 2, wie Putins Vorgehen nicht nur die Universalstaatsidee zerstört.