Tichys Einblick
Mitte oder Rand?

Die AfD steht am Scheideweg

In der Krise gewinnt die AfD nach einer Flaute wieder an Fahrt. Doch die radikalen Elemente in der Partei hat sie nicht abschütteln können. Einige Parteimitglieder verhalten sich janusköpfig bei politischen Fragen – oder vereinnahmen Erfolge für sich, die gar nicht die ihren sind.

MAGO / Bernd Elmenthaler

Das Jahr 2022 fing für die AfD nicht gut an: Als Jörg Meuthen im Januar als amtierender Bundessprecher der AfD den Rücken gekehrt hatte, sprach er davon, Teile der Partei stünden nicht mehr auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und er könne sie nicht mehr auf einen gemäßigten Kurs bringen. Dieser Eindruck verstärkte sich im März, als das Verwaltungsgericht Köln die Klage der AfD gegen die Einstufung als Verdachtsfall abwies, weil es „ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der Partei“ erkannt hatte.

Drei Monate vor der Landtagswahl in Niedersachsen standen die Zeichen in der AfD dann steil nach unten: Nach den Zitterpartien in Nordrhein-Westfalen und dem Saarland und unter dem Eindruck der Wahlen im Nachbarland Schleswig-Holstein, die die zerstrittene und skandalbelastete Landespartei mit nur 4,4 Prozent aus dem Landtag gebracht hatten, war kaum zu erwarten, dass der ebenfalls skandalgeschüttelte Landesverband in Niedersachsen mit dem weitestgehend unbekannten Stefan Marzischewski-Drewes den Wiedereinzug in den Hannoveraner Landtag schaffen könne.

Auch der Bundesparteitag in Riesa, bei dem sich ausdrückliche Gegner des offiziell aufgelösten, rechtsradikalen „Flügels“ wie der stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Norbert Kleinwächter nicht durchsetzen konnten, brachte keinen Wind unter dieselben.

Und doch gelang der niedersächsischen AfD bei der Landtagswahl vor wenigen Wochen ein Überraschungserfolg, der Einzug mit 10,9 Prozent der Stimmen in den Landtag. Marzischewski-Drewes erklärte das so: „Wir beschäftigen uns mit den Fakten, ideologiefrei. In der jetzigen Energiekrise ist nicht die Frage, ob Atomenergie sicher oder unsicher ist, es geht darum, den Blackout zu verhindern. Das haben die Menschen verstanden.“ Und weiter: „Wir sind nicht mehr zerstritten. Seit Mai sind wir geschlossen – auch auf Bundesebene.“

Man wird sicher einwenden können, dass es auch bei ideologiefreier Betrachtung darauf ankommen dürfte, dass Atomenergie sicher ist, ein Blackout aber natürlich ebenfalls katastrophale Folgen hätte. Nur was hat die Energiepolitik der Bundesregierung mit der Landespolitik zu tun? Und was meinte Marzischewski-Drewes vor dem Hintergrund des Bundesparteitages damit, man sei nicht mehr zerstritten?

Einen Eindruck von der Art dieser neuen Einigkeit hat etwa der renommierte Medienrechtsanwalt Joachim Steinhöfel gewonnen, der bis zum Parteitag die AfD-Spitze im Parteiausschlussverfahren gegen den ehemaligen Brandenburger Fraktionschef Andreas Kalbitz vertreten hatte: Der neu gewählte Vorstand stehe dem Ausschluss von Kalbitz, „mindestens zurückhaltend gegenüber“ oder würde ihn wohl „gern rückgängig machen“, schrieb Steinhöfel an die Bundesgeschäftsstelle der Partei und legte prompt das Mandat für die AfD nieder. Der brandenburgische Landtagsabgeordnete Kalbitz wird in dem Verfahren von dem Essener Rechtsanwalt Andreas Schoemaker vertreten, der regelmäßig Personen vertritt, denen eine gewisse Ferne zum Grundgesetz unterstellt wird.

Kalbitz, gegen den die Staatsanwaltschaft ermittelt hatte, weil er 2020 den kommissarischen Fraktionschef Dennis Hohloch bei einer Begrüßung in den Fraktionsräumen des Landtags derart geschlagen hatte, dass dieser mit einem Milzriss kurzzeitig auf der Intensivstation behandelt werden musste, soll bei der Aufnahme in die AfD verschwiegen haben, dass er zuvor Mitglied der rechtsradikalen Partei Die Republikaner sowie der neonazistischen Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) war.

