Politische Schlachten sind voller Schall und Rauch. Mit anderen Worten, voller Medienberichte. Was wirklich passiert, ist daraus nur begrenzt zu erkennen. Das gilt auch für das epische Kräftemessen rund um die derzeit suspendierten EU-Gelder für Ungarn.
Wochenlang waren die Medien voll von Berichten aus „gut informierten Kreisen”, dass die EU-Kommission zufrieden sei mit Ungarns Reformschritten. Es wurde daher spekuliert, dass demnach wohl zumindest ein Teil der Gelder freigegeben würde.
Im September hatten sich Ungarn und die Kommission auf 17 Maßnahmen geeignet, deren Implementierung die Blockade lösen würde. Später wurde klar, dass die EU gerne noch einen 18. Schritt hätte, zusätzliche Reformen im Justizapparat. Auch das sagte Ungarn zu. Es wurden – gemeinsam – genaue Zeitpläne und Benchmarks ausgearbeitet. OK, wurde den Ungarn in Brüssel gesagt, wenn ihr all das zufriedenstellend macht, bekommt ihr das Geld. Die ungarische Regierung setzte daraufhin die vereinbarten Maßnahmen diszipliniert und mit geradezu preußischer Genauigkeit um.
Von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán wird gerne behauptet, er sei ein schlauer Fuchs, gar „machiavellistisch”. Aber möglicherweise ist die EU viel machiavellistischer. Reformen mit Geldversprechen erzwingen, dann doch kein Geld geben und weitere Reformen verlangen: Das ist schlau.
Es gibt einen serbischen Witz über die EU. Ein reicher Mann (die EU) fordert eine junge Frau (Polen/Ungarn/Serbien/Türkei/jeder Mitgliedskandidat) auf, mit ihm ins Bett zugehen. Er würde ihr dafür sein Telefon geben. Es ist ein schönes, teures. Sie fügt sich und tut was er will. Darauf sagt er: „OK, schreib’ es auf: 00 32 2 299 96 96 (die Telefonzentrale der EU-Kommission). Sie bekommt also nicht das Telefon, nur die Telefonnummer. Falls die Pointe erklärt werden muss: Die EU fordert viele demütigende Dinge und verspricht im Gegenzug viel, gibt am Ende dann aber doch nichts.
Der polnische Europaparlamentarier Radoslav Sikorski wurde von ukrainischen Politikern gefragt, wie sie sich verhalten sollen in Verhandlungen zum EU-Beitritt. „Ich habe ihnen gesagt, tut einfach alles, was die EU fordert. Es würd demütigend sein, aber lohnt sich am Ende.” (Podiumsgespräch im ungarischen Esztergom im vergangenen Juli, auf dem „MCC Fest”, moderiert vom Verfasser dieser Zeilen).
Nun gut. Aber wie kam es dazu, dass die Medien erstaunt waren über die „Härte” der EU, nachdem alle über einen nahenden Kompromiss geschrieben hatten? Ganz einfach. Wenn „gut informierte Kreise” Informationen durchsickern lassen, geschieht das oft mit der Absicht, eine bestimmte Berichterstattung zu erzeugen. So kann man die Medien spielen wie eine gut gestimmte Geige. Wenn dann die „überraschende” Entscheidung fällt, ist maximale mediale Aufregung garantiert. Hoppla, die Kommission ist doch super relevant!
Eine formale Entscheidung der Kommission steht für kommende Woche an. Danach müssen die EU-Finanzminister entscheiden, mit qualifizierter Mehrheit (15 Länder, 65% der EU-Bevölkerung). Die Abstimmung ist für den 6. Dezember angesetzt, aber es kann sein, dass sie verschoben wird.
Und nun zur ungarischen Seite: Da ist man zuversichtlich, dass alles rechtzeitig bis Ende es Jahres klappen wird, und dass die Gelder dann im ersten Halbjahr 2023 fließen.
Es geht um 5,8 Milliarden Euro aus dem sogenannten Covid-Recovery Fonds, und um ein Drittel der zugesagten Mittel für Ungarn aus dem aktuellen Kohäsions-Haushalt, 7,5 Millarden Euro. Ungarn erhält seit mehr als einem Jahr kein Geld mehr von der EU, wegen angeblicher Rechtstaatlichkeits- und Korruptionsbedenken.
Was stimmt nun? Kein Geld, oder doch Geld? Welche Gründe könnte es geben für Ungarns Zuversicht?
Die Regierung in Budapest hält sich zum einen genau an alle Reform-Abmachungen mit Brüssel. Mann hofft, dass das honoriert wird. (An dieser Stelle würden Serben wohl ihren oben erwähnten schmutzigen Witz erzählen). Zum anderen wollen die EU, die USA und die Nato eine Reihe von Dingen, die Ungarn bislang nicht gewährt. (Zwischen den Zeilen gelesen: Solange die EU-Gelder nicht kommen).
Und die Regierung signalisiert, dass man die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die Nato zwar gerne sieht. Aber die Ratifizierung wird dauernd verschoben. Sie war zuletzt für den 7. Dezember geplant, also für den Tag nach der Entscheidung der EU-Finanzminister über die EU-Gelder für Ungarn. Nun wurde das auf die erste Parlamentssitzung 2023 vertagt.
Welches Szenario ist jetzt zu erwarten? Es kann durchaus passieren, dass die Entscheidung im Ministerrat verschoben wird, etwa auf den 19. Dezember. Und dass man die bis dahin erfolgten weiteren Reformschritte Ungarns als ausreichend würdigt, die nötigen Papiere nach rasch unterschrieben werden, und bis 31. Dezember alles unter Dach und Fach ist. Dann ratifiziert Ungarn den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands, und akzeptiert eventuell andere Dinge, die es bisher ablehnt.
Denkbar ist aber auch, dass serbische politische Witze prophetischer Natur sind. Dass also die EU nichts gibt, egal was Ungarn tut.
Ungarn hingegen will alle Forderungen der EU hinsichtlich Rechtstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung erfüllen, rückt aber nicht ab von seiner emanzipatorischen Außenpolitik – nationale Interessenvertretung statt transnationale Lagerbildung.
Auch diese Rechnung geht bisher nicht auf. Die EU will alles.
Genauer gesagt, die EU ist so verstrickt in ihre politischen Zwänge, dass sie gar keinen eigenen Willen entwickeln kann. Die Betrebungen des EU-Parlaments, seine Relevanz zu steigern, indem es Orbán zum Feind erklärt und die EU-Kommission diesbezüglich unter Druck setzt; die willigen Medien, die dieses Narrativ gerne übernehmen, und so ebenfalls politischen Druck erzeugen; und die Kräfte innerhalb der EU, die einen europäischen Föderalstaat wollen und deswegen den Widerstand der freiheitsliebenden „Osteuropäer” brechen wollen (also Deutschland laut seinem Regierungprogramm, Frankreich, und deren Verbündete) – all das engt den Spielraum der Kommission ein. Dort will man immer auf der „richtigen” Seite stehen, und das geht nur, wenn man immer dem Stärkeren Recht gibt.