Als Russlands Kriegsminister Sergej Schoigu am Mittwoch, dem 9. November, in Moskau den Rückzug der russischen Invasionstruppen aus der südukrainischen Provinzhauptstadt Cherson und dem rechten Ufer des Dnipro ankündigte, herrschte nicht nur bei ukrainischen Beobachtern deutliche Skepsis. Die Frage war: Was hatte Russland tatsächlich vor, diesen für seine ursprünglichen Invasionsziele bedeutenden Landstrich aufzugeben und damit der Ukraine zumindest zu einem vorläufigen Triumph zu verhelfen? Sollten die Soldaten Kiews in eine Falle gelockt werden – in einen Häuserkampf um die Stadt an der Dnipro-Mündung? Sollte es vielleicht sogar ein besonders perfides Szenario geben, bei dem die Russen durch die Sprengung des noch von ihnen besetzten Khakowka-Staudamms die feindlichen Einheiten nebst verbliebener Zivilbevölkerung ins Schwarze Meer spülten?
Zumindest die erste Frage ist jetzt, zwei Tage später, beantwortet: Nein, in einen Häuserkampf locken wollte Schoigu die Ukrainer nicht. Auch wenn die Ukraine davon ausgeht, dass noch russische Soldaten in Zivilkleidung anzutreffen sind. Doch die russischen Besatzer haben das Westufer tatsächlich kampflos weitgehend geräumt – und die Kollaborateure gleich mitgenommen. Darüber, was sie hinterlassen haben, gehen die Meldungen auseinander. Während in den Netzwerken Bilder eines kampflos befreiten, unversehrten Cherson gepostet werden, kursieren andernorts Meldungen, nach denen Russland die zivile Infrastruktur gezielt vernichtet habe. So sind die Anlagen zur elektrischen Versorgung der Stadt durch die abziehenden Russen komplett zerstört worden. Auch von vorsätzlich angelegten Minenfeldern ist die Rede – bislang aber nicht von Ukrainern, die diesen zum Opfer gefallen sind.
Erst zögerlich, dann im Eiltempo
Nach der Ankündigung Schoigus warnte Präsident Wolodymyr Selenskyj noch, die Armee müsse überaus vorsichtig vorgehen, da die unerwartete Ankündigung aus Moskau nicht den Tatsachen entsprechen müsse. So blieben erste Erfolgsmeldungen größeren Umfangs am Mittwoch und am Donnerstag aus. Einige Dörfer in der bisherigen Frontregion konnten befreit werden – doch der großangelegte Vorstoß in die Stadt blieb aus. Bis zum Freitag. Jetzt plötzlich gab es kein Halten mehr. Fast im Minutentakt vermeldete die Ukraine die kampflose Übernahme der Dörfer, posteten dort lebende Ukrainer Bilder, wie sie die verhassten Russenflaggen und Propagandatransparente herunterrissen und ihre blaugelbe Nationalflagge hissten. Gegen Nachmittag standen ukrainische Soldaten am Generaldirektorat der Polizei in Cherson, wurden von Zivilisten mit ukrainischen Flaggen auf dem zentralen Platz der Stadt mit befreitem Jubel empfangen. Am Abend des Freitags gab es keinen Zweifel mehr: Die Russen, die mit ihrem Überfall wie niemand zuvor dafür gesorgt haben, dass es eine ukrainische Nationalidentität gibt, hatten sich tatsächlich über den Fluss, der hier ein Strom ist, zurückgezogen. Ein Landstrich, größer als Korsika, war befreit.
Die Ukraine konnte feiern. Cherson, das vor dem Überfall knapp 300.000 Einwohner beherbergte, war wieder ukrainisch. Die Bürger, die noch zu Beginn der russischen Besetzung regelmäßig mit ukrainischen Fahnen demonstrierten, sind wieder Herren im eigenen Haus.
Mehr als ein Schlappe für Russland
Wie konnte es dazu kommen? Cherson war die einzige Großstadt der Ukraine, die von den Russen nach ihrem Überfall im Handstreich genommen werden konnte. Im völkerrechtswidrigen Annexionsbeschluss, den nicht einmal mehr Russland selbst wirklich ernst zu nehmen scheint, galt sie als Hauptstadt einer neuen, russischen Oblast. Vor allem aber sollte sie der Schlüssel sein, den die Russen brauchten, um das altehrwürdige Odessa zu übernehmen. Ein Kriegsziel, das Putin erst einmal und vielleicht für immer zu den Akten legen muss, auch wenn die Hafenstadt damit nicht vor den Terrorangriffen russischer Raketen geschützt ist. Doch den Landweg – sollte Russland tatsächlich noch am Ziel Odessa festhalten und damit zudem mit der Eingemeindung Transnistriens liebäugeln – müssten sich die Russen schwer erkämpfen.
