Nichts scheint gegenwärtig so zu laufen, wie Wladimir Putin es sich vorgestellt hat. Nachdem er die vier teilbesetzten ukrainischen Provinzen in einem völkerrechtswidrigen Akt zum ewigen Besitzstand Russlands erklärt hatte, explodierte auf seinem Prestigeprojekt, der Brücke über die Meerenge von Kertsch, ein Lkw. Die Verursacher in russischer Lesart: ukrainische Geheimdienste.
Aus Rache griff der Kremlchef zur Syrisierung des Konflikts: Mit Drohnen iranischer Bauart zielt Russland seit bald zehn Tagen auf die Städte der Ukraine, dabei offenbar den Versuch unternehmend, die Versorgungslogistik zugunsten der Bürger zu zerstören. Eine Taktik, mit der der neue Befehlshaber Sergej Surowikin in Syrien zu traurigem Ruhm gelangt ist. Dort zerlegten russische Kampfjets und syrische Fassbomben ganze Stadtgebiete – einschließlich der historischen Altstadt von Aleppo. Jedoch ist die Ukraine nicht Syrien, wo sich die Aufständischen in den Städten verbarrikadierten – und die ukrainische Armee ist mit den begrenzten Mitteln der syrischen Rebellen nicht vergleichbar.
Sturmlauf gegen Bachmut
Es darf nicht wundern, dass die Versuche der Russen, die logistisch wichtige Stadt Bachmut im Donbass zu besetzen, bislang fehlschlugen. Laut Berichten von der Front sollen dort Wellen russischer Rekruten mit Unterstützung der sogenannten Wagner-Söldner und der Einheiten des Tschetschenischen Warlords Kadyrow Sturm auf Sturm laufen, ohne tatsächliche Geländegewinne zu verzeichnen. Das mutet an wie jene Knochenmühlen des Ersten Weltkriegs, in denen Soldaten reihenweise in unsinnigen Militäraktionen dahingemäht wurden – wobei nicht unterschlagen werden soll, dass auch die Ukrainer an diesem Frontabschnitt, der seit 2014 auf beiden Seiten befestigt worden ist, hohe Verluste haben sollen.
Im Norden, wo die Ukraine im September erhebliche Geländegewinne gemacht hat, scheint wiederum deren Vormarsch weitgehend zum Erliegen gekommen zu sein. Allerdings mag dieses auch der ukrainischen Militärführung geschuldet sein, die einerseits gezwungen ist, die eigenen Einheiten auf dem befreiten Gebiet derart zu sortieren, dass sie sowohl für weitere Offensiven einsatzfähig ist, als auch mögliche russische Gegenangriffe abwehren kann.
Panik in Cherson
Für die Besatzungstruppen scheint gegenwärtig die Cherson-Front im Südwesten zum größten Problem zu werden. Der dort von Putin eingesetzte „Gouverneur“ verbreitet über die sozialen Netzwerke Panik: Ein ukrainischer Großangriff stehe unmittelbar bevor. Sergej Surowikin, von Putin zum neuen Oberbefehