Tichys Einblick
Bundespräsidialer Aktionismus

Steinmeiers soziales Pflichtjahr – nur Nachlass-Panik im Wir-Kollektiv?

Sein Vorschlag, ein soziales Pflichtjahr einzuführen, sei „von der Sorge getrieben, dass wir Zusammenhalt wiederherstellen müssen“. Das offenbart: Für den Bundespräsidenten ist Zusammenhalt nicht mehr da. Statt darüber nachzudenken, ob das auch mit seiner Politik der Spaltung zusammenhängen kann, rettet er sich in unsinnigen Aktionismus.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Diskussionsveranstaltung zur sozialen Pflichtzeit im Schloss Bellevue, 8. November 2022, Berlin

IMAGO / Fotostand

Er scheint zu ahnen, dass seine Präsidentschaft als eine der unbedeutendsten und am wenig nachhaltigsten in die bundesdeutsche Geschichte eingehen wird. Also versucht Frank-Walter Steinmeier, erst Präsident von Merkels, Seehofers und Gabriels Gnaden, dann alternativloser Kandidat des bundestäglichen Parteienkartells von Union bis Grün, nun offenbar, mit dem „sozialen Pflichtjahr“ eine Marke zu setzen, die seine Bedeutungslosigkeit in die Geschichtsbücher retten soll. Und dabei gleich noch eine Weiche zu stellen zu mehr kollektivem Wir.

„Zusammenhalt wiederherstellen“

Des Steinmeiers Idee: Jeder Bürger (m/w/sonstiges) soll einmal im Leben etwas Nicht-Egoistisches getan haben. So sei sein „Vorschlag von der Sorge getrieben, dass wir Zusammenhalt wiederherstellen müssen“. Das allein für sich offenbart bereits: Für den Sozialisten ist der Zusammenhalt nicht mehr vorhanden. Statt aber darüber nachzudenken, ob das auch mit seiner bewusst betriebenen Politik der Spaltung zusammenhängen kann, rettet er sich in unsinnigen Aktionismus.

Im Kopf des 1956 in Detmold geborenen Berufspolitikers geistert zudem offenbar immer noch jene Debatte um den angeblichen Generationenkonflikt herum, die in den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts zur Einrichtung einer Enquetekommission des Deutschen Bundestags mit dem Titel „Jugendprotest im demokratischen Staat“ geführt hatte. Ziel und Aufgabe damals: Die älteren Herren und gelegentlich auch Damen wollten verstehen, warum junge Menschen nicht so tickten, wie sie es sich vorstellten.

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Lassen wir dahingestellt, ob die Enquetekommission dieses Ziel erreicht hatte – um die Fragestellung zu beantworten, hätte es jedoch auch damals schon ausgereicht, die entsprechende Literatur des Psychologen Erik H. Eriksen aus den Fünfzigern zu lesen und zu verstehen. Immerhin aber lieferten Enquetekommission, mehr noch aber Zulieferungen aus der Schweiz und des Ölgiganten Shell manch zusätzliche Erkenntnis, die erklären konnte, warum Jahrzehnte später noch ein Berufspunk mit dünner werdender Irokesenbürste und dem Gesicht eines preußischen Feldwebels dem Bedeutungslosen im höchsten Staatsamt andächtig lauscht. So oder so war das jene Zeit, die den damals noch jungen Politiker Steinmeier, der seine ersten Publikationen über den DDR-finanzierten Pahl-Rugenstein-Verlag veröffentlichte, maßgeblich geprägt hat und offenbar die sozialistische Auffassung prägte, dass eine unkontrollierte und nicht staatlich organisierte Jugend zu einem Problem für die Herrschenden werden könne.
Ein überholtes Generationenverständnis

