Einer der bedeutendsten Romane der Weltliteratur hat einen neuen Namen: Seit Putins Überfall auf die Ukraine kursieren in Russlands sozialen Medien Bilder, die den Umschlag von Leo Tolstois Epos „Krieg und Frieden“ zeigen. Das Wort „Krieg“ ist darauf durchgestrichen und durch den Begriff „Spezialoperation“ ersetzt.
Auf diese Weise machten sich die User über das Verbot der russischen Regierung lustig, den Einmarsch in die Ukraine als Krieg zu bezeichnen. Obwohl Russlands Präsident im September eine Mobilmachung anordnete und das Nachbarland seit Monaten mit Bomben- und Raketenangriffen überzieht, dürfen die gleichgeschalteten Medien den Angriff weiterhin nur als militärische „Spezialoperation“ bezeichnen.
Zum Krieg haben die meisten Russen nämlich ein äußerst emotionales Verhältnis. Jedes Jahr am 9. Mai erinnern Umzüge und Paraden an den „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird. Praktisch jede Familie hat Tote oder in Zwangsarbeit Verschleppte zu beklagen, deren Fotos bei den Gedenkveranstaltungen hochgehalten werden. Auch zu Sowjetzeiten stand die Erhaltung des Friedens jahrzehntelang im Mittelpunkt der Propaganda. Noch vor einem Jahr erschien den meisten Russen deshalb ein Krieg gegen das ukrainische „Brudervolk“ unvorstellbar.
In Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ war die Situation deutlich anders. Er spielt in der Zeit der Napoleonischen Kriege, als französische Truppen in Russland einmarschierten. Die männliche Bevölkerung floh damals nicht in Scharen ins Ausland, sondern unterstützte voller Patriotismus den Zaren im Krieg gegen die Eindringlinge. Gleichwohl zeigte die russische Armee schon damals Schwächen, die an die Schwierigkeiten erinnern, die sie derzeit in der Ukraine hat.
Der Roman beginnt im Jahr 1805, als sich Russland mit England, Österreich und Schweden gegen Frankreich verbündete. Der militärisch begabte junge General Napoleon Bonaparte, der sich selbst zum Kaiser der Franzosen gekrönt hatte, brachte damals mit revolutionären Ideen und einer neuen Form der Kriegsführung halb Europa unter seine Kontrolle. Auch Russland erlitt gegen ihn schwere militärische Niederlagen, sodass es 1807 den Frieden von Tilsit schloss, der Europa in eine französische und eine russische Interessensphäre aufteilte.
Trauma durch Einmarsch
Gleichwohl marschierte Napoleon fünf Jahre später mit mehr als 600.000 Soldaten in das Zarenreich ein – ein Trauma, das mit dem Angriff der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg vergleichbar ist. Obwohl die Franzosen bis nach Moskau kamen, das damals durch einen Brand mit Tausenden Toten weitgehend zerstört wurde, endete der Feldzug mit einer der größten militärischen Katastrophen der Geschichte: Der einbrechende Winter, der Mangel an Nahrung und russische Guerillaattacken sorgten dafür, dass die „Grande Armée“ fast vollständig aufgerieben wurde.
Diese dramatischen Ereignisse lässt Tolstoi wieder aufleben, indem er im Stil des Realismus den militärischen Alltag und die wichtigsten Schlachten schildert. Das einfache Soldatenleben wird dabei ebenso anschaulich wie das Verhalten der Offiziere und Heerführer im Kampf oder bei Lagebesprechungen. Zitate aus zeitgenössischen Briefen, Dokumenten und Berichten verleihen der Darstellung zusätzliche Authentizität.
Auch die großen handelnden Personen dieser Zeit wie Napoleon, Zar Alexander oder Generalfeldmarschall Fürst Michail Kutusow, der 1812 den Oberbefehl über die russischen Truppen bekam, treten auf. Allein der blutigen Schlacht von Borodino, bei der rund 100 Kilometer westlich von Moskau etwa 80000 Menschen ums Leben kamen, widmet Tolstoi über 100 Seiten. Die ungeschönte Abbildung der Kriegsrealität macht sein Werk unerwartet aktuell.