Tatsächlich ist dieser trotz anderslautender Meldungen offenbar weitgehend geordnet abgelaufene Rückzug für Russlands Militär die bislang größte Schlappe, die es hat hinnehmen müssen. War bereits im März die schnelle Übernahme von Kiew und Charkiw am logistischen Unvermögen der Russen gescheitert und der Verlust der Region östlich der ukrainischen Grenzmetropole zumindest noch auf russischen Widerstand gestoßen, so ist der kampflose Rückzug mehr als eine Niederlage. Schoigu muss damit abschließend die Unfähigkeit der russischen Armee eingestehen, einmal erobertes und eingemeindetes Territorium gegen die anrückenden Ukrainer sichern zu können. Dabei hat der Rückzug Ursachen, die über ukrainisches Wirken hinausgehen.
Der (dann doch zu) schnelle Vorstoß
Als Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einfiel, standen neben der Übernahme der Hauptstadt die Herstellung einer Landbrücke zur besetzten Krim und der schnelle Vorstoß an die rumänische Grenze ganz oben auf der Agenda. Doch bereits die Landbrücke sollte sich als problematischer erweisen, als in den russischen Offiziersstuben angenommen. Ursächlich war hier vor allem der angestrebte Prestigeerfolg gegen die angeblichen Nazibrigaden in der unmittelbar an den besetzten Donbas grenzenden Hafenstadt Mariupol. Stattdass die Russen die Stadt im wahrsten Sinne des Wortes links liegen ließen, um sich ihrer später anzunehmen, verstrickten sich russische Elitetruppen, die sogar aus der Enklave Königsberg/Kaliningrad herangezogen worden sein sollen, in einen fast endlosen Kampf mit den Verteidigern im eingekreisten Asow-Stahlwerk. Geheimdienstberichte gehen davon aus, dass allein bei diesen Kämpfen einige russische Eliteeinheiten derart hohen Blutzoll ließen, dass sie faktisch als ausgelöscht betrachtet werden können.
Während sich Russland an Mariupol festbiss, kam auch der Vorstoß nach Odessa zum Halt. Vor Mikolaiv am Südlichen Bug, hundert Kilometer östlich von Odessa und sechzig Kilometer westlich von Charkiw, stoppte der russische Vorstoß und konnte seitdem keinen weiteren Gebietsgewinn verzeichnen. Dennoch hatte Russland hier den Dnipro/Dnjepr überschritten und damit einen kriegswichtigen Brückenkopf errichten können. Militärstrategisch eigentlich eine ideale Voraussetzung, um von hier aus ins Herz der Ukraine vorzustoßen.
Doch die ukrainischen Kräfte waren nicht nur in der Lage, die Russen zu einem Stellungskrieg zu zwingen – sie propagierten auch ihr Ziel, die besetzte Region im Südwesten als eines ihrer wichtigsten Ziele zu befreien. Anfangs allerdings stellte sich dieses Ziel als gelungener Bluff heraus: Russland verlegte Einheiten von der ukrainischen Ostfront in den Süden – und die Ukraine setzte unerwartet und erfolgreich zur Befreiung des Gebiets östlich von Charkiw an.
Erst als dort der Fluss Oskil überwunden war, konnte sich die Ukraine wieder dem Südwesten zuwenden. Dort schien es lange Zeit, als ob kaum Bewegung in der Front kam. Die Ukraine befreite einige Dörfer im Norden, westlich des Stausees, und vor den Toren von Mikolaiv – doch der durchschlagende Erfolg schien auszubleiben. Stattdessen agierte Kiew mit Angriffen auf die Logistik der Russen im Hinterland. Depots und Eisenbahnanlagen im besetzten Landkorridor und auf der Krim waren ebenso Ziele wie die wenigen Brücken über den Dnipro. Russland, das nicht nur mit schlecht ausgebildeten Rekruten seine ausgedünnten Einheiten auffrischen musste, sondern auch nicht mehr in der Lage war, seine Einheiten westlich des Dnipro angemessen zu versorgen, geriet in eine missliche Lage. In den militärischen Hauptquartieren der Besatzer stellte sich zunehmend mehr die Frage: Eine Armee opfern – oder einen Brückenkopf? Am vorläufigen Ende entschied sie sich für den zweiten Weg auch deshalb, weil der erste keinen Sinn mehr machte.