Zu jenem Erkenntnisbild der frühen Achtziger gehört auch die unauslöschbare Vorstellung, dass junge und ältere Menschen quasi sozialbiologisch außerstande seien, miteinander zu einer Kommunikation auf Augenhöhe zu gelangen – was partiell einerseits damit zusammenhängen mag, dass die Generation der national-sozialistisch geprägten Jugend der Dreißiger nach 1945 in einen nachvollziehbaren Verdrängungswettbewerb eingetreten waren, andererseits vor allem die Zivilisationsbrüche zwischen klerikal geprägter Tradition und zukunftsorientierter Liberalität seit den Sechzigern tatsächlich Parallelwelten schufen, in denen klassische Tabuthemen wie Sex und eheliche Unterstellung der Frau zu Kommunikationsbrüchen führten. Auch lehrt die Erfahrung, dass manch älterer Mensch – und mancher schon mit Abschluss der Postadoleszenz – die geistig-intellektuelle Weiterentwicklung verweigert, was notwendig zu kommunikativen Schwierigkeiten im gegenseitigen Verständnishorizont führen muss.

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Wenn auch im Alltag einer funktionierenden Familie oder des beruflichen Miteinanders die Generationenkommunikation kein tatsächliches Problem mehr darstellt – es sei denn, die Kommunikationspartner gehörten zu jener mäßig gebildeten Gruppe derer, die das Diktat der Doktrin an die Stelle des Austausches und der Erörterung unterschiedlicher Meinungen setzen –, scheint jene weitere Steinmeier-Begründung seines „Vorschlags“ eine gewisse Sprachlosigkeit des promovierten Juristen zu belegen: „Wir brauchen neue Modelle, in denen wir Jung und Alt miteinander ins Gespräch bringen und die Überzeugung einüben, dass wir auch für andere da sein müssen.“

Demnach also hätten die „alten Modelle“ der Kommunikation ausgedient, vielleicht sogar versagt. Nur – welches sind diese alten Modelle? Eine Kommunikation, die analog zur Pädagogik als „Frontalansprache“ bezeichnet werden könnte? Darin allerdings sind die Vertreter der politischen Kaste nicht erst seit Merkel Meister. Und doch will des Steinmeiers Analyse Erstaunen schaffen, wird doch das Verhältnis des früheren Vertrauten von Gazprom-Lobbyist Gerhard Schröder zu seiner 1996 geborenen Tochter Merrit als überaus innig beschrieben. Möglich aber auch, dass die frühere Arabistik-Studentin, die seit Mai 2021 bei der Heinrich-Böll-Parteistiftung der Grünen als Assistent des MENA-Teams (Middle East North Africa) ausgewiesen wird und damit vor allem für Klima-Fragen zuständig ist, dem dann doch von der undogmatischen Generationenkommunikation entwöhnten Vater eine gefühlte Kommunikationslücke zwischen den Generationen suggeriert. Denn immerhin wird von den Protagonisten der Klima-Religiösen (zumeist jung, weiblich, wohl behütet, woke) – um nicht mit Michael Schmidt-Salomon von Klima-Religioten zu sprechen – stets jene Generationsbarriere beschworen, welche angeblich den bevorstehenden Weltuntergang fast unvermeidlich mache und den Nachgeborenen die Zukunft stehle.

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Nun also vermengt Steinmeier seine Jugendnostalgie mit aktuell definierten Kommunikationsunfähigkeiten und dem Bedürfnis nach persönlichem Nachhaltigkeitsablass, um in gewisser Weise das wieder hervorzuzaubern, was gemeinhin als „alter Hut“ bezeichnet wird. Denn wirklich neu ist Steinmeiers „Vorschlag“ nicht. Spätestens im Gefolge der seit den Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts zunehmend penetranter werdenden Gleichberechtigungsdebatte stand auch die Frage im Raum, ob nicht als Ergänzung der Wehrpflicht mit der Verweigerungsmöglichkeit zum Zivildienstleistenden auch junge Frauen herangezogen werden müssten. Mit der im Merkel-Guttenberg-Hauruck durchgesetzten Einstellung der Wehrpflicht allerdings verlor diese Debatte an Dynamik, während gleichzeitig das 1964 von Union und FDP eingeführte, freiwillige soziale Jahr an Bedeutung gewann und vor allem für Schulabgänger eine Möglichkeit darstellte, die Zeit bis zum Studienbeginn mehr oder weniger sinnvoll zu überbrücken.

