39 Parteien wollen bei den bevorstehenden Wahlen Stabilität in Israels fragiles politische System bringen. Aber eigentlich geht es nur darum: schafft Benyamin Netanyahu – von den meisten verehrend oder zynisch Bibi genannt – eine Rückkehr zur Macht mit einer tragfähigen Mehrheit. Alle Umfragen bezweifeln das. Eine sechste Wahl droht damit schon im nächsten Jahr. Dabei brummt Israels Wirtschaft und aktuell wurde ein historischer Vertrag unterzeichnet: Beirut und Jerusalem einigen sich vertraglich auf eine Aufteilung grenznaher Gasfelder im östlichen Mittelmeer.
Am vergangenen Wochenende hat Israels langjähriger Ministerpräsident Benyamin Netanyahu im Stillen seinen 73. Geburtstag gefeiert. Viele wünschen ihm einen angenehmen Ruhestand, damit wäre das größte Hindernis für eine stabile Regierung aus dem Weg geräumt. Die meisten seiner Widersacher inner- und ausserhalb des immer noch stärksten Likud-Blockes würden locker zu einer Regierung der nationalen Einheit zusammenfinden: ja, wenn Bibi freiwillig gehen würde. Er denkt aber nicht daran, er will es noch einmal wissen.
Netanyahu hat sich zweifelsfrei um Israel verdient gemacht. Er ist der dienstälteste Ministerpräsident in der jungen Geschichte des Landes. Unter seiner Führung ist Israel zu einem erfolgreichen OECD-Land gediehen, das Gas exportiert und eine ordentliche Aussenhandelsbilanz aufweisen kann. Dass Israel in diesem Jahr ein Wirtschafts-Wachstum von über sechs Prozent aufweisen kann, hat etwas mit seinen langfristigen Weichenstellungen zu tun. Ausserdem hat Israel unter Netanyahus Führung diplomatische Beziehungen mit vier weiteren arabischen Ländern unterzeichnet. Und die Beziehungen blühen und gedeihen. Bei allen Auseinandersetzungen muss das Land nicht mehr alleine um seine Existenz fürchten. Israel ist mit den USA im Rücken und inzwischen soliden Beziehungen zu mehr als einem halben Dutzend arabisch-muslimischen Ländern eine führende Macht im Nahen Osten. Seit 17 Monaten muss Netanyahu aber die Fäden als Oppositionsführer ziehen.
Grösseren Unmut erzeugen seine neuen potentiellen Koalitionspartner, die schon Sitz und Stimme im Parlament haben – aber bisher eben nur am Rande. Jetzt wollen sie ins Zentrum der Macht in Jerusalem. Es sind zwei ausgebildete Rechtsanwälte, die sich demokratischen Wahlen stellen. Aber sie wollen das Recht selbst bestimmen und von Demokratie halten sie wenig. Der 46jährige Itamar Ben Gvir wurde schon als 18jähriger vom obligatorischen Militärdienst freigestellt, weil er damals schon Ansichten vertrat, die mit dem Kodex der „Israel Defence Forces“ (IDF) unvereinbar waren. Seither hat seine Radikalität eher zugenommen. Stolz erzählt er, dass er bisher 53 Gerichtsverfahren überstanden hat, nie verurteilt wurde.
Der zweite im Bunde heißt Bezalel Smotrich (42), wohnt mit Frau und sieben Kindern in einem illegal gebauten Haus in Judäa, besser bekannt als Westbank und versucht wieder Justizminister zu werden. Selbst für den rechtsnationalen Netanyahu war das 2019 zu viel. Er ernannte damals lieber einen bekennenden homosexuellen Juristen zum Hüter des Rechts in Israel. Ben Gvir und Smotrich, beide ziemlich egoman, haben sich jetzt zur Partei der „Gläubigen Zionisten“ zusammengetan, die die Verbannung aller Araber, die gegenüber Israel illoyal sind, durchsetzen wollen. Die Definition von Illoyalität legen natürlich nur sie selbst fest. Dabei berufen sie sich auf das Recht der jüdischen Thora, dem Alten Testament.
Aber wie so oft in der Geschichte nutzen Radikale die Angst erzeugende aktuelle, aggressive Lage für ihre politischen Zwecke. Umfragen geben den „Gläubigen Zionisten“ mindestens zwölf von 120 Sitzen in der Knesseth, dem israelischen Parlament. Der amtierende Ministerpräsident Lapid lehnt jede Zusammenarbeit mit ihnen ab. Netanyahu, der noch bis kurzem jedem Fototermin mit Ben Gvir aus dem Weg ging, ist flexibler. Er weiß, er kann nur mit ihren Stimmen wieder an die Macht kommen. Wenn die Voraussagen zutreffen, hat das Netanyahu-Lager gemeinsam mit den beiden orthodoxen Parteien, die 16 Sitze einbringen, eine knappe Mehrheit von 62 Stimmen.
Das ist weit von einer stabilen Regierung entfernt. In der Westbank tobt seit April eine fast tägliche bewaffnete Auseinandersetzung mit palästinensischen Terroristen, die auf die Hauptstadt Jerusalem übergreift und zu viele Tote und Verletzte fordert – auf beiden Seiten. Der russische Überfall auf die Ukraine hat auch Israel erreicht. Kiev fordert die Lieferung der bewährten Luftabwehr-Raketen „Iron Dome“. Israel hat aber ein bedrohliches Syrien-Problem, das nur in Absprache mit Moskau auf kleiner Flamme gehalten werden kann. In dem seit elf Jahren geschüttelten Bürgerkriegsland versucht der Iran eine Basis für den Endkampf mit Jerusalem zu installieren. Dagegen geht Israel seit Jahren im Wochenrhythmus mit Luftangriffen vor – eben in Ansprache mit Moskau, das in Syrien Flugabwehr-Raketen stationiert hat. Diese werden auf Stand-by geschaltet, wenn die Israel Air Force im syrischen Luftraum agiert.
Vor diesem Hintergrund wird klar, wie dringend notwendig eine Regierung der nationalen Einheit wäre. Der amtierende Ministerpräsident Yair Lapid und seine Partner sind bereit. Aber die Bedingung ist eine Likud-Partei ohne Netanyahu. Es brodelt bereits unter der Likud-Decke. Wenn der Noch-Gefeierte keine klare Mehrheit und keine dauerhafte Regierung auf die Beine stellen kann, könnte der innerparteiliche Druck für Netanyahu zu groß werden. Für einen Wechsel ist es höchste Zeit. Andernfalls steht Israel eine sechste Wahl in absehbarer Zeit ins Haus.