Die Bundesministerien für Wirtschaft und Umwelt hatten eine Ablehnung der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke bereits vorformuliert, bevor eine Prüfung des Sachverhalts stattgefunden hatte. Das zeigen Recherchen der Welt und von Cicero. Nach Auswertung von 166 Dokumenten stand das Nein zu längeren AKW-Laufzeiten auch im Widerspruch zu Einschätzungen von Fachbeamten des Wirtschaftsministeriums.
Schon am 1. März 2022 hatte die verantwortliche Arbeitsgruppe im Umweltministerium einen „ersten Vermerk“ über die rechtlichen und technischen Hürden einer Laufzeitverlängerung erstellt. Bereits am Abend des 4. März lag den Staatssekretären im Wirtschaftsministerium (Patrick Graichen) und Umweltministerium (Stefan Tidow) ein fünfseitiger Entwurf zur Ablehnung der Laufzeitverlängerung vor.
Insbesondere Graichen und das Bundeswirtschaftsministerium hatten sich in der Vergangenheit immer wieder auf ein Gespräch mit den Betreibern der Atomkraftwerke bezogen, um Einwände abzuschmettern. Dieses fand jedoch per Videoschalte erst am 5. März statt. Zu diesem Zeitpunkt hatten beide Ministerien aber offenbar schon ihren Beschluss gefasst. Eine schriftliche Stellungnahme des für die Sicherheit der Energieversorgung zuständigen Präsidenten der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, traf laut Datensatz erst am 9. März ein.
Eine Eingabe des AKW-Betreibers EnBW vom 2. März, die sich positiv zum Weiterbetrieb äußerte, wurde von den Ministerien ignoriert, ebenso eine Bestätigung der EnBW-Sichtweise durch zwei Experten der Reaktorsicherheitskommission (RSK). Die Behauptung, es habe keine „ideologischen Denkverbote“ gegeben, wie die Ministerien später sagten, hält bei der Faktenlage nicht stand. Die Stimmen, die sich für die Laufzeitverlängerungen aussprachen, fanden bei Graichen und Habeck keinen Niederschlag.
Laut Welt hatten die Ministerien die Klimafreundlichkeit des AKW-Betriebs errechnet. Die CO2-Reduktion beliefe sich auf „etwa 25 bis 30 Millionen Tonnen“ im deutschen Strommarkt. Dieser Passus wurde aus dem Prüfungsvermerk vom 4. März wieder gestrichen, stattdessen behaupteten die Ministerien, dass nur von einem sehr geringen Anteil an der CO2-Reduktion auszugehen sei. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Menge, die laut Welt 20 Prozent des Einsparziels der Energiewirtschaft bis 2035 ausmacht.
Das Umweltministerium scheute sich auch nicht, auf unabhängige Sachverständige Druck auszuüben. Als der Technisch-Wissenschaftliche Geschäftsführer der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, Uwe Stoll, in der Welt Kritik an der Entscheidung übte, die Reaktoren nicht weiterlaufen zu lassen, reagierte das Ministerium mit einer schriftlichen Rüge. „Wir entscheiden, ob und ggf. welche Expertise wir für unsere Entscheidungen heranziehen“, schrieb der Abteilungsleiter Nukleare Sicherheit, Gerrit Niehaus. Was Wissenschaft ist, bestimmt die Behörde.
Statt auf Sachverstand setzten die Ministerien auf NGOs und deren Vertreter – etwa auf Hinweise von Greenpeace oder auf den Bundesverband Neue Energiewirtschaft. Deren Milchmädchenrechnung sorgte innerministeriell für Kritik. „Während wir das Ersatzkraftwerkegesetz in den höchsten Tönen loben und uns vom Weiterbetrieb von Kohle- und Öl-Kondensationsanlagen eine riesige Gaseinsparung erhoffen, sprechen wir dem Weiterbetrieb von AKW-Kondensationsanlagen diese Eigenschaft ab“, heißt es in einer Mail.
Doch auf solche Meldungen hörte man auf der obersten Behördenebene ebenso wenig wie auf andere Warnungen. „Die Frage ist, wollen wir uns im nächsten Winter wirklich auf den Erwartungswert vorbereiten oder im Sinne einer echten Krisenvorsorge nicht besser auf den Reasonable Worst Case“, mahnt derselbe Beamte an. Habeck und seine Vertrauten setzten jedoch auf die Propaganda und Zahlentricks, um die Debatte zu beeinflussen, statt auf ministerielle oder unabhängige Fachexperten zu hören.