So aber stellt sich letztlich auch die Frage, weshalb ein bewährtes Angebot auf Freiwilligkeit nun durch ein staatliches Zwangsinstrument ersetzt werden soll – denn auch wenn der Begriff „Pflicht“ eine positive Leistung für das Kollektiv suggeriert, so bleibt ein Pflichtjahr dennoch ein staatlicher Eingriff in die individuelle Lebensgestaltung junger Menschen.

Ein fragwürdiges Mittel gegen Personalmangel?

Neben der Feststellung, dass der amtierende Bundespräsident damit ein Thema gefunden zu haben scheint, mit dem er seine Belanglosigkeit etwas nachhaltiger in die Geschichtsbücher katapultieren möchte, könnte die Klage des Vereins „Für soziales Leben e.V.“ einen Hinweis geben darauf, was eine weitere Motivation sein könnte. Auf der Website dieses Vereins mit Sitz in Lüdinghausen/NRW, getitelt bundes-freiwilligendienst.de, wird ohne konkrete Nennung von Zahlen geklagt: „Gravierend weniger Menschen haben sich für einen Freiwilligendienst für den Jahrgang 2022/2023 beworben als ein Jahr davor.“

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Lassen wir dahingestellt, dass dieses auch mit der ungewohnten Freiheit zusammenhängen könnte, die junge Menschen nach der Oppression der Corona-Jahre nun wieder genießen wollen, so sind die Teilnehmerzahlen seit dem letzten Höchststand mit 56.347 im Jahr 2016 tatsächlich kontinuierlich rückläufig auf 52.342 im Jahr 2021. Auffällig ist mit knapp 65 Prozent auch der deutliche Überhang weiblicher Teilnehmer. Geht es dem Präsidenten also darum, dem umfangreichen Verbändewesen kostengünstige Hilfsarbeiter zukommen zu lassen? Gegen diese Annahme allerdings spricht, dass sich nicht wenige, die sich zum Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) gemeldet hatten, sich dort eher als lästig empfanden, weil sie mangels Ausbildung mehr im Weg standen, als aktiv sinnvoll eingesetzt zu werden.

Zudem hat die Bundesregierung selbst diesem freiwilligen Sozialdienst Konkurrenz geschaffen, indem sie die Möglichkeit eines FSJ im Auslandsdienst aus dem klassischen Segment herausnahm und 2010 über das Familienministerium den „Internationalen Jugendfreiwilligendienst“ einrichtete.  „Viele tausend junge Menschen“ hätten dieses Angebot bereits wahrgenommen, wie Christine Lambrecht, damals Minister für Familie pp., in einem Dankesvideo am 17. Juni 2021 wissen ließ.

So oder so müsste Steinmeiers „Vorschlag“ das bestehende System erheblich überfordern, wenn nicht gar erschüttern, denn ein System, das gegenwärtig im Jahr vielleicht 60.000 Teilnehmer bedienen kann, bedürfte einer gänzlich neuen Ausrichtung, hätte es allein die rund 770.000 jungen Menschen aufnehmen sollen, die am 31. Dezember 2021 ihr 18. Lebensjahr vollendet hatten. Allein die Unterbringungslogistik müsste diese Republik an ihre Grenzen bringen – und eine Selektion nach Wunsch und vielleicht auch Qualität schließt sich allein schon deshalb aus, um nicht jene einst von Oskar Lafontaine erfundene „Gerechtigkeitslücke“ noch weiter aufzureißen.

Der Zusammenhalt des Kollektivs

Doch blicken wir noch einmal auf die Begründung jenes Mannes, der nach dem Zweiten juristischen Staatsexamen und einer Station als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Gießen 1991 in den SPD-geführten Staatsdienst eintrat und diesen nie wieder verließ. Da steht offensichtlich besagte „Sorge, dass wir Zusammenhalt wiederherstellen müssen,“ im Mittelpunkt. Ich sagte es bereits: Diese Aussage impliziert, dass es einen „Zusammenhalt“ nicht mehr gibt – was wenig verwunderlich wäre, da führende Politiker tagtäglich von „Spaltung“ und „Spaltern“ reden, als welche sie grundsätzlich jene erkennen, die es wagen, die „Haltung“ des rotgrün-konsensdemokratischen Mainstreams oder eben auch nur die Positionen jener, die die Spaltung herbeireden, kritisch zu hinterfragen oder sogar abzulehnen. 

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Steinmeier wird nicht nur von jenen von ihm verunglimpften Spaziergängern gegen das Corona-Diktat als „Spalter“ wahrgenommen. Damals formulierte er: „Wer sich gegen unser Recht stellt und sich mit selbst erklärten Staatsfeinden und verfassungsschutzbekannten Rechtsextremisten gemein macht, der kann sich nicht mehr glaubwürdig auf Demokratie und Freiheit berufen.“ So wurden nonchalant demonstrierende Bürger, die für ihre Grundrechte eintraten, gezielt und höchstamtlich aus dem Recht gestellt, weil sich ihnen möglicherweise auch Personen angeschlossen hatten, die vom Bundespräsidenten erkannt wurden als „selbsterklärte Staatsfeinde“ (man wundert sich, warum solche in der wehrhaften Demokratie noch frei herumlaufen durften) und „verfassungsschutzbekannte Rechtsextremisten“ (lt. Grundgesetz hat auch ein Rechtsextremist das Recht auf Demonstrations- und Meinungsfreiheit, solange er keine nach Strafgesetzbuch bewehrten Handlungen begeht – zudem ist es der Regelfall, dass einfache Bürger nicht über den erkennungsdienstlichen Apparat des Bundesamtes für Verfassungsschutz verfügen).

Steinmeier selbst allerdings hat keine Probleme, sich mit vergleichbaren Gruppen gemein zu machen. Seine Affinität ist eingestanden zu einer Agitprop-Musikergruppe, die Deutschlands Polizisten als „Bullen“ entmenscht, Zeilen gröhlt wie „Ich mach mich warm, weil der Dunkelheitseinbruch sich nähert, die nächste Bullenwache ist nur einen Steinwurf entfernt“ oder der zur „Staatsgewalt“ folgende Zeile einfällt: „Denn was ihr könnt, das können wir schon lange, und wir geben erst recht jetzt noch nicht auf. Wir stellen unseren eigenen Trupp zusammen und schicken den Mob dann auf euch rauf! Die Bullenhelme, die sollen fliegen, Eure Knüppel kriegt ihr in die Fresse rein! Und danach schicken wir euch dann nach Bayern, denn die Ostsee soll frei von Bullen sein!“ 

Für Steinmeier stellt sich offenbar nicht gegen „unser Recht“, wer Überfälle auf Polizisten und Gewalt gegen Polizeistationen propagiert – sehr wohl aber, wer als friedlicher Bürger ohne Berührungsängste demonstriert, weil es um eine Sache und nicht um ein politisches Bekenntnis geht. Deshalb wird Steinmeier grundsätzlich. „Wenn ich sehe, dass Grundsätzliches ins Rutschen gerät, werde ich mich zu Wort melden und für unsere Grundwerte streiten“, begründete der Sozialist damals Unterstützung wie Ablehnung und vereinnahmte damit „unsere Grundwerte“ als Grundsätze, die zu definieren bestenfalls er selbst imstande war, weil sie nur seinem ganz persönlichen Denken entstammen können.

Wenn aber „Grundwerte“ zu „Grundsätzen“ werden, dann wird ein ethisch-moralischer Handlungsrahmen zu einem politisch-ideologischen Handlungsauftrag, der nichts mehr mit dem zu tun hat, was im Grundgesetz der Bundesrepublik als zum Wohle des Bürgers zu schützender Werterahmen niedergelegt ist, sondern nun sogar als Auftrag des Grundsatzes gegen das Wertesystem des Grundgesetzes gerichtet sein kann. Und an dieser Stelle sind wir dann wieder dort, wo die sozialistische Studentenbrigade in ihrer lebensfremden Echokammer schon zu Steinmeiers Studentenzeit ihren radikalen Traum vom sozialistischen Kollektiv gepflegt hat.

