Der entscheidende Wendepunkt der deutschen Corona-Politik fand am 24. März 2021 statt. An diesem Mittwoch hob Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die „Osterruhe“ auf, die sie erst in der Nacht zum Dienstag ausgerufen hatte. Für zwei Brückentage sollte erstmals alles in Deutschland stillstehen. Auch die Industrie. So die eigentliche Idee. Doch auf Druck – vor allem aus der Autoindustrie – hob Merkel diesen Beschluss der Bund-Länder-Konferenz wieder auf.
ARD, ZDF und Merkel wohlgesinnte Zeitungen entschieden sich für eine weiche Berichterstattung. Statt auf den Kern einzugehen, inszenierten sie das Märchen von der mutigen Prinzessin, der es nicht an Größe fehlt, einen Fehler einzugestehen. Doch angesichts dieses Kitsches ging ein entscheidender Satz Merkels zur „Osterruhe“ unter, der ihre Corona-Politik fortan prägte: Sie habe diese gestoppt, weil sie schlecht vorbereitet war, „wenn sie überhaupt jemals so umsetzbar ist, dass Aufwand und Nutzen in einem halbwegs vernünftigen Verhältnis stehen“.
Das war neu. Ein Jahr lang hatte sich alles dem Kampf gegen den Virus unterzuordnen. Das galt sowieso für Handel und Gastronomie, auch für die Bildungspolitik und sogar für andere Bereiche der Gesundheitsvorsorge: Menschen nehmen keine Krebsvorsorge mehr wahr? Risikopatienten bleiben ihren Herzuntersuchungen weg? Kinder werden zu Hause hospitalisiert? Das alles wurde vernachlässigt, untergeordnet. Wer widersprach, dem hängten Medien wie der Spiegel die Corona-Toten an. So sei zum Beispiel der ZDF-Moderator Markus Lanz „verantwortlich für den Tod von tausenden Menschen“. Laut dem Spiegel. Das sei so, weil Lanz Virologen eingeladen hatte wie Hendrik Streeck oder Alexander Kekulé, die von der Einheitsmeinung schon zu weit abgewichen waren.
Im Januar 2021 hatten Wissenschaftler, darunter Brinkmann, ein Papier entwickelt, das der Virus-Bekämpfung eine „Perspektive“ bieten sollte. Ihr Ziel war, die Inzidenz unter zehn zu halten. Das hätte bedeutet: Wenn 2 von 10.000 Menschen sich infiziert hätten, wären strenge Maßnahmen in Kraft getreten. Die Zeit sah das Ziel kurz vor dem Ende der Osterruhe „in greifbarere Nähe“ gerückt. Deutschland sollte demnach in grüne und rote Zonen geteilt werden. Grüne Zone blieb jede Region, in der sich nur einer von zehntausend Einwohnern infizierte. Alles darüber wurde zur roten Zone mit totalen Lockdowns – inklusive Ausgangssperre und Industrie-Stillstand. Die TAZ sprach von einer „halbtotalitären Fantasie“.
Auf ähnliche Ideen kam der Arzt Marc Hanefeld, der einen Brief öffentlich machte, den einige Dutzend seiner Kollegen unterschrieben hatten. Demnach hätte die Pandemie bekämpft werden müssen, „auch unter deutlicher Verschärfung des sogenannten ,Lockdowns‘“. Kitas und Schulen hätten konsequent geschlossen bleiben sollen. Eine Durchseuchungs-Strategie schlossen die Unterzeichner aus. Weder durch überstandene Infektionen noch durch Impfungen.
Die Unterzeichner, darunter eine Apothekerin und eine Gesundheitsmanagerin, gingen auch auf mögliche Gegenargumente ein: „Faktenleugnung und Verwässerung wissenschaftlicher Vorschläge dürfen politische Entscheidungen nicht weiter negativ beeinflussen.“ So war das Anfang 2021. Da vertrat man keine Meinung oder stellte eine Theorie auf. Da verkündete man die Wahrheit. Und jenseits des schmalen Pfades der eigenen Ideen gab es nur „Faktenleugnung“ und „Verwässerung wissenschaftlicher Vorschläge“.
Foren, die einer Demokratie angemessen gewesen wären. Foren, auf denen sich adäquat über ein gesellschaftlich hoch wichtiges Thema hätte ausgetauscht werden können, gab es kaum. Wer einen Millimeter Platz ließ, der musste wie Lanz mit dem Spiegel-Vorwurf leben, an Tausenden von Toten die Schuld zu tragen. Auch der ZDF-Aktivist Jan Böhmermann warf dem Kollegen vor, es schade der „echten Balance“ in der Berichterstattung, wenn er jemandem wie Streeck ein Forum biete.
Streeck ist längst rehabilitiert. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat ihn in seinen Expertenrat aufgenommen. Merkel räumte ein, einer ihrer größten Fehler in der Pandemie sei es gewesen, in der Frage des Schutzes von Heimen nicht auf Streeck gehört zu haben. Doch der Wadenbeißer vom Lerchenberg hat sich festgebissen. Bevor Böhmermann jemals einen Fehler zugeben würde, macht er weiter und nimmt Streeck erst jüngst mit auf ein „Fahndungsplakat“, mit dem er ihm unliebsame Menschen diffamiert. Hätten „No Covid“-Gegner ein Fahndungsplakat von Melanie Brinkmann veröffentlicht, hätte mutmaßlich noch am selben Tag der Staatsschutz vor ihrer Tür gestanden.
Auch wurde nicht jeder Kritiker rehabilitiert. So hatte die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot kritisiert, dass Freiheit und Bürgerrechte der Pandemie untergeordnet würden. Die Wiener Zeitung schrieb seinerzeit von „Geschwurbel“, einem Lieblingswort, um Maßnahmenkritiker mundtot zu machen und der Spiegel von den „Grenzen der Freiheit“. Noch heute gilt Guérot als sozial erledigt, wird etwa vom NDR aus Buchpreis-Jurys ausgeladen.
Das führt zu Karl Lauterbach (SPD). Der Gesundheitsminister hat zu Corona schon alles gesagt. und davon immer auch das Gegenteil. So hat Lauterbach zur „No Covid“-Strategie im Juni und August 2021 verkündet: „Die No Covid Strategie hat zehntausenden Menschen das Leben gerettet.“ Und: „Eine noble Idee, die in vielen Länder Menschenleben gerettet hat, sollte man nicht billig am Einzelbeispiel vorführen.“
Im Mai 2022 sagte Lauterbach dann bei Maischberger: Die chinesische „No Covid“-Politik sei gescheitert: „Die Strategie ist nie richtig aufgegangen, weil damit schiebe ich das Problem ja eigentlich nur nach vorne.“