Tichys Einblick
Von Ofarim über Mützenich und so weiter

Das Mimimi der Opferrolle als Popularitätswährung und Weg in die Radikalisierung

Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS), welches die medizinische Wissenschaft als Verhaltensmerkmal bei manchen Kindern und Jugendlichen als „Störung“ identifiziert, findet als Mimimi-Syndrom der öffentlichen Opferrolle zunehmend auch Verbreitung bei Erwachsenen.

Blockade einer Berliner Autobahnabfahrt durch Klimaextremisten am 10. Oktober 2022.

IMAGO / Die Videomanufaktur

Vor einem Jahr rockte der mäßig erfolgreiche Rockmusiker Gil Ofarim, bürgerlich Gil Doron Reichstadt, die Republik, als er in den (a)sozialen Medien „viral“ gehen wollte mit dem Vorwurf, ein Leipziger Nobelhotel habe ihn nicht einchecken lassen, weil er, ein nach eigener Aussage „säkularer Jude“, den Davidstern auf der Brust getragen habe. Ihm sei empfohlen worden, den Stern „einzupacken“. Das öffentliche Mimimi schien zu funktionieren: „Spontan“ rotteten sich vor dem Hotel rund 600 Protestanten (m/w/sonstwas) zusammen, um diesen ostdeutschen Antisemitismus öffentlich anzuprangern und ihre Solidarität mit dem vermeintlichen Opfer zu erklären.

Dumm nur, dass der beschuldigte Hotelangestellte gänzlich un-woke nicht bereit war, das Büßerhemd überzustreifen und Anzeige gegen Reichstadt wegen Verleumdung erstattete. Auch gegen das allgegenwärtige Verleumdungs- und Hetzgeschwader, dass in den (a)sozialen Medien über Mann und Hotel hergefallen war, richtete sich eine Anzeige. Unabhängig davon leitete die Staatsanwaltschaft gegen den Hotelmitarbeiter Ermittlungen wegen „Volksverhetzung“ ein – wobei sich nicht erschließen will, wie ein Rezeptionist „das Volk“, welches nicht anwesend war, „verhetzt“, wenn er tatsächlich im Gespräch Mann zu Mann sein Gegenüber wegen eines Davidsterns gemaßregelt haben sollte. Beleidigung mag ja angemessen sein – aber „Volksverhetzung“ wäre es erst, wenn überhaupt, durch das „virale“ Mimimi des vermeintlichen Opfers geworden.

Wie auch immer: Die Staatsanwaltschaft prüfte und vernahm Zeugen und stellte den Vorgang nach. Ergebnis: Auf den Bildern der Kamera am Hotelempfang ist auf Gils Brust kein Davidstern zu erkennen. Entsprechende Zeugen fanden sich auch nicht, also stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den Hotelmitarbeiter ein und erhob Anklage gegen das vermeintliche Opfer wegen Verleumdung und falscher Verdächtigung. Seitdem gibt es ein Anwalts-Pingpong mit dem Ergebnis, dass der ursprünglich auf den 24. Oktober angesetzte Prozessbeginn kurzfristig auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, um, wie es heißt, dem Eindruck der Benachteiligung des prominenten Angeklagten entgegenzuwirken. Dessen Anwälte fahren die Mimimi-Opferrolle nun in gerichtlicher Instanz fort. Hat es schon mit Gils „viralem“ Mitleidsversuch nicht geklappt, wird nun die angebliche Planung eines „öffentlichkeitswirksamen Schauprozesses“ behauptet, um die gerichtliche Klärung des Vorgangs zu behindern. – Nun, Reichstadt ist nicht Johnny Depp und die BRD nicht die USA, in denen ehelicher Zwist, Vorteilserlangung mittels Verleumdung und am besten noch irgendetwas mit Sex und sexueller Bedrängnis dann gern zu Urteilen führen, bei denen gegenseitig mehrere Millionen Dollar hin- und hergeschoben werden.

Das Aufmerksamkeitsdefizit als Mimimi

Auch wenn die Causa Ofarim, zu der sich der 1982 in München geborene Sohn des früheren Popstars Abi (bürgerlich: Abraham Reichstadt) und dessen späterer Frau Verena Brock möglicherweise durch einen Vorgang des Jahres 1966 hatte inspirieren lassen, zu einem klassischen Rohrkrepierer zu werden scheint, kann sie fast schon als symptomatisch genommen werden für ein Verhalten, bei dem C-minus-Prominente den jämmerlichen Versuch unternehmen, durch vorgebliche Opferrollen öffentliche Beachtung zu generieren. Wie sehr manch einer sich dabei versteigen kann – auch dafür mag der Fall Ofarim exemplarisch werden. Denn anders als 1966 wird ein nunmehr offenbar lediglich behauptetes Geschehen gepaart mit der gezielten Instrumentalisierung einer breit angelegten Empörungsindustrie, die bereit scheint, jeden noch so herbeigeholten Vorwurf umgehend mit Wahrheitsgarantie zu versehen und das große Fass aufzumachen, wenn dabei die richtigen Schlüsselbegriffe genutzt werden.

Sollte sich bewahrheiten, was das Vorgehen der Staatsanwaltschaft zu vermuten zulässt, dann hat der bestenfalls mäßig erfolgreiche C-Promi seinen Opferauftritt gezielt inszeniert und dabei ein höchstsensibles Instrumentarium missbraucht: den Vorwurf des Antisemitismus. Das auch unterscheidet diesen maßgeblich von jenem Vorgang des Jahres 1966, bei dem das mondän-spießige Hamburger Hotel „Atlantik“ dem unter dem Künstlernamen Ofarim (hebräisch für „Rehkitze“) auftretenden Ehepaar den Zutritt zur Hotelbar verweigert hatte. Dieses geschah allerdings seinerzeit nicht, weil das Erfolgsduo aus Abraham und seiner Frau, 1941 als Esther Zaied in Galiläa geborene Tochter einer syrisch-jüdischen Familie, israelisch-jüdischer Herkunft war, sondern wegen seinerzeit recht rückwärtsgewandter Bekleidungsvorstellungen, denen sich das Künstlerpaar nicht unterwerfen wollte.

Gil Reichstadt, der offensichtlich aus Popularitätsgründen diesen von beiden Künstlern auch nach der Trennung beibehaltenen Künstlernamen für sich adaptiert, hat, wie es der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sagte, „dem Kampf gegen den Antisemitismus einen Bärendienst erwiesen“. Ein Bärendienst, der leider ebenso symptomatisch wie für manche aus der weitgehend bedeutungslosen Klasse der Möchtegernpromis typisch ist. Denn bei diesen Menschen ist Aufmerksamkeit die eigentliche Währung ihrer Existenz. Sie leiden, quasi berufsbedingt, unter einem permanenten Aufmerksamkeitsdefizitsymdrom (ADS), welches die medizinische Wissenschaft als Verhaltensmerkmal bei manchen Kindern und Jugendlichen als „Störung“ identifiziert, und welches, wie wir feststellen dürfen, als Mimimi-Syndrom der öffentlichen Opferrolle zunehmend auch Verbreitung bei Erwachsenen findet.

Aufmerksamkeit ist die Währung des Biz

Die Ursachen dafür liegen auf der Hand. In der modernen Mediengesellschaft ist Aufmerksamkeit die entscheidende Währung, von der die individuelle Zukunft abhängt. Zumindest gilt das für jene Berufssparten, die auf öffentlichen Zuspruch angewiesen sind, weshalb sich dort gelegentlich auch die scheinbaren Trennlinien überlappen.