Die geistige Unbeweglichkeit des Ideologen

Der amtierende Bundespräsident ist ein klassisches Beispiel für einen Menschen, dessen geistiger Entwicklungsprozess sich ab einem bestimmten Zeitpunkt mit der intellektuellen Weiterentwicklung schwertut. Er ist geprägt von der sektiererhaften, westdeutschen Sozialismusverehrung, die in den kollektivistisch dominierten, studentischen Kreisen jener Zeit in der westlichen, parlamentarischen Demokratie einen Erfüllungsgehilfen des US-Kapitals erblickte und damit über die Wall-Street-Legende unausgesprochen das bereits von den nationalen Sozialisten gepflegte Narrativ vom „Weltjudentum“ als eigentlichem Strippenzieher des Kapitalismus und dessen imperialistischem Weltherrschaftsanspruch zu erkennen meinte.

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Die verlorene Unschuld der „Letzten Generation“
Der Blick nach Osten war in diesen Echokammern stets über den „antifaschistischen Schutzwall“ hinaus geprägt von klammheimlicher Bewunderung für eine Welt, deren real existierender Sozialismus zwar noch Mängel aufweisen mochte, aber die in der marxistisch-mechanistischen Vorstellung historischer Gesetzmäßigkeiten dann doch jenen vorgeblich unvermeidbaren Progressivismus repräsentierte, der dem kommunistischen Ideal eines im Gleichschritt beglückten Kollektivs näher war als jedes staatlich unsteuerbare Modell auf der Grundlage freier Selbstbestimmung und marktwirtschaftlicher Dynamik.

Es ist die Tragik solcher Entwicklungsprozesse und ihrer Träger, die Welt nur in den eigenen Kategorien denken zu können. So erkannte Steinmeier 2019 immerhin in einer Rede, dass jener antifaschistische Schutzwall des real existierenden Sozialismus als „Mauer“ ein „Schandmal aus Beton und Stacheldraht ist, das so viel Leid und Unglück über so viele Menschen gebracht hat“. Denn so viel Wendigkeit musste sein, um nun die anti-sozialistischen Aufstände, die zum Untergang des real existierenden Sozialismus in der DDR führten, im Sinne des eigenen sozialistischen Narrativs einvernehmen zu können.

Kein deutsches Volk – nur Internationalismus

„Der Ruf ‚Wir sind das Volk‘ schallte durch die Wohnzimmer, im Westen genauso wie im Osten. Und allen, die das sahen, im Westen wie im Osten, war klar: Hier war etwas ganz Großes im Gange“, setzte Steinmeier seine Geschichtserzählung seinerzeit fort. Er umschiffte geschickt den Wandel der antisozialistischen Parole von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“, denn spätestens mit dieser Dynamik wurde der Revolutionsprozess in der DDR auch für den West-Sozialisten schmerzhaft. Steinmeiers Erzählung von dem, was 1989 zum Ende der DDR führte, ist nicht der Wunsch nach nationaler Einheit – auch nicht nach dem Wohlstand der Deutschen jenseits der Mauer und der Selbstbestimmung, die das BRD-System damals noch vom DDR-Kollektivismus unterschied. Für den Mann, der den Nationalstaat, den er repräsentiert, als nationalistisch verachten muss, steht fest: „Die friedlichen Revolutionäre suchten den Weg nach vorn, in ein offenes Europa, heraus aus der Erstarrung, heraus aus der Isolation durch schwer bewachte Grenzen. Demokratie und Freiheit haben damals gesiegt – nicht Nationalismus und Abschottung!“

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Man darf – nein, man muss feststellen: Steinmeier hat die Intention der Revolution von 1989 nicht begriffen. Vielleicht auch will er es nicht. Wer damals, ab dem Dezember 1989, als „Wessie“ viele Tage, Wochen und Monate in der Noch-DDR zugebracht hat, der konnte schnell erfahren, dass es vor allem anderen die nationale Klammer gewesen ist, die nach über 40 Jahren gewaltsamer Trennung ihre Renaissance suchte. Sie verband sich mit dem Wunsch der Überwindung dessen, was in der DDR die vorangegangenen Jahre die Menschen um die Möglichkeit der Selbstentfaltung gebrachte hatte. Steinmeiers Weg „in ein offenes Europa“ spielte dabei nicht die geringste Rolle – es war der Weg in ein gemeinsames Deutschland, in dem die Wege in ein offenes Europa vor allem durch ungehinderte Reisefreiheit gewiesen wurden.

