Es ist eine sehr traurige Geschichte, eine Geschichte ohne Happy End, eine Geschichte ohne Fragen, weil alle Antworten bereits gegeben worden sind. Am 31. Oktober, einem Montag, geriet eine Radfahrerin in Berlin durch einen Verkehrsunfall unter einen Betonmischer. Das Spezialfahrzeug der Feuerwehr wurde durch einen von der Letzten Generation verursachten Stau gehindert, rasch am Unfallort einzutreffen. Den Feuerwehrleuten, die vor Ort waren, blieb nichts anderes übrig, als zu improvisieren. Das taten sie auch, sodass sie die Frau befreien konnten und sie mit dem Hubschrauber in ein Krankenhaus gebracht wurde, bevor dann endlich das Spezialfahrzeug vor Ort ankam.
Laut Focus seien die Fahrer des Rüstfahrzeugs, das von einer Feuerwehrwache aus Charlottenburg angefordert worden war, „völlig verzweifelt“ gewesen, dass sie im Stau festgesteckt hätten, weder vor- noch zurückgekommen seien. „Es waren mehrere Retter vor Ort, die diese Arbeit schon 35 Jahre machen und manches gewöhnt sind. In einer solchen Situation eine Frau schwerverletzt unter einem Betonmischer zu sehen und nicht helfen zu können, weil ein Rettungsfahrzeug in einem Stau steckt, der von einigen willkürlich verursacht wurde, das kann wirklich an die Substanz gehen“, sagte Rolf Erbe, Sprecher der Berliner Feuerwehr, gegenüber Focus.de.
Wohl hat es Mut und Kraft gekostet, sich an die Öffentlichkeit zu wenden – und doch hat Anja Umann aus der Unfallstatistik wieder ein Schicksal, wieder ein Leben gemacht, was in der öffentlichen Debatte verlorenging, die auch eine politische Debatte ist. Der Spiegel schreibt: „Die Radfahrerin war 44 Jahre alt und hieß Sandra Umann. Sie hatte mit ihrer Schwester ein veganes Modelabel gegründet. Umann hat eine eineiige Zwillingsschwester, Anja Umann. Diese hat sich am Wochenende an den Spiegel gewandt. Am Sonntag traf sich ein Reporter mit ihr für dieses Interview. Anja Umann nennt ihre Schwester bei ihrem Spitznamen, San.“
Anja Umann berichtet, dass ihre Zwillingsschwester ihre „Welt“ gewesen ist, „so wie ich ihre Welt war. San war für mich alles, was man an Familie haben kann, wenn man sonst nichts hat. Wir sind mit 16 von zu Hause ausgezogen, unsere Eltern sind tot. Es gab immer nur uns zwei, keine Partner, kaum enge Freunde. Meine Schwester war Autistin, hatte ihr Leben lang schwere Depressionen und litt unter Angststörungen. Ich habe immer versucht, ihr die schweren Zeiten etwas leichter zu machen. Es gab keinen Tag, an dem wir nicht in irgendeiner Form verbunden waren. Bis zum vergangenen Montag.“ In „den vergangenen 44 Jahren“ waren sie „nie getrennt gewesen.“ Seit ihrer Kindheit waren sie auf sich „selbst gestellt und hatten immer nur einander“.
