Zum ersten Mal in meinem Leben begegnete mir der Name Enzensberger Anfang der 60er Jahre im Schulunterricht. Unser Deutschlehrer , nennen wir ihn Reuschlein, hatte mit Verspätung Deschners Streitschrift „Kitsch, Konvention und Kunst“ gelesen und wollte uns mit diesen Erkenntnissen vor dem „Schundautor“ Hermann Hesse warnen. Vermutlich hatte er ihn im Verdacht, mit seinem „schlüpfrigen Narziß und Goldmund“ unser adoleszentes Triebleben ungebührlich anzuheizen. Die hochgebildete Mutter eines Klassenkameraden erschien nach dem Bericht ihres Sohnes empört in der Sprechstunde und fing mit dem verblüfften Pauker einen lautstarken Streit über literarisches Niveau an. Es fielen Worte wie „borniert“, „provinzlerisch“ und „Philister“. Als Beispiel für Modernität und Qualität nannte sie die „Gruppe 47“. Die Angelegenheit kränkte unsern Reuschlein mächtig, und er trug die Auseinandersetzung ins Klassenzimmer.
Am Beispiel eines führenden „Gruppe 47“-Mitglieds, nämlich Enzensberger, versuchte er uns zu demonstrieren, daß solche Art Lyrik („Die Verteidigung der Wölfe“ – 1957), weder sprachlich noch ideell den Namen Poesie verdiene. Derlei – heute würde er sagen: „Haßrede“ – habe außer negativen Emotionen und Kritikasterei an allem und jedem nichts zu bieten. Als er auf den boshaften Widerstand der Klasse stieß, die die Gelegenheit nutzte, genau diese Dichtung für das Spannendste zu erklären, zog Reuschlein den seiner Meinung nach unschlagbaren Trumpf – Enzensberger sei bezeichnenderweise ein freiwilliger Emigrant, der es sich in Norwegen gut gehen lasse und überhaupt kein Recht habe, an unserem Land, das er schnöde hinter sich gelassen habe, von außen herumzukritisieren.
Man erinnere sich, die Kanzlerkandidatur von Willy Brandt hatte 1961 von Seiten der Union zu bizarren Argumenten gegen die Legitimität von Emigration geführt. Bei solcher Verschiebung vom Poetischen ins Politische konnten nun alle mitreden. Reuschlein schaffte es, die Mehrheit der Klasse zu Anhängern der SPD zu machen.
Meine geistige Entwicklung nach dem Abitur zeigte weit nach links, ich lief bei der „APO“ mit, demonstrierte gegen die Notstandgesetze und erlebte den realen Enzensberger auf einer großen Kundgebung am Frankfurter Römer. Zu dem Protest hatte die IG Metall aufgerufen, an die Mikrophone traten der Gewerkschaftler Georg Benz, der Juraprofessor Helmut Ridder und Hans Magnus Enzensberger. Er begann seine Rede mit der aufreizenden Frage: „Leben wir in einer Bananenrepublik? Werden wir von Gorillas regiert? Liegt Bonn in Haiti oder Portugal?“ Dann – nach weiteren zugespitzten Fragen über die Nähe Bonns zu diversen Drittweltdiktaturen die rhetorische Auflösung: „Aber nein. Davon kann doch überhaupt keine Rede sein. Zwar, das muß man schon zugeben, wird unsere Republik exotischer von Tag zu Tag. Zwar reibt man sich schon beim Frühstück die Augen, wenn die Zeitung kommt.“ Ebensowenig wie die 20 000 Zuhörer will ich keine Katastrophenpanik, sondern ein Stück Hoffnung. Das bedient Enzensberger souverän mit seinem Schluß: „Wir verlangen, daß jetzt endlich die Vernunft gehört wird. Wir verlangen, daß das Parlament, am hellichten Tage, diesem Spuk ein Ende macht. Die Republik, die wir haben, wird noch benötigt. Wenn man uns fragt, und wenn man uns nicht fragt, erst recht: Eine Bananenrepublik lassen wir aus diesem Land nicht machen.“
Einen Monat später bildete die SPD mit der CDU eine Große Koalition, zwei Jahre später wurden die Notstandsgesetze mit der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit beschlossen. Der danach definierte Notstand wurde allerdings bis heute nie ausgerufen. Wie die Vorgänge während der Coronazeit gezeigt haben, geht es auch ohne.