Kalbitz habe, so berichtet die Zeit, die Mitgliedschaft erst bestritten und dann behauptet, diese angegeben zu haben. Als Zeuge dafür, dass er dies nicht getan und die Parteifreunde darüber belogen hatte, wurde in einem Bericht des Spiegel Norbert Kleinwächter genannt. Eben jener – wie Kalbitz in der AfD Brandenburg beheimatete – Abgeordnete, der sich auf dem Riesaer Bundesparteitag als Bundessprecher beworben und einen gemäßigten Kurs beschworen hatte. Und unterlag.

Ob sich Niedersachsen als ein Ausreißer oder echte Trendumkehr für die in ihren Anfangstagen als Professorenpartei – was ja nicht schlecht sein muss – bespöttelte AfD erweisen wird, werden die nächsten Wahltermine zeigen. Neben der Landtagswahl in Bremen am 14. Mai 2023 sind das vorläufig die Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Herbst nächsten Jahres.

Vorläufig? Zum zweiten Mal in der bundesdeutschen Geschichte könnte die feste Abfolge der Wahltermine unterbrochen werden. Nämlich dann, wenn der Berliner Landesverfassungsgerichtshof bei seiner für den 16.11. anberaumten Verkündung einer Entscheidung im Wahlprüfungsverfahren die Berliner Landtags- und Kommunalwahlen vom 26.09.2021 für ungültig erklärt. Je nachdem, ob und mit welchem Inhalt einer der 35 Wahlbeschwerdeführer gegen die Entscheidung vorgeht, könnte dann schon im Frühjahr in Berlin noch einmal gewählt werden müssen. Und dort könnte sich auch die weitere Zukunft der Partei entscheiden.

Ein Samstag im Oktober. Das alte Zehlendorfer Rathaus ist weitläufig durch Polizeikräfte abgeriegelt, ein paar Demonstranten rufen „Ganz Berlin hasst die AfD!“, während sich der Berliner Landesverband mit etwa 250 Teilnehmern zum ersten Mitgliederparteitag seit Jahren trifft. Der Berliner Landesverband gilt ebenfalls als hoch zerstritten, gerade hier prallten in der Vergangenheit bürgerliche und extremistische Kräfte immer wieder aufeinander. So auch bei der letzten Vorstandswahl im März 2021, als mit der Bundestagsabgeordneten Beatrix von Storch und der Landtagsabgeordneten Kristin Brinker zwei zerstrittene Frauen gegeneinander antraten.

Nach zwei unentschiedenen Abstimmungen sowie einer ohne erforderliche Mehrheit setzte sich Brinker denkbar knapp mit zwei Stimmen Mehrheit gegen die stellvertretende Bundesvorsitzende der AfD im Bund durch – und dies nur durch die Unterstützung des offiziell aufgelösten „Flügels“, des Lagers um Björn Höcke und Andreas Kalbitz. Brinker war im Jahr zuvor als stellvertretende Vorsitzende der Abgeordnetenhausfraktion zurückgetreten, nachdem der Parlamentarische Geschäftsführer Frank-Christian Hansel ihr vorgeworfen hatten, ein Gutachten zu den Fraktionsfinanzen „manipuliert“ zu haben.

Unterstützung hatte Brinker seinerzeit bereits von dem AfD-internen politischen Schwergewicht Gunnar Lindemann erhalten, der neben Kochsendungen auf Youtube vor allem mit seiner Nähe zu Russland aufgefallen ist und ebenfalls dem extremistischen Lager in Berlin zugerechnet wird. Nach dem denkbar knappen Erfolg als Landesvorsitzende wurde Brinker wenige Monate später zur Spitzenkandidatin für die Abgeordnetenhauswahl 2021 gewählt, bei der die AfD-Fraktion sich von 25 auf nunmehr 13 Abgeordnete nahezu halbierte.