Am Montagmorgen, den 31. Oktober 2022, hatte sie Sandra mit dem Rad zur Tür rausgelassen und ihr noch gesagt, wie man es eben immer so sagt: „Fahr bitte vorsichtig, ich freue mich auf später.“ Ein Später gab es nicht, denn zehn Minuten später geschah der Unfall auf der Bundesallee unweit der Wohnung der Schwestern. Zu der Zeit buk die ältere Schwester einen Karamellkuchen für die jüngere, „weil der Montag immer der schwerste Tag der Woche für sie ist. Wegen ihrer Erkrankung ist es schwer für sie, einen Beruf auszuüben. Sie arbeitete in einer Klinik, begleitete dort Menschen, die ebenfalls Depressionen und psychische Erkrankungen haben, damit diese ihre Krisen besser durchstehen und wieder zurück ins Leben finden. Um ihr eine kleine Freude zu machen, bereite ich manchmal etwas Schönes für den Abend vor, wenn sie von der Arbeit heimkommt.“
Der Chefarzt eröffnete ihr, dass Sandra Umann sich in einem sehr ernsten Zustand befände, „sehr viel Blut verloren und schwerste Knochenbrüche“ erlitten hätte. „Sie müssen sich vorstellen, dort liegt Ihr Ein und Alles, und Sie haben kaum eine Chance, sie zu berühren, weil alles so kaputt ist, so voller Verletzungen, dass es kaum noch eine Stelle auf ihrem Körper gibt, an der Sie sie einfach für einen Moment berühren können, um ganz bei ihr zu sein, sie zu halten. San lag im künstlichen Koma, wurde beatmet. Auf ihrer Stirn gab es eine kleine Stelle, an der ich sie berühren und ihr übers Haar streicheln konnte.“ Am Dienstag erfuhr Anja Umann vom Stationsarzt, dass weitere Untersuchungen ergaben, dass es nach „dem Unfall und während der Bergung längere Zeit Durchblutungsstörungen des Hirns gab“ und dass man von den Folgen eines Schlaganfalls ausgehen müsse.
Am Mittwoch wurde Anja Umann im Beisein einer Psychologin mitgeteilt, dass sich „das Gehirn allmählich ganzflächig auflöst“. Dann ging Anja Umann zu ihrer Schwester Sandra, mit der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, las die Geschichte vom kleinen Prinzen und dem Fuchs vor, weil Sandra die Geschichte geliebt hatte und spielte ihr noch zwei Songs vor. „Die haben wir gemeinsam gehört, Kopf an Kopf auf ihrem Kissen. Ich hielt sie, so gut ich konnte: Ich legte meine Hand auf ihre Stirn und streichelte mit der anderen ihre Schulter. Ich wusste, dass es ihr da, wo sie jetzt hingeht, wahrscheinlich besser geht als hier.“
Eine traurige Geschichte, auf die man eigentlich nur mit tiefem Mitgefühl reagieren kann. Doch nicht Mitgefühl, sondern die Versuche, die Letzte Generation aus der Kritik zu bekommen, bestimmte die Handlungen und Statements von grünen Aktivisten, Politikern bis hin zur UNO. Stéphane Dujarric, ein Sprecher der UN, bezog noch am 4. November Stellung: „Menschen müssen engagiert sein, aber natürlich müssen sie in jeder Situation verantwortungsbewusst sein, um anderen keinen körperlichen Schaden zuzufügen“, um dann weiter im Brustton der Überzeugung vorzutragen: „Aber ich bezweifle, dass es die Absicht jeglicher Proteste gewesen ist, die medizinische Versorgung zu verzögern.“ Es bestand also nicht die Absicht! Fehlt nur der Slogan, den der Umweltaktivist Tadzio Müller twitterte: „Shit happens.“
Die Letzte Generation, die sich inzwischen als eigentliches Opfer sieht, twitterte im Geist des Spruchs, „wo gehobelt wird, fallen Späne“: „Wir setzen die Blockaden in #Berlin fort. Größtes Risiko für die Menschheit ist, den Alltag einfach weiterzumachen. Größte Gefahr ist hinzunehmen, dass die Regierung nicht mal einfachste Sicherheitsmaßnahmen ergreift.“
Die Politikerin der Grünen, Katharina Beck, stellte nassforsch im gleichen Geist fest: „Sind alle, die jetzt einen Kausal-Zusammenhang zwischen Straßenblockade #LetzteGeneration und Folgen für die Radfahrerin machen, entsprechend überzeugt, dass Baustellen oder Demonstrationen, die auch den Verkehr behindern, verantwortlich für ähnliches und strafbar sein sollten?“
Der Journalist Alexander Fröhlich recherchierte, wie man im Tagesspiegel nachlesen kann, dass die „Klimakleber“ im Sommer und seit Oktober laut Zahlen des Senats den Rettungsdienst schon 18-mal blockierten. Der User Mattheus Berg kommentierte den Tweet der Letzten Generation mit Blick auf eine Blockade in der Nähe der Charité mit den Worten: „Auf der Torstraße fährt alle 2 Minuten ein Rettungswagen durch. Das ist die Verkehrsader von Mitte. Der Zugang zur zentralen Notaufnahme über Philippstraße ist darauf unmittelbar angewiesen. Klebt euch am besten noch direkt vor die Charité.“
Auf die Frage des Spiegels: „Sie haben sich selbst an den SPIEGEL gewandt. Warum?“ antwortete Anja Umann: „Weil ich in der Berichterstattung las, wie ignorant einige Klimaaktivisten den Tod von Menschen in Kauf nehmen, die sich unter Umständen selbst für Umweltschutz und andere Menschen einsetzen. In einem Interview wurde ein Aktivist gefragt, ob der Unfall und der eingetretene Hirntod etwas an ihrer Einstellung zur Wahl der Mittel, die sie einsetzen, ändert. Ob sie dies zum Überdenken ihrer Aktionen anrege. Er antwortete etwas schön umschrieben, dass es schlussendlich nichts, rein gar nichts verändert.“ Die Aussagen der Aktivisten lösen in Anja Umann „keine Wut“ aus, „aber es sind Messerstiche“.
Vielleicht hätte auch der Spiegel gern an dem Framing festgehalten, das er mitbetrieben hat und das seit Tagen von allen Kanälen prasselt, dass auch das rechtzeitige Eintreffen des Spezialfahrzeuges das Leben von Sandra Umann nicht gerettet hätte, denn auf die Letzte Generation darf kein Schatten fallen, unter keinen Umständen, auf gar keinen Fall.
Mit dieser These konfrontiert, antwortete die überraschte Anja Umann ausgesprochen klug und tief menschlich: „Es ändert ja nichts daran, dass dieses Fahrzeug durch die Blockade nicht die Möglichkeit hatte, früher vor Ort zu sein. Die Tatsache, dass es behindert wurde, besteht ja weiterhin. Und es hätte ja ebenso gut sein können, dass dieses Fahrzeug das Leben meiner Schwester hätte retten können, wie zunächst anzunehmen war.“
UPDATE 17:30 Uhr:
Es erstaunt nicht, dass man versuchte, den Eindruck zu erwecken, dass es keinen Unterschied gemacht hätte, wenn der Rüstwagen der Feuerwehr rechtzeitig am Unfall Ort eingetroffen wäre und nicht im Stau gesteckt hätte, so wie der Interviewer des Spiegels behauptete. Zu einem anderen Schluss kommt der Abschlussbericht der Feuerwehr, der der Welt und der B.Z. vorliegt. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass der Rüstwagen der Feuerwehr im Stau gestanden hat, der durch eine Straßenblockade der „Letzte Generation“ verursacht wurde. Die Notärztin entschied, nicht auf das Rüstfahrzeug zu warten, so dass der Betonmischer „von der Patientin heruntergefahren“ werden musste. Die B.Z. zieht das Fazit: „Das Anheben durch den Rüstwagen wäre in jedem Fall eine „patientenschonendere Rettung“ gewesen – wäre er rechtzeitig vor Ort gewesen, hätte der Betonmischer nicht erneut über das Bein der Radfahrerin rollen müssen. Ein normales Löschfahrzeug (LHF) habe vor Ort den vollgeladenen Betonmischer nicht anheben können.“ Hätte der Rüstwagen nicht im Stau gestanden, wäre er „annähernd parallel“ mit dem Fahrzeug der Notärztin eingetroffen und es hätte ein Absprache zum Thema „technische Rettung“ mit dem Chef des Rüstwagens stattfinden können. Die Straßenblockaden seien „ursächlich für das verspätete Eintreffen des Rüstwagens an der Einsatzstelle“ gewesen.