Erfolg hat, wer Karriere macht. Karriere macht, wer im öffentlichen Bekanntheitsranking ganz oben steht. Das gilt vor allem im Sport, im Showgeschäft und in der Politik – kurz: in dem, was wir als „Biz“ abkürzen. Beruht das Bekanntheitsranking bei Sportlern zumeist noch auf einer persönlichen, körperlichen Leistung und kann sie im Show-Biz zumindest gelegentlich noch durch individuelle Kreativität und künstlerische Präsenz geprägt sein, so befindet sich der Politiker gänzlich in der Abhängigkeit von Dritten, die durch ihr Berichten über ihn und das Angebot, ihm öffentlichen Raum zur Selbstdarstellung zu geben, die unmittelbare Grundlage zur Position im Ranking schaffen.

Wie sehr mittlerweile die Öffentlichkeitswirksamkeit das Verhalten aller drei Popularismus-Populationen prägt, wird deutlich, wenn Sportler politische Statements abgeben, die von ihnen qua Tätigkeitsfeld nicht erwartet werden und auch nicht erwartet werden sollten. Oder wenn, wie offenbar im Falle Ofarim, politische Reizbegriffe komplexer Vorgänge gezielt eingesetzt werden sollen, um damit eine nicht vorhandene, jedoch im Sinne des Selbstopfers zu reflektierende, künstlerische Aufmerksamkeit zu schaffen.

Unverkennbar vor allem aber ist der Opferrollenexhibitionismus, der Personen wie einem schwedischen Marketingprodukt oder den entsprechenden Pendants sogenannter Klimabewegungen weltweit mediale Währung zukommen lässt. Hier wird – zunehmend mehr auch mit einer gewissen kriminellen Energie präsentiert durch Kulturbeschmutzer und Klebewütige, die sich als Signal der Scheinrelevanz für die Dummies zudem noch weiße Laborkittel überstreifen – die Opferrolle zum multiplen Leiden. Gleich einem Jesus, der für eine sündige Menschheit deren Sünden kollektiv auf sich nahm, leiden die selbernannten Klimaaktivisten an der Welt und an der Menschheit an sich – vor allem aber an sich selbst, weshalb sie in der Expansionsspirale des Exhibitionismus der Aufmerksamkeitserhaschung zunehmend radikal auftreten müssen, um mit dem nächsten Adrenalin-Kick ihr ADS zu füttern und gleichzeitig das mediale Aufmerksamkeitskonto mit weiteren virtuellen Punkten zu füllen, die sich über Spenden und staatliche Unterstützung in Bares umrubeln lassen.

Der ADS-Gesteuerte in der Politik

Fast schon klassisch als ADS-gesteuertes Exemplar des Homo Partium, des Parteienmenschen, ist jener Sozialdemokrat, der gegenwärtig im Gesundheitsministerium mit den Händen wirre und verwirrende Thesen in die Welt wedelt. Er hat seine Position ausschließlich der Tatsache zu verdanken, dass ihm die öffentlichen Auftritte in den Medien eine Popularität zugedichtet hatten, unter der die fachliche Expertise in der Bedeutungslosigkeit verschwand. Je weniger nun das Thema seiner Popularisierung angesichts bedeutungsvollerer Themen den medialen Betrieb der Aufmerksamkeitsschöpfung bestimmt, desto energischer plagt das ADS-gesteuerte Verlangen nach öffentlicher Beachtung – geprägt und bestimmt von der Angst, mit dem zunehmenden Verlust an öffentlicher Bedeutung seiner wichtigsten Währung verlustig zu gehen.

Jüngstes und aktuelles Beispiel dieser Mimimi-Kultur des ADS-Geplagten im Polit-Biz ist ein Mann namens Rolf Mützenich. Falls Sie ihn nicht kennen, ist dieses nachvollziehbar und entschuldbar. Er taucht in keinem medial-prognostischen Ranking auf, bleibt bei den Aufmerksamkeitsbörsen der sogenannten Talkshows zumeist außen vor und wird, sollte er tatsächlich einmal in die mediale Beachtung vordringen, in der Regel überlagert von jenen Konkurrenten wie Habeck, Baerbock und selbst Scholz, die über weitaus besser gefüllte Aufmerksamkeitskonten verfügen.

