Knapp zwei Dutzend Professoren haben in diesem Sommer die „Stuttgarter Erklärung“ verabschiedet. In dieser sprachen sie sich gegen den deutschen Atomausstieg aus. Auf der Basis der „Stuttgarter Erklärung“ entstand eine Petition. Diese haben rund 60.000 Menschen unterzeichnet. Nun haben Professor André D. Thess und Dr. Anna Veronika Wendland diese Petition im Bundestag vorgestellt. Sie fordern eine längere Laufzeit der Atomkraftwerke, um die Energieversorgung zu sichern und die deutsche Klimabilanz zu verbessern.
Nun trägt André Thess die Argumente der Wissenschaftler vor. Er ist Professor am Institut für Technische Thermodynamik, das zur Universität Stuttgart gehört. Dort beschäftigt er sich unter anderem mit der Forschung und Entwicklung von Energiespeichern. Diese werden etwa in Flugzeugen eingesetzt. Für drei Jahre war er Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs und seit 2012 ist er Sprecher des DFG-Fachkollegiums 404, dem er seit 2008 angehört. Kurzum: Thess weiß, wovon er spricht.
Thess verweist auf die unsichere Stromversorgung des Landes. Die Bundesregierung wisse von diesem Problem und habe darauf reagiert, indem sie Kohlekraftwerke wieder ans Netz holte. Das halten Thess und die ihn unterstützenden Wissenschaftler für einen Fehler: „Dies jedoch steht im Widerspruch zu deutschen Emissionszielen. Wie der Expertenrat der Bundesregierung jüngst feststellte, werden wir die Ziele für 2030 mit den derzeitigen Mitteln nicht erreichen.“ Deutschland stoße pro Kopf doppelt so viel Kohlendioxid aus (CO2) wie Frankreich. Durch das Hochfahren von Kohlekraftwerken werde sich die Bilanz weiter verschlechtern.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien sei keine Lösung, sagt Thess. Denn die könnten nicht in Grundlast laufen. Das heißt: Geht kein Wind und scheint keine Sonne, liefern sie keinen Strom. Die Verfasser und Unterzeichner der Petition sprechen sich daher dafür aus, dass die drei laufenden Atomkraftwerke über den April des nächsten Jahres am Netz bleiben. Außerdem sollen die drei Anlagen reaktiviert werden, die zum Jahresanfang abgeschaltet wurden. Dafür müsse das Parlament Paragraf 7 des Atomgesetzes entsprechend ändern.
Mit diesem Vortrag trifft Thess nun auf den Petitionsausschuss. Dort genießen er und seine Mitstreiter das Wohlwollen der oppositionellen CDU. „Endlich“ habe der Ausschuss es mal mit „wahren Experten“ zu tun, wie Ausschuss-Mitglied Andreas Mattfeldt sagt. Sonst seien es oft nur „selbsternannte Experten“. Mattfeldt greift die Argumentation der Wissenschaftler dankbar auf und wirft den grün geführten Ministerien für Umwelt und Wirtschaft vor, das Aus der drei letzten Atomkraftwerke mit falschen Zahlen und vorformulierten Ergebnissen durchgeschmuggelt zu haben. Der Auftritt einer Oppositionspartei halt.
Einer Oppositionspartei, die von den Fehlern der Regierung profitieren könnte. Die aber gefangen ist: In ihrer eigenen, aktuellen Unentschlossenheit, die dazu führt, dass ihre Vertreter unterschiedliche Botschaften schicken von Weiterbetrieb bis 2023, 2024 oder darüber hinaus. Und in ihrer eigenen, historischen Befangenheit in dem Thema. Es war und bleibt die Christdemokratin Angela Merkel, die als Kanzlerin den Atomausstieg über Nacht herbeigeführt hat.
Auf diesem Punkt bauen die Vertreter der Ampelkoalition im Ausschuss ihre Verteidigungsstrategie auf: „Die Argumente zum Atomausstieg sind lange ausgetauscht“, sagt Axel Echeverria (SPD). „Zumindest ist das mein Gefühl.“ Damit gibt der Sozialdemokrat die Tonlage für die folgende Debatte vor: Die Ratio der Wissenschaftler gegen das Ausstiegsgefühl der rot-grünen Regierung. Umwelt-Staatssekretär Christian Kühn (Grüne) spricht von der „Hochrisikotechnologie“ Atomkraft. Wendland weist ihn darauf hin, dass dieser Begriff in der internationalen Fachliteratur nicht auftauche. Die spreche hingegen von der hohen Sicherheit der Atomkraft. Kühn beharrt auf das Gefühlige: Angesichts des Leids, das die Atomkraft über die Welt gebracht habe, sei der Begriff „Hochrisikotechnologie“ berechtigt.
Nun hat Rot-Grün im Bundestag keine Mehrheit. Es braucht die bürgerliche FDP, um den beiden linken Parteien zur Beschlussfähigkeit zu verhelfen. Die Erfolgsbilanz dieser bürgerlichen Regierungspartei ist bisher überschaubar: Sie hat das Tempolimit auf Autobahnen verhindert und eine Laufzeitverlängerung von dreieinhalb Monaten durchgeboxt. Ob es Erkenntnisse gebe, wie sehr schon diese dreieinhalb Monate die Lage am Energiemarkt verbessert haben, will Valentin Abel von den Staatssekretären wissen. Das Mitglied des Petitionsausschusses erhofft sich also ein Fleißkärtchen von den Vertretern der Regierung. Die gehen darüber hinweg. Es ist die FDP 2022 in einem Bild: Die Liberalen machen Männchen vor Rot-Grün und bekommen dafür nicht einmal ein Leckerli.
So endet die Sitzung des Petitionsausschusses für die Wissenschaftler ernüchternd: Die rot-grün-gelbe Mauer in Sachen Atomausstieg steht. Mit ihren Argumenten dringen sie nicht durch. Die Petition wird, so wie die Sitzung zeigt, im Sande verlaufen. Doch für eines bleibt sie gut: Was immer auch in Sachen Versorgungssicherheit und CO2-Ausstoß noch passiert, kein Vertreter der Ampel kann danach behaupten, die Informationen hätten nicht vorgelegen.