Lange schon bevor die russischen Soldaten über den Fluss setzten, forderte Russland die dortigen Bürger auf, Region und Stadt zu verlassen. Angeblich, weil es dort zu Vernichtungskämpfen kommen würde, bei denen auf Zivilisten keine Rücksicht mehr genommen werden könne. Heute stellt sich dieses Szenario als Märchen heraus – und es stützt die ukrainische Behauptung der Zwangsevakuierungen, um Ukrainer zu Russen zu machen. Wie viele Ukrainer dem Aufruf dann letztlich doch mehr oder weniger freiwillig gefolgt sind, wird sich vermutlich nie feststellen lassen. Fest steht aber auch: Bürger, die der Ukraine die Treue hielten, sind noch dort. Insofern dürfte Russlands Politik in der nun befreiten Region vor allem russophile Menschen angesprochen haben: Eine Art ethnischer Säuberung, die nach nationaler Identität und nicht nach Ethnie erfolgte.
In der Konsequenz ist Cherson heute ukrainischer, als es vor dem Überfall gewesen ist. Wer es mit den Russen hielt, hat die Region verlassen und wird voraussichtlich niemals wiederkommen.
Cherson gewonnen – Optionen verloren
Für Russland ist dieser Verlauf seiner „militärischen Spezialoperation“ einerseits Menetekel, andererseits Rettung in letzter Sekunde. Angeblich hat Moskau damit 30.000 russische Soldaten davor bewahrt, von den Ukrainern eingekesselt zu werden und zwischen Tod oder Gefangenschaft wählen zu müssen. Auch wenn diese Zahl, die Militärsprecher Igor Konaschenkow mit der ihm eigenen emotionslosen Miene verkündet hat, deutlich zu hoch gegriffen sein dürfte und vor allem dem russischen Volk eine nicht gegebene Heldentat vorgaukeln soll, so hat Russland mit dem Rückzug tatsächlich einige tausend Kämpfer für seinen Krieg gesichert. Sie sollen jetzt, so Moskau, entlang des Ostufers des Dnipro stationiert sein und einen weiteren Vorstoß der Ukraine verhindern.
Mehr ist aus Moskau nicht zu vernehmen. Der Kreml schweigt und hofft, dass das russische Volk die Preisgabe einer angeblich bis in alle Ewigkeit zu Russland gehörenden Stadt, in der die Bewohner nach dem Abzug nichts Eiligeres zu tun hatten, als die russischen Fahnen abzureißen und durch ukrainische zu ersetzen, in ihrer eigentlichen Tragweite nicht wahrnimmt.
Tatsächlich hängt am ukrainischen Erfolg angesichts des zwar von der Ukraine veranlassten, aber dann eben doch halbwegs geordneten Rückzugs auch ein tonnenschweres Bleigewicht, mit dem die Ukraine nun zu tun hat. Denn der Dnipro stellt eine natürliche Grenze dar, die kaum zu überwinden sein wird. Die ohnehin schon durch die Ukraine beschädigte Brücke über den Strom ist nach dem russischen Rückzug in einem breiten Abschnitt zusammengebrochen. Schwer vorstellbar, dass dafür nicht die Russen verantwortlich zeichnen. Die nächste Möglichkeit, den Fluss trockenen Fußes zu überschreiten, ist 70 Kilometer entfernt.
Auch ist Cherson, das bislang von Angriffen weitgehend verschont geblieben ist, nun Frontstadt. Bereits am späten Nachmittag des Freitags hat russische Artillerie vom Ostufer die Stadt unter Feuer genommen. Für die Hafenstadt verheißt diese Situation wenig Gutes – auch wenn nun wieder die ukrainische und nicht mehr die russische Flagge über ihr weht.