Die Opferrolle des Rolf Mützenich

Dieser Rolf Mützenich griff nun ebenfalls ganz tief in die Trickkiste der Opferrolle, um sein Aufmerksamkeitsdefizit ein wenig abzumildern. Anlässlich einer Veranstaltung der Regierungspartei SPD, die werbewirksam als „Debattenkonvent“ den Eindruck einer diskussionsfreudigen und kritikfähigen Partei vermitteln sollte, trat jener Mützenich mit der Behauptung in die Scheinwerfer des öffentlichen Lichts, er befinde sich auf einer „Terrorliste“ des demokratischen und derzeit bedrängten Staates Ukraine. Dieses wäre, sollte es so sein, durchaus bemerkenswert. Denn auch wenn Mützenich im Aufmerksamkeitsranking recht weit hinten rangiert, so ist er immerhin der Vorsitzende jener Fraktion, aus deren Reihen der Bundeskanzler gestellt wurde und die insofern die offizielle Politik der Bundesregierung weitgehend zu vertreten hat.

Wörtlich nun behauptete Mützenich: „Ich bin schon irritiert gewesen, dass ich von der ukrainischen Regierung auf eine Terrorliste gesetzt wurde mit der Begründung, ich setze mich für einen Waffenstillstand ein oder für die Möglichkeit, über lokale Waffenruhen auch in weitere diplomatische Schritte zu gehen. Auf dieser Grundlage, dass man auf diese Terrorliste der ukrainischen Regierung gekommen ist, hat man ja sozusagen dann auch Sekundärdrohungen bekommen.“

Zwar ist es eine Tatsache, dass ukrainische Stellen im Eifer des Gefechts und unter dem Druck der russischen Invasion im Sommer eine Liste mit Verbreitern von russischer Desinformationspropaganda erstellt hatten, auf der sich der erklärte Radikalpazifist Mützenich wegen seiner Dauerforderung nach Verhandeln statt Verteidigen fand. Doch nicht nur, dass die Distanz von Desinformant zu Terrorist ähnlich zu verstehen ist wie von Bekleidungsvorhalt zu Antisemitismus, so ist diese Liste zudem längst getilgt. Auch gibt es im bundesdeutschen Geflecht des politmedialen Komplexes Ähnliches. War es in der Ukraine ein „Zentrum gegen Desinformation des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine“, welches die vorübergehend veröffentliche Liste erstellt hatte, dienen dazu in der BRD Vereine wie „Correctiv“ oder von ehemaligen Stasi-Zuträgern betriebene Stiftungen, die die staatlich gewünschte und nicht selten auch finanzierte und gewünschte Entlarvung von „Desinformation“ betreiben oder sogar Listen von potenziellen Gefährdern von was auch immer erstellen.

Doch die Reaktion aus der Ukraine folgte dem Mützenich-Mimimi auf den Fuß. Andrij Melnyk, bis vor kurzem noch Botschafter des Landes in der Bundesrepublik und bekannt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, stellte umgehend fest: „Es gibt keine Terrorliste der ukrainischen Regierung. Hören Sie mal auf, sich als unschuldiges Opfer darzustellen.“ Oleh Nikolenko, Sprecher des ukrainischen Außenamtes, machte deutlich: „Die ukrainische Regierung führt keine Terrorliste. Und soviel ich weiß, gibt es in der Ukraine auch kein Verfahren gegen Rolf Mützenich.“

Von der Skandalisierung des Ich …

Da jedoch die Skandalisierung der Selbstveropferung das perfekte Instrument ist, um die angestrebte Opferrolle nicht nur aktuell breit zu platzieren, sondern über Längerfristigkeit zu einem echten Zugewinn auf dem Aufmerksamkeitskonto werden zu lassen, legte Mützenich dann auch noch einen drauf, dabei die Pawlowschen Reflexbegriffe gezielt platzierend.

