Bis gestern schien alles auf die große Konfrontation zwischen der Volksrepublik China und den Vereinigten Staaten von Amerika hinauszulaufen. Jetzt – im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht – der Umschwung. Chinas starker Mann, gerade auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas in dritter Amtszeit quasi als Alleinherrscher bestätigt, stellt die bisherige Außenpolitik auf den Kopf. In einer Nation, in der Symbolik alles bedeutet, sind die neuen Zeichen nicht zu übersehen: Russland ist out – Amerika ist in. So zumindest ist eine ungewöhnliche Grußadresse zu verstehen, die Xi Jinping am 27. Oktober über den Pazifik gesandt hat.
Eine Friedensbotschaft an die USA
Offizieller Anlass der Friedensbotschaft: ein Galadinner des „National Committee on U.S. China Relations“, einer Organisation mit Sitz in New York, die sich seit 1966 um eine engere Zusammenarbeit der USA mit China – Volksrepublik ebenso wie Republik Taiwan – bemüht. Pekings starker Mann nutzte diesen Anlass, um ein Signal für friedliche Zusammenarbeit an den Konkurrenten zu schicken. Das unerwartete Friedensangebot kommt als Glückwunschbotschaft daher und könnte tatsächlich geeignet sein, die krisengeschüttelte Weltlage auf den Kopf zu stellen.
Da in einem gelenkten Staat wie der Volksrepublik nichts dem Zufall überlassen wird, legt zeitgleich auch das Propagandaorgan der Pekinger Führung einen 180-Grad-Schwenk hin. Die „Global Times“ macht die Grußbotschaft des Staatspräsidenten zum Aufmacher und leitet ihn mit einem symbolischen Foto ein, auf dem die amerikanische und die chinesische Flagge gleich groß und friedlich nebeneinander auf einem gemeinsamen Sockel stehen. Eine solche Symbolik war bis gestern noch undenkbar – und sie findet zeitgleich Anwendung für einen Artikel über die Beziehungen zwischen der VRC und Indien. Verschwunden ist zudem eine über Monate verbreitete, bewusst beleidigende Artikelreihe gegen die USA, in denen die Vereinigten Staaten als globaler Massenmörder und Kriegstreiber diffamiert wurden – und auch die „Taiwan-Frage“ scheint nun einer Annäherung zwischen den beiden Großmächten nicht mehr im Wege zu stehen.
Kurskorrektur auch in der Russland-Politik?
Wenig glücklich sein über diese Entwicklung kann Russlands Präsident Wladimir Putin. Er setzte bislang darauf, dass die Volksrepublik fest an Russlands Seite stünde. Doch offensichtlich hat der Leningrader die Signale aus Peking – und auch aus Neu-Delhi – nicht verstanden. Bereits auf dem Treffen der Shanghai-Gruppe in Samarkand hatte Xi sein Missfallen über das russische Vorgehen in der Ukraine deutlich zum Ausdruck gebracht. Ebenso wie Indien erwartet China von Russland, die kriegerischen Aktionen zu beenden und eine Verhandlungslösung zu suchen.
Das Fass zum Überlaufen gebracht hat offenbar der russische Versuch, mit herbeigefakten Atombombenplänen und Biowaffenlabors der Ukraine die nächste Eskalationsstufe einzuleiten. Entgegen früherer Zeiten, in denen die VRC Russlands Begründungen für den Terrorüberfall auf das Nachbarland ungeprüft als eigene Position übernommen hatte, ist ein entsprechendes Vorgehen hinsichtlich der aktuellen Moskau-Märchen nicht zu erkennen. Sowohl China als auch Indien haben Moskau gegenüber deutlich gemacht, dass sie jedwedes Atom-Abenteuer strikt ablehnen und die Verantwortung für eine atomare Eskalation an Russland festmachen werden.
Eine realistische Chance, das Ruder herumzureißen
Wenn nun die gemeinsame Verantwortung und der gemeinsame Friedenswille von VRC und USA als „Großmächte“ betont wird, bedeutet dieses auch: Russlands Aggression hat aus chinesischer Sicht ausgespielt. Zwar steht nicht zu erwarten, dass Peking den „Freund“ umgehend wie eine heiße Kartoffel fallen lassen wird – dazu sind die wirtschaftlichen Interessen vor allem an den Rohstoffen Sibiriens zu ausgeprägt –, doch Russland ist nun auch aus chinesischer Sicht auf den Status einer unberechenbaren Regionalmacht geschrumpft: ein ehemaliges Kolonialreich, das zunehmend mehr um sein Überleben und anachronistisch um seine verlorene Bedeutung kämpft.
Zudem hat Xi offensichtlich verstanden, dass Russland als militärischer Partner in einem möglichen Krieg gegen die USA ausgespielt hat. Dass nach der desaströsen Waffenschau Moskaus in der Ukraine nun auch der für Russland wichtige Export seines Kriegsgeräts zusammenbricht, wird zudem den Niedergang Russlands weiter beschleunigen – das haben die Analysten der VRC ebenso erkannt wie den langfristigen Einbruch des Energieexports, nachdem die Hauptabnehmer gezwungen waren, sich von den russischen Exporten zu lösen.
Wenn Xis Signal in Washington verstanden wird, könnte tatsächlich eine neue Phase nicht nur der bilateralen Politik zwischen den beiden verbliebenen Großmächten beginnen, sondern die gemeinsame Eindämmung des russischen Einflusses auch tatsächlich die Erde ein wenig friedlicher machen. Der unerwartete Schwenk des Roten Mandarins darf insofern in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden. Dem Angebot zur Kooperation zweier entscheidender Mächte auf Augenhöhe, die gegenseitig ihre unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen akzeptieren, wohnt die Chance der Abkehr vom gegenwärtig beschrittenen Weg der globalen Selbstdemontage der Menschheit inne.