Von 1966 bis in die frühen 1980er Jahre hinein gehörte ich wie viele meiner Generation zum ständigen Leserkreis des „Kursbuch“, jener Vierteljahreszeitschrift, in der die „wichtigen“ Themen und Trends der undogmatischen Linken präsentiert wurden. Von der Person Enzensberger hörte man irritierende Nachrichten – mal unterstützte er die Kommune 2, dann reiste er als Sympatisant der Revolution nach Kuba, um sich bald wieder vom Castroregime zu distanzieren, als man kritische Schriftsteller wie Heberto Padilla ins Gefängnis steckte. Fidel bezeichnete die gegen seine Repressionspolitik protestierenden Intellektuellen wie Susan Sontag, Marguerite Duras, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre und Hans Magnus Enzensberger als „schamlose Pseudolinke“.
Der „real exístierende Sozialismus“ wurde für viele Mitstreiter der „68er Bewegung“ zu einem Schreckbild. Zu diesem Ergebnis war ich als Student der Osteuropäischen Geschichte ebenfalls gekommen. Ich schlug nach dem Studium einen kurvenreíchen Lebensweg als Buchhändler, Raubdrucker, Landkommunarde, Journalist, Satiriker, Redakteur des Stadtmagazins „Pflasterstrand“ und als Herausgeber der Zeitschrift „Joseph“ ein. Schließlich landete ich als Lektor beim Eichborn Verlag.
Enzensberger hatte sich inzwischen von vordergründigen kulturrevolutionären Konzepten verabschiedet. Sein 1980 gegründetes Magazin „Transatlantik“ (1980) promotete die literarische Reportage, erspürte damit den wachsenden Überdruß an den nicht lebbaren Utopien. Das Magazin setzte der Neugier auf das wirkliche, sich keinen Schubladen fügende Leben ein publizistisches Denkmal.
Und es beflügelte auch indirekt das Nachdenken über das Beständige, Bleibende, Erhaltenswerte in unserer Kultur. Enzensberger wußte, wie man den rechten Ort dafür schaffen könnte. Er gründete mit dem Verleger und Buchdrucker Franz Greno die berühmte bibliophile Reihe „Die Andere Bibliothek“. Ab Januar 1985 erschien darin monatlich ein Band, in klassischem Bleisatz hergestellt und individuell gestaltet. „Wir drucken nur Bücher, die wir selber lesen möchten“ versicherten die Herausgeber und Kritik und Feuilleton schwärmten: „In ihrer Art die schönste Buchreihe der Welt“ (Zeit), „Angesichts der ‚Anderen Bibliothek‘ geraten Literaturfreunde ins schwärmen“ (SZ) , „Ebenso gute wie schöne Bücher – eine Buchreihe, die ihresgleichen sucht.“ (FAZ). Das Projekt wurde ein Riesenerfolg, aber mit der Bibliophilie übernahm sich Verleger Greno, weil die Herstellung zu teuer wurde.
1989 holten Vito von Eichborn und sein Pressechef Uwe Gruhle die Bibliothek in den Eichborn Verlag. Das Kostenproblem wurde dadurch gemildert, daß von jedem Band nur eine limitierte Auflage der teuren bibliophilen Ausgabe gedruckt wurde, während Nachauflagen unter der Bezeichnung „Erfolgsausgaben“ als Reprint im gängigen Offsetverfahren hergestellt wurden.
Jedes Halbjahr kam nun Enzensberger nach Frankfurt und stellte den Verlagsmitarbeitern und Vertretern sein neues Programm vor – jeweils sechs Bände. Thematisch ging es kreuz und quer durch deutsche, europäische, außereuropäische Literatur. Neben Klassikern der Geschichtsschreibung wie Burckhardt oder Gibbon, war die Memoirenliteratur eine Passion des Herausgebers: Montaigne, Louise d’Épinay, Friedrich Reck, Xenophon, Paustowskij, Hans-Georg Behr, Witold Gombrowicz, Sybille Bedford, Gontscharow, Robert Byron, Oliver Lubrich, Marschall Richelieu, Varnhagen von Ense, Margret Boveri, Alexander Herzen, Vittorio Segre, Jane Kramer…
Die Runde verwandelte sich in einen Salon, in dem Stoff für ein Studium Generale im amüsantesten Plauderton präsentiert wurde. Und oft, nach einiger Verlegenheit, begann die eine oder der andere mit Nachfragen, und es entwickelte sich ein Gespräch, in dem sich alle „auf Augenhöhe“ fühlen durften. Magnus (aber mit ‚Sie‘ – so wurde er im Verlag angesprochen) übte seine Ironie nie am „Personal“, sondern nahm „seine Leute“ ernster als manche akademischen oder journalistischen Besserwisser. Er schaffte es, daß man sich für die abgelegensten Themen zu interessieren begann – das Leben der Lappen, die Kulturgeschichte des Unrats oder des Aberglaubens, den Fußballkrieg zwischen El Salvador und Honduras, den Amazonas und die Entdeckung der Quellen des Nil, Kriege am Hindukusch und Gartenkunst, aussterbende Handwerke und die Nixen aus Estland. Das Verblüffende für unsere Vertriebsleute war, daß auch die scheinbar abseitigsten Themen ein teilweise beträchtliches Publikum fanden. Magnus und der Eichborn-Presseabteilung gelang es fast immer, das Interesse der Feuilletons, Rundfunk- und TV-Redaktionen zu wecken.