Wenn nun, so der unter ADS leidende SPD-Fraktionsvorsitzende, „der Einsatz für einen Waffenstillstand“ Kriterium sei, um auf eine solche Terrorliste zu gelangen, dann müsse sich dort auch Antonio Guterres finden. Schließlich setze sich auch der Generalssekretär des Überregierungenvereins UNO für Diplomatie ein. Dann fiel das woke Zauberwort der Erregungskultur von der „Diskriminierung“, die er, Mützenich, empfinde und die all diejenigen treffe, die sich wie er selbst für eben diese Diplomatie einsetzten. Da zudem das Opfer nur dann als Opfer zu tatsächlicher Geltung gelangt, wenn es die Opferrolle kultiviert und manifestiert, unterstrich Mützenich dann noch seinen unverbrüchlichen Willen, im sachlich falsch und verniedlichend „Ukraine-Konflikt“ genannten Fall weiter für Diplomatie werben zu wollen. Das heiße nicht, dass er, Mützenich, „über die Köpfe der Ukraine mit Putin verhandeln will“, sondern dass er, Mützenich, „versuchen muss, in diesem komplizierten Gefüge des internationalen Raums danach Ausschau zu halten, ob es überhaupt ein kleines Fenster auch für diplomatische Initiativen“ gebe.

Nun ist in Sachen Russland-Überfall, von Mützenich als „kompliziertes Gefüge des internationalen Raums“ bezeichnet, dieses Ausschauen derzeit geklärt. Nicht nur, dass Russland einen Waffenstillstand gegenwärtig nur nutzen würde, um seine desolate Armeeaufstellung zu regenerieren – Voraussetzungen irgendwelcher diplomatischer Gespräche zwischen den unmittelbar Beteiligten muss es auch sein, dass zumindest die Möglichkeit eines Totalrückzugs Russlands aus den seit 2014 völkerrechtwidrig okkupierten Gebieten als Verhandlungsmasse im Raum steht. Diesen aber hat Putin mit dem Annexionsakt von ukrainischen Provinzen, über die er noch nicht einmal die militärische Kontrolle hat, definitiv ausgeschlossen, weshalb tatsächlich keinerlei Grundlage gegenwärtig anzustrebender Verhandlungen gegeben ist.

Mützenich verbreitet daher wider besseres Wissen oder in gezielter Faktenverdrängung eine Position, die noch dazu in eklatantem Widerspruch zu der von seiner Fraktion gestützten Bundesregierung steht. Verhandlungen, so wurde dort erkannt, machen erst dann Sinn, wenn Russland von seinen inakzeptablen Vorstellungen abzugehen bereit ist. Solange das nicht der Fall ist, steht das, was man einen Verhandlungsfrieden nennen könnte, nicht zur Debatte – auch dann nicht, wenn US-Präsident Joe Biden im verzweifelten Versuch, bei den Midterms ein paar wankende Republicans zu gewinnen, nun dem ukrainischen Präsidenten empfohlen hat, vom Grundsatz-Veto der Verhandlungen mit Putin abzugehen. Eine gewisse Ukraine-Müdigkeit könnte, so Biden, dadurch gestärkt werden, dass der Eindruck entstehe, die Ukraine sei grundsätzlich nicht zu Verhandlungen bereit. Das wiederum ist nicht der Fall – allerdings hat Selenskyj nachvollziehbar erklärt, dass Gespräche mit Russland keinen Sinn machten, solange dieses ukrainisches Territorium widerrechtlich als russisches behaupte.

… zur manischen Selbstüberschätzung

Bei Mützenich selbst wird zudem ein klassisches Merkmal der ADS-geplagten Opferrollenproduzenten deutlich: Jene Selbstüberschätzung, die das Ego in fast schon manischer Manier überhöht und in den Mittelpunkt eines Geschehens stellt, in dem es faktisch gänzlich unbedeutend ist. Der von seiner medialen Bedeutungslosigkeit geplagte Fraktionsvorsitzende stellt sich selbst vorbehaltlos in diesen Mittelpunkt seiner erdachten Opferrolle., indem er nicht von internationaler Diplomatie oder möglichen diplomatischen Aktivitäten der Bundesregierung spricht, sondern im klassischen Mimimi des ADS-Geplagten sein Ich in den absoluten Mittelpunkt stellt.