Diese nationale Euphorie, die es für Steinmeier und seine Sozialisten nicht geben darf, fand ihren Höhepunkt in den Deutschland-Fahnen-schwenkenden Massen vor allem junger Menschen auch aus der früheren BRD anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft des Jahres 2006 – sie war damals schon jenen ein Graus, denen eine deutsche Nation ein Graus ist. Und sie fand ihr jähes Ende, als Merkel als sozialistischer Kanzler der Republik 2013 einem Mitstreiter die Deutschlandfahne entriss und diese achtlos in die Ecke warf.

Was ist „unsere“ Demokratie?

Die Frustration, die heute, über dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung, sich vor allem in der Bevölkerung jener Bundesländer spiegelt, die bis 1990 DDR waren, findet ihren maßgeblichen Ursprung darin, dass es ihnen nach der Befreiung von der sowjetischen Fremdbestimmung nie wirklich vergönnt war, aufrechte und ehrliche Deutsche sein zu dürfen. So, wie Steinmeier mit seiner westsozialistischen Vita mental die Überwindung der deutschen Nation längst abgeschlossen hat, selektiert sich auch sein Demokratiebegriff aus einer Quelle, deren demokratisches Verständnis mehr als fragwürdig ist.

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Es darf nicht verblüffen, wenn Steinmeier immer wieder von „unserer“ Demokratie spricht und „die Demokratie“ bestenfalls dann gelten lässt, wenn diese zuvor als „unsere“ definiert wurde. Demokratie ist für Steinmeier nicht der pluralistische, kontroverse Meinungsstreit, wie ihn die bürgerliche Regierungslehre begreift und wie ihn das deutsche Grundgesetz festschreibt. Demokratie ist für Steinmeier etwas, in dem alle gleichförmig dem hinterhermarschieren, was eine gefühlte Elite als zwangsläufig, alternativlos und damit deterministisch begreift. „Unsere Demokratie“ ist eben nicht „die Demokratie“, in der auch die radikal abweichende Meinung das selbstverständliche Recht hat, für ihre Positionen einzutreten und für sie zu werben. Wird es gewagt, dem aufgesetzten Konsens zu widersprechen, leitet sich in Steinmeiers Welt der staatliche Untergang ein. „Neue Mauern haben sich in unserer Gesellschaft aufgetan – Mauern, die sich auch in Wahlergebnissen widerspiegeln“, stellte er 2019 fest, als nun auch auf dem rechten Flügel eine nach seinem Verständnis zu radikalen Positionen neigende Partei in die Parlamente eingezogen war. 

Die Tatsache, dass seit 1989 durch entscheidenden Einfluss seiner SPD eine linksextremistische Partei in den Parlamenten sitzt, die noch dazu die Verantwortung trägt für den Tod zahlreicher Menschen, die sich ihrem Gewaltsystem widersetzten oder ihm zu entfliehen suchten und die selbst die Verantwortung trug für jene Mauer, die Steinmeier pflichtschuldig und wendig noch zu verdammen sich veranlasst sah, war für den Sozialisten zu keinem Zeitpunkt Anlass zu ähnlichen Behauptungen. Des Bundespräsidenten Demokratievorstellung beginnt bei jenen gegen den verfassten Rechtsstaat gerichteten Bestrebungen solcher aus dem Milieu der Antifa stammenden Agitprop-Barden und endet irgendwo im äußeren linken Flügel der Union. Jene gut 40 Prozent, die heute regelmäßig den Gang zur Wahlurne verweigern, weil ihnen das Haltungsdiktat der fälschlich als Konsensdemokratie bezeichneten Einheitsgesellschaft wider ihr pluralistisches Selbstverständnis geht, findet in Steinmeiers Demokratie nicht statt.