Noch schwieriger wird sich die Situation am Khakowka-Damm darstellen. Er, der rund 18 Milliarden Kubikmeter Wasser davon abhält, den Unterlauf des Dnipro zur Todesfalle werden zu lassen, steht nun genau dort, wo Russen und Ukrainer sich künftig in die Augen sehen können.
Sieht die Ukraine davon ab, ihn wieder auf beiden Ufern in ihren Besitz zu bringen, kann der zwischen 1950 und 1955 gebaute Damm, der nicht nur für die Stromversorgung von fundamentaler Bedeutung ist, jederzeit von Russland gesprengt werden, sollte der weitere Kriegsverlauf die Terroristen im Kreml davon überzeugen, lieber eine atomare Wasserwüste zu hinterlassen, als den Süden der Ukraine zu überlassen. Denn nicht nur, dass die Wassermassen alles unterhalb des Dammes ins Schwarze Meer spülen kann – verschwindet der Stausee, fällt auch die Kühlung für die sechs Atomreaktoren des Kraftwerks gegenüber Saporischschja aus. Die Folgen mag man sich nicht ausmalen.
Andererseits kann Russland selbst diesen Damm nicht aufgeben. Überschreitet die Ukraine hier den Fluss, dann ist der Weg zum Kraftwerk frei und die Befreier könnten den am Unterlauf stationierten Soldaten Logistik und Rückzug abschneiden. Folgerichtig sprengten die Russen in der Nacht zum Sonnabend die Brücke am Kraftwerksdamm, die bislang die beiden Ufer verband. So deutet manches darauf hin, dass sich am Damm Russen und Ukrainer eingraben, ohne die Gegenseite zu sehr zu provozieren. Eine Situation, die nicht nur für die Ukraine derzeit das vermutlich beste Szenario bietet – bis irgendwann, wenn der Verschleißkampf beide Seiten mürbe gemacht und an den Verhandlungstisch gezwungen hat.
Beide Seiten stecken fest
Vieles deutet darauf hin, dass der Dnipro bis auf Weiteres die Frontlinie bilden wird. Zumindest hat es das russische Militär so geplant und sich damit selbst davon überzeugt, seine am Westufer stationierten Männer rechtzeitig zurückzuholen. Für die Ukraine wird nun jeder Versuch, an dieser Frontlinie den Vorstoß zur Krim fortzusetzen, in einem Blutbad enden können. Da das der ukrainischen Militärführung bewusst ist, sucht sie nach anderen Optionen.
Vorstellbar ist eine Offensive durch den Bauch des russisch besetzten Landkorridors. Er böte sich an von der Ostspitze des Khakowka-Stausees, wo derzeit regelmäßig Gefangene ausgetauscht werden, in Richtung Melitopol, weil dort im Süden ein Haff des Schwarzen Meeres eine natürliche Verlängerung des Vorstoßes bilden könnte. Denkbar wäre auch eine Offensive im äußersten Osten des besetzten Korridors Richtung Süden nach Mariupol – doch hier stehen gegenwärtig die meisten russischen Einheiten. Und selbst dann, wenn ein solcher Vorstoß erfolgreich wäre, ist nicht garantiert, dass Russland auf diese Schlappe, die den Verlust selbst der Krim andeuten könnte, nicht irrational reagiert und tatsächlich Hand an den Damm und das Kraftwerk legt, die angeblich bereits beide mit Sprengkörpern vermint sein sollen.
Einen psychologischen Hammerschlag könnte die Ukraine dem Feind versetzen, gelänge ihr die Befreiung der Separatistenhochburg Donezk. Diese Stadt liegt gerade einmal zwei Kilometer Luftlinie von der Front entfernt – ist aber bereits seit 2014 zur Festung ausgebaut, weil die Möglichkeit eines ukrainischen Vorstoßes seit der Separation stets im Bereich des Denkbaren gelegen hat. Sollte die ukrainische Armee hier erfolgreich zur Offensive schreiten, würde sie den russischen Ambitionen einen Stich ins Herz versetzen – allerdings mit dem Risiko dann noch unberechenbarer Panikaktionen des Kreml.
Alle Varianten wären aus vielen Gründen mit hohem Risiko behaftet, und so deutet einiges darauf hin, dass für den Winter mit weiteren, bedeutenden Gebietsgewinnen kaum zu rechnen ist. Es sei denn, eine der beiden Seiten entdeckt unerwartet auf der Gegenseite eine Schwachstelle, die es erfolgreich auszunutzen gilt. Doch auch die Russen sind schlauer geworden – auf eine Finte wie jene, die die ukrainische Befreiungsaktion bei Charkiw ermöglichte, werden sie kaum ein zweites Mal hereinfallen.
So ist damit zu rechnen, dass unmittelbar an den Fronten die Abnutzung ebenso weitergeht wie die Zerstörung der ukrainischen Städte und Dörfer – und Russlands Terror gegen die Zivilbevölkerung fortgesetzt wird, bis entweder die Ukraine über leistungsfähige Luftabwehrwaffen verfügt, die die iranischen Minidrohnen erfolgreich vom Himmel holen, oder den Russen das Material ausgeht.
Glaubt man Insidern, so könnte vor allem Letzteres zu einer Option werden. Denn der russische Haushalt soll durch die Sanktionen bereits in einem Maße gerupft sein, dass Importware zunehmend weniger bezahlt werden kann. Lediglich das Drucken von Rubeln soll demnach eine Staatspleite derzeit noch abwenden – und den Rekruten ihre mageren Löhne zahlen. Von dort wiederum könnte Putins KGB-Mafia tatsächlich am ehesten Ungemach drohen. Glaubt man entsprechenden Informationen, so soll manch einer der in der sogenannten Teilmobilmachung gezogenen und ohne Ausbildung und Ausrüstung an die Front geschickten russischen Staatsbürger bereits nach zwei Tagen im Sarg die Heimreise angetreten haben. Bei russischen Müttern und Ehefrauen sei deshalb die Stimmung zunehmend kritisch.
Das sowjetische Afghanistan-Abenteuer endete einst vor allem an der Heimatfront. Knapp 15.000 Söhne sowjetischer Mütter hatten nach offiziellen Angaben zwischen 1979 und 1989 am Hindukusch ihr Leben gelassen. Fast 54.000 waren als Verwundete, teils als Krüppel heimgekehrt. Nach Informationen US-Amerikanischer Stellen sollen in der Ukraine bislang mindestens 100.000 Russen ihr Leben verloren haben oder kampfunfähig verwundet worden sein. Ebenso viele militärische Opfer habe die Ukraine zu beklagen – wozu mindestens 40.000 Zivilisten kämen, die bislang von den Invasoren getötet wurden. Auch wenn diese Zahlen gegen die Ukraine zu sprechen scheinen, so gibt es doch einen Unterschied: Die meisten russischen Kämpfer begreifen schnell, dass sie in der Ukraine nicht ihr Heimatland verteidigen, sondern als Okkupanten agieren. Schlechte Ausrüstung und mangelnde Ausbildung tun ein weiteres, um die Kampfmoral gegen Null gehen zu lassen. Auf der anderen Seite hingegen, bei den Ukrainern, geht es um alles oder nichts. Sie wissen: Verlieren sie diesen Kampf, wird ihre Nation von Russland ausgemerzt. Und so kämpfen sie ihren Kampf, wie sie es bereits seit zweihundert Jahren immer wieder tun: Für das Recht, als Ukrainer über sich selbst zu bestimmen und sich nicht aus Moskau bestimmen zu lassen. Das vor allem ist es, was neben der westlichen Unterstützung langfristig für den Erfolg der Ukraine spricht.
Kein Ende in Sicht
Als die Sowjetunion seinerzeit gegen den Unmut im eigenen Land und die Unlust ihrer Soldaten nicht mehr ankam, endete sie gleichzeitig als Weltmacht. Zweieinhalb Jahre nach dem wenig glorreichen Abzug von rund 100.000 Soldaten aus Afghanistan war die UdSSR Geschichte – Putin leidet bis heute darunter.
Damals waren dem Rückzug der Invasionsarmee sieben Jahre Verhandlungen unter UN-Regie vorausgegangen. Der Abzug selbst war dennoch eine Flucht, weil es zu keiner wirklichen Einigung gekommen war. Nicht ausgeschlossen, dass sich der russische Ukrainekrieg ähnlich entwickelt. Wobei es zunehmend auch Signale gibt, die eine gewisse Verzweiflung im Kreml anzudeuten scheinen.
Es sind vor allem die immer häufiger werdenden Rufe nach Verhandlungen, die darauf hindeuten könnten, dass der KGB-Mafia die eigene Spezialoperation über den Kopf gewachsen ist. Andererseits spricht vieles dafür, dass sich Putin und seine Armee mit solchen Verhandlungen, die einen schnellen Waffenstillstand schaffen sollen, nur Zeit erkaufen will. Zeit, um die desolate Armee wieder aufzurüsten und neu in Stellung zu bringen. Zeit, um die verbliebenen Geländegewinne zu sichern und am Ende fest als russisches Territorium zu verankern. Um dann eines Tages erneut über den Nachbarn herzufallen, denn in Putins Großrusslandplänen soll die baldmöglichst zu erringende, vorläufige Westgrenze seines Territoriums von Königsberg entlang der Westgrenzen von Belarus und Ukraine bis an das Schwarze Meer verlaufen. Das Baltikum inklusive, weshalb sehr gut nachvollziehbar ist, warum die kleinen EU-Länder jetzt kräftig aufrüsten und fest an der Seite der Ukraine stehen.
Auch Transnistrien steht zu Disposition
Wobei wir nun auch zudem noch an einem Punkt sind, der der öffentlichen Beobachtung weitgehend verloren gegangen ist. Denn im Südwesten der Ukraine, nahe der Hafenstadt Odessa, gibt es immer noch eine russische Exklave, die sogar noch die Sowjetinsignien in ihrer Flagge trägt: Jenes links des Dnister gelegene, schlauchförmige Transnistrien, das sich nach 1990 von Moldawien löste und nur Dank russischer Militärunterstützung als Separatistenprovinz mit knapp 350.000 Einwohnern halten konnte. Gegenwärtig sollen dort bis zu 1.500 russische Soldaten stationiert sein, unterstützt von bis zu 15.000 prorussischen Milizionären.
Dort am östlichen Flussufer jedoch steigen die Sorgen mit jenem Tag, mit dem Russland sich in seinem Kampf gegen die Ukraine verstrickt. Hatte die dortige Führung noch im Februar gehofft, demnächst als westliche Provinz der Russischen Föderation beitreten zu können, schwinden nicht nur diese Hoffnungen. Die dortigen Separatisten müssen erkennen, dass sie im Falle einer russischen Niederlage am Ende sind, weil weder die Ukraine noch das kleine Moldawien diesen Stachel im Fleisch länger dulden werden. Die Tatsache, dass sie sich bislang noch ihrer scheinrepublikanischen Selbständigkeit freuen dürfen, haben sie ausschließlich dem eigenen Stillhalten und der Beschäftigung der Ukraine mit der russischen Front zu verdanken. Die in Transnistrien stationierten Russen gäben jedoch jederzeit Anlass, den 202 Kilometer langen Schlauch zu besetzen. Sollte es vorher zu echten Friedensverhandlungen kommen, wird auch die Zukunft dieser Separatisten auf der Agenda stehen.
Der eigentliche Gewinner ist die Waffenindustrie
Wann und ob es überhaupt zu solchen Gesprächen kommt, steht bis auf Weiteres in den Sternen. Nicht nur, dass die Vorstellungen der Russen und der Ukrainer meilenweit voneinander entfernt und gegenwärtig nicht kompromissfähig sind – der Konflikt hat sich auch zu einer Leistungsschau der konventionellen, westlichen Waffenindustrie entwickelt, die dem russischen Aufgebot um Äonen überlegen ist. Die Waffenschmieden in den USA und Westeuropa gehören heute schon zu den eigentlichen Gewinnern des russischen Überfalls – während dem militärisch-industriellen Komplex Russlands die Reputation wegbricht.
Mag Indien gegenwärtig auch damit liebäugeln, sich kostengünstig an Moskaus kriselnder Waffenproduktion zu bedienen; oder mag es auch nur so tun, als sei es daran interessiert, um kostengünstig an Russlands Öl zu kommen – wer für einen ernsthaften Krieg der Zukunft rüstet, schaut gegenwärtig auf das, was aus westlicher Produktion in der Ukraine zum Einsatz kommt. Und auf den Erfolg, den das iranische Billigprodukt der Kamikaze-Drohne zu verbuchen hat. Wobei vom Jammer bis zur kleinen Abfangdrohne bereits mit Hochdruck daran gearbeitet wird, diesen iranischen Exportschlager zu neutralisieren. Nicht nur in der Ukraine und in Israel …