„Ich“ stehe auf der Terrorliste. „Ich“ bin irritiert. „Ich“ setze mich für Waffenstillstand ein. „Ich“ befinde mich in der Gesellschaft des UN-Chefs. „Ich“ werde diskriminiert. „Ich“ werde weiterhin für Diplomatie werben. „Ich“ werde nicht über die Köpfe der Ukraine mit Putin verhandeln. „Ich“ muss weiter versuchen, in diesem komplizierten Gefüge des internationalen Raums danach Ausschau zu halten, ob es überhaupt ein kleines Fenster auch für diplomatische Initiativen gibt.

Tatsächlich geht es Mützenich überhaupt nicht um die Ukraine oder um Russland oder um Frieden. Es geht ihm nur um sich selbst. Mit seiner angesichts der normativen Kraft des Faktischen anachronistisch anmutenden Pazifismus-Ideologie, in die er sich seit Beginn des Terrorüberfalls verrannt hat, geriet er, der ohnehin schon immer am Rande der medialen Beachtung unter dem auf Bundesregierung und auch die SPD-Vorsitzenden gelegten Fokus litt, nun offensichtlich in die panische Befürchtung, final auf dem Kontostand Null der öffentlichen Aufmerksamkeit zu landen. Die Selbststilisierung zum Opfer eines ukrainischen Staates mit Terrorlisten bediente offenbar die ohnehin die von russophiler Nostalgie geprägten Ressentiments des Mützenich derart adäquat, dass das ADS dieses Mannes eben dieser Opferrolle mit Selbstüberhebung nicht zu widerstehen vermochte.

Der Dreiklang des progressiv-depressiv-aggressiv

Mützenich ist bei dieser Hypertrophie des Aufmerksamkeitsmangels kein Einzelfall. Sie alle, die dem ADS der öffentlichen Bedeutung anheimfallen, sind gefährdet. Angefangen bei jenem wenig beachteten Künstler, der durch das Besetzen eines brisanten politischen Themenfelds jene sich ihm selbst zugemessene Popularität zu erreichen sucht, über das unerkannte und verkannte politische Genie bis hin zum Straßen- und Bilderkleber, unterliegen sie dem klassischen Dreiklang der Radikalisierung durch Selbstüberhebung. Sie durchlaufen die psychosozialen Phasen des progressiv – depressiv – aggressiv, starten mit einer für sie selbst gefühlt progressiven Vorstellung von sich selbst oder von der Welt, in die sie hineingeboren wurden. Die irgendwann unvermeidliche Erkenntnis, dass die progressive Idee als Ideal an der Realität des Wirklichen zu scheitern droht, führt in die Phase des Depressiven, die jedoch nicht den Erkenntnisfehler im Irrealen des gedacht Progressiven sucht, sondern bei jenen, die vorgeblich oder gefühlt eben diesem Progressiven im Wege stehen. Der Schritt in die Aggression ist dann ein kurzer – er sucht und findet sein Ventil in einem ersten Schritt in jener öffentlichen Anklage-Klage, die sich selbst zum Opfer feindlicher Mächte stilisiert und damit die zumindest geistige Radikalisierung des eigenen Ich legitimiert.

In den meisten Fällen entlarvt sich die ADS-gesteuerte Opferfunktion in der Wirklichkeit des Realen und der in der öffentlichen Wahrnehmung angerichtete Schaden bleibt am Ende überschaubar, weil individuell. Historische Beispiele wie die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) oder der „National Sozialistische Untergrund“ (NSU), die alle mit der Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit gestartet sind, belegen allerdings, dass es dabei nicht bleiben muss.

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