Tolstoi beschreibt dabei ausführlich den Alltag der damaligen Oberschicht: Empfänge und Familienfeste, Geburten und Sterbeszenen, Jagden und Schlittenfahrten, Gespräche mit korrupten Verwaltern und mit Adligen, die fasziniert sind von den neuen politischen Ideen aus Frankreich. Das opulente höfische Leben in Moskau und Sankt Petersburg wird dadurch ebenso lebendig wie das eintönige Dasein auf den entlegenen Landgütern im zaristischen Russland, wo selbst Idealisten wie Tolstoi mit demokratischen Reformen scheiterten.
Tolstoi, der sich ab dem dritten Band als Erzähler immer häufiger selbst zu Wort meldet, demontiert in seinem Roman aber vor allem die bis dahin übliche Darstellung des Krieges als Werk großer Helden. Stattdessen schildert er den Verlauf der Geschichte als Schicksal, auf das die Protagonisten kaum Einfluss haben. Zugleich rückt er die Suche des Einzelnen nach Glück und Verwirklichung ethischer Ideale in den Mittelpunkt. Vor allem aber lässt er keinen Zweifel daran, mit wie viel Leid der Krieg verbunden ist.
Eine Schlüsselszene dafür findet sich gleich im ersten Teil des Buches. Der junge Student Nikolai Rostow, der aus Begeisterung für den Krieg zur Armee gegangen ist, bemerkt während eines Angriffs der Franzosen, wie ein Husar neben ihm zusammensinkt. Plötzlich wird ihm bewusst, wie schön der Himmel ist, wie hell und feierlich die untergehende Sonne, wie freundlich-glänzend das Wasser der Donau. „Noch einen Augenblick – und ich sehe vielleicht diese Sonne, dieses Wasser und diese Schluchten nie wieder“, fährt es ihm durch den Kopf. Und voller Angst, dass sein junges Leben schon zu Ende gehen könnte, flüstert er: „Herr Gott, der du im Himmel bist, errette mich, vergib mir und beschütze mich.“
Unterwerfung statt Verteidigung
Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass es den jungen russischen Soldaten in der Ukraine derzeit nicht anders geht. Doch im Unterschied zu den Russlandfeldzügen Napoleons und Hitlers geht es diesmal nicht um die Verteidigung des Vaterlands gegen einen fremden Angreifer, sondern um die fixe Idee Putins und seiner Entourage, ein nach Unabhängigkeit strebendes Nachbarland zu unterwerfen.
Viele Russen, vor allem wenn sie nicht mehr im geschützten Moskau, sondern an der Front in der Ukraine sind, bezweifeln längst, dass dieser Krieg gerechtfertigt ist. In Tolstois Roman finden sie dafür gute Argumente. Manche Sätze sind dabei von erschreckender Aktualität – zum Beispiel, wie die Tochter des Fürsten Bolkonski über die Aushebung von Rekruten in ihrem Dorf berichtet. „Es war entsetzlich, den Zustand der Mütter und Kinder dieser Leute mit anzusehen und das Schluchzen der einen wie der anderen zu hören“, notiert sie in einem Brief und fährt fort: „Man möchte sagen, die Menschheit habe die Gesetze ihres göttlichen Erlösers vergessen, der die Liebe gepredigt und Beleidigungen zu verzeihen geboten hat. Denn es scheint, als sähen die Menschen die Kunst, einander zu morden, jetzt als größtes und hauptsächliches Verdienst an.“
Lew Tolstoi, Krieg und Frieden. Roman. In der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Neuübersetzung von Barbara Conrad. dtv, zweibändige Taschenbuchausgabe im Schmuckschuber, 2288 Seiten, 35,- €.
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