Ich hatte mich in den 80er Jahren auf das Sammeln von alten Heiligenbiographien und Legenden gestürzt. Verleger Vito von Eichborn witterte in dem Thema etwas Heiteres: Säulenheilige, Geißler, Hungerkünstler. Mir gefiel der radikale Nonkonformismus, der die Heiligen auszeichnet, und ich fing an, unter dem Titel „Die befremdlichen Heiligen“ Kalendergeschichten nach klassischem Vorbild, aber in heutiger Sprache zu verfassen. Die Arbeit ging angesichts meiner Verpflichtungen als Lektor nur langsam voran. Als nun Magnus 1990 wegen des Wechsels von Greno zu Eichborn nach Frankfurt kam, wurde sofort ausgiebig über die künftigen Programme diskutiert. Er meinte nebenbei, es wäre schön, einmal über den etwas in Vergessenheit geratenen Kosmos der christlichen Heiligen zu veröffentlichen, aber er suche noch nach einem Autor. Darauf priesen Vito und Uwe Gruhle mein geplantes Werk an – Magnus sah sich flugs die schon vorhandenen Texte an, und war geneigt, das Werk in die Andere Bibliothek zu übernehmen.
Meine freigeistig orientierten Kollegen und Kolleginnen im Verlag waren mehrheitlich sehr skeptisch, sie konnten sich nicht vorstellen, wie „Christliches“ in die freigeistige Reihe im freigeistigen Verlag passen sollte. Zunächst stand mir aber eine harte Zeit der Fertigstellung bevor. Ich hatte diverse Schaffenskrisen, zweimal meldete ich mich bei Magnus in Alarmstimmung. Er half mit Freundlichkeit und gutem Rat. Es dauerte drei Jahre, dann war das Schmerzenskind geboren, und Magnus stellte es 1993 in der Programmkonferenz vor. Das Unwahrscheinliche geschah, Magnus machte aus dem Stoff eine vergnügliche Lehrstunde mit tieferer Bedeutung.
Er pries den Band mit den Worten: „Der Immerwährende Heiligenkalender ist ein Nachschlagewerk, ein Brevier zur Meditation und Erbauung, ein Buch zum Vorlesen und zur Unterhaltung. Ein Register verzeichnet die Patronate und Embleme der Heiligen, die ihre Anrufung in weltlichen und geistlichen Nöten und ihre Identifizierung in der religiösen Kunst ermöglichen. Auch wer ein Kind zu taufen hat, wird es mit Gewinn zu Rate ziehen.“
Es funktionierte – die Vertreter überzeugten die Buchhändler, die Presseabteilung die Medien. Das Buch wird bis heute immer wieder neu aufgelegt.
Ich arbeitete später als Antiquar mit Spezialgebiet „Die Andere Bibliothek“ weiter gelegentlich mit Magnus zusammen. Er erkundigte sich gerne nach der Popularität der einzelnen vergriffenen Bände, deren Markpreise Anfang der 2000er Jahre teilweise beträchtlich über den Originalpreisen lagen. Die Werke W.G. Sebalds (einer der Autoren, denen Magnus zu Weltruhm verhalf) erzielten Preise bis zu 500 Euro. Diese Zeit ist allerdings schon länger vorbei. Ohne die stete Präsenz Enzensbergers „normalisierten“ sich Nachfrage und Preise.
In seinem letzten Buch „Eine Experten-Revue in 89 Nummern“ wurde ich als einer unter den 89 launig erwähnt. Ein bißchen fühlte ich mich, als ob mir von einem (Geistes-)Monarchen ein Orden verliehen worden wäre.
Nun trauere ich um den klügsten, charmantesten, witzigsten, belesensten, neugierigsten, wendigsten Geistesmenschen unserer vergehenden Epoche.