Umso gelegener musste es da erscheinen, dass der parteilose Berliner Abgeordnete Marcel Luthe unmittelbar nach der als „Berliner Chaoswahl“ bekannt gewordenen Farce die Anfechtung der Wahl erklärte und seither umfangreich und detailliert die mannigfachen Wahlfehler aufgearbeitet und vor das Verfassungsgericht gebracht hat. Nachdem Luthe als einziger die Originalprotokolle aus allen Wahllokalen angefordert hatte, nahm ein Team junger Journalisten von Tichys Einblick die Digitalisierung der Akten vor und deckte gemeinsam mit Luthe weitere Unfassbarkeiten auf. Und auf die stützte sich nun der Berliner Verfassungsgerichtshof, als er am 28. September 2022 in der mündlichen Verhandlung über die Wahlanfechtung erklärte, er halte eine Wiederholung der gesamten Wahl für notwendig.

Den politischen Lohn für diese Arbeit reklamierte auf dem Landesparteitag dann jedoch Brinker für sich: „Und deshalb wurde auch unser Einspruch vor dem Verfassungsgerichtshof verhandelt, weil er der weitestgehende war von allen Einsprüchen. Liebe Freunde, wir haben Geschichte geschrieben.“ In Wirklichkeit hatte die AfD janusköpfig gehandelt und einerseits als Landesvorstand die Wahl angefochten und andererseits durch den Brinker-Vertrauten und Landesvorstand Gunnar Lindemann der Anfechtung widersprochen.

Allerdings dürfte dieses Schmücken mit fremden Federn vor allem einer politischen Notwendigkeit geschuldet sein, denn Brinker wird sich im Frühjahr 2023 auch als Landesvorsitzende neu zur Wahl stellen müssen, wenn sie es denn bleiben will. Und dafür braucht sie jedes Quäntchen Unterstützung.

Während der Verfassungsgerichtshof am 28.09. seine Einschätzung verkündete, rückten Polizei und Staatsanwaltschaft wegen eines möglichen „Verstoßes gegen das Parteiengesetz sowie der Untreue“ in der Parteizentrale an und durchsuchten diese, nachdem wenige Wochen zuvor die Staatsanwaltschaft Berlin bestätigt hatte, gegen einen weiteren Unterstützer Brinkers wegen eines „Verstoßes gegen das Parteiengesetz sowie der Untreue“ zu ermitteln.

Wie die Berliner Morgenpost berichtete, soll dieser Unterstützer entgegen des Verbots der Annahme von Barspenden von mehr als 1.000 Euro einen erheblich höheren Betrag von einem Mitglied erhalten und nicht auf die Parteikonten eingezahlt haben. Stattdessen will er die Summe zur Hälfte für seinen persönlichen Wahlkampf und den Rest an den Spender zurückgegeben haben, streitet aber über seinen Rechtsanwalt jedes strafbare Handeln pauschal ab. Eben jener Rechtsanwalt Andreas Schoemaker, der auch Kalbitz gegen die Meuthen-AfD vertreten hatte.

Pikant ist dabei auch, dass der Spender bestreitet, je einen Cent zurückerhalten zu haben. Hinzu kommt, dass die Rückerstattung einer Parteispende einen Vorstandsbeschluss erfordert hätte, also leicht zu dokumentieren wäre.

Und auch die innerparteilichen Mehrheiten sichert sich der Unterstützer eher hemdsärmelig: Auch wenn die AfD im sehr sinnvollen Interesse der politischen Unabhängigkeit verbietet, dass ein Vorstandsmitglied für einen Abgeordneten arbeitet, sitzt er gemeinsam mit einem Mitarbeiter im sechsköpfigen Bezirksvorstand und beruft sich stets darauf, dass seine Parteifreundin Brinker von Anfang an gewusst habe, dass es „diese Sache mit der Barspende“ gegeben habe.

So schafft man Abhängigkeiten. Und Einigkeit. Aber wird das reichen, um bei einer Wahlwiederholung gewählt zu werden? Und ist das eine Alternative – im Sinne eines wirklich anderen Angebots?

„Wir beschäftigen uns mit den Fakten, ideologiefrei,“ sagte Marzischewski-Drewes. Das erfordert aber auch, auf persönliche Abhängigkeiten keine Rücksicht zu nehmen, sondern die eigenen Maßstäbe auch für sich selbst gelten zu lassen. Daran wird sich die Frage entscheiden, wo die Partei 2023 verortet sein wird: in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft oder am Rand, bei den Leistungsträgern oder den Schwindlern.

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