Brandmauern gegen die Unangepassten

Gegen jene Nicht-Konsensualen, die Steinmeier im Geiste längst abgespalten hat von seinem Wir, das als „unser“ jede seiner leeren Reden füllt, gilt es, jene „Brandmauern“ zu errichten, mit denen sich die sozialistische Gesellschaft gegen ihre Kritiker zu schützen sucht: „Wir müssen unsere Demokratie schützen und verteidigen, wir müssen wehrhafter werden, nach außen ebenso wie nach innen. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Demokratie und ihre Institutionen geschwächt und ausgehöhlt werden von den Feinden der Demokratie!“

So formulierte Steinmeier das „Grundsätzliche“ seines Verständnisses von einem Staat in kollektiver Einigkeit jüngst. Auch hier wieder geht es nur um „unsere“ Demokratie – nicht um die des Grundgesetzes, nicht um die der pluralistischen Staatstheorie. „Unsere“ Demokratie gilt es zu schützen – jene Demokratie, in der ein staatlich verordneter Konsens die Richtung vorgibt, an die sich alle zu halten haben. Tun sie es nicht, dann muss nicht nur „unsere Demokratie“ gegen sie, die im präsidialen Verständnis unmittelbar zu „Feinden der Demokratie“ mutieren, geschützt werden. Nein, diese Schutznotwendigkeit greift nicht nur für die Idee, die vielleicht noch ihren Ursprung im Grundgesetz finden könnte – sie greift auch für die „Institutionen“, welche zu definieren vermutlich ein höchst unterhaltsames Unterfangen wäre, weil sie vom Staatsorgan bis zur staatstreuen NGO der sogenannten Zivilgesellschaft oder den staatsfinanzierten Medien alles umfassen, was der Durchsetzung der „Grundsätze“ dienlich ist.

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Hier mag zudem wer will die Frage stellen, wer eigentlich die Demokratie und deren Institutionen, für die 1989 im historischen Mitteldeutschland die Menschen revoltiert hatten, längst ausgehöhlt und geschwächt hat. Schon allein die Vorgänge um die von den „Institutionen des demokratischen Staats“ nicht nur aus Unfähigkeit manipulierten Wahlen in der Bundeshauptstadt und die von den dort Verantwortlichen gestarteten Versuche, nicht demokratisch legitimierte Parlamente über die Zeit zu retten, sprechen Bände. Dort aber, wo es konkret wird mit dem Angriff auf die Demokratie, hält sich Steinmeier zurück. Lediglich ein „es wäre überhaupt nicht klug, das zu kommentieren, bevor das Verfassungsgericht Gelegenheit hatte, eine abschließende Entscheidung zu fällen“, entringt sich seinem sonst so kämpferischen Gestus.

Dieser Bundespräsident, dessen Reden so emotionsleer sind wie seine Gesten, hat eine Agenda. Und so öffnet sich neben dem verzweifelten Versuch eines Politbürokraten, und sei es nur als Begründer einer allgemeinen Dienstpflicht einen Weg in die Geschichtsbücher zu finden, auch ein weiterer Aspekt des gänzlich deplatzierten Rufs nach der sozialen Rekrutierung anstehender und künftiger Geburtenjahrgänge.

Wer ein soziales Pflichtjahr einführt, der erhält den unmittelbaren Zugriff auf jeden Bürger, den er als Person erfassen, nach möglichem Einsatz und am Ende auch nach seiner staatskollektiven Eignung werten kann. Das soziale Pflichtjahr öffnet dem Staat die Chance, durch begleitende Maßnahmen die kollektivistische Indoktrination zwischen Schulabschluss und Weiterbildung zu schalten, wenn verpflichtende „staatsbürgerliche Angebote“ begleitend neben den sozialen Dienst gestellt werden. Und so mag das, was scheinbar als harmlose, ja sozial verantwortliche Tat daherkommt, in seiner eigentlichen Intention ganz anderen Zielen folgen dann, wenn statt des Füreinander ein kategorisches Miteinander in den Mittelpunkt gestellt wird. Wenn es, wie der amtierende Bundespräsident es begründet, eben nicht um den Dienst am Nächsten geht, sondern darum, einen „Zusammenhalt wiederherzustellen“, den er und seine woke-sozialistischen Grundsätze zuvor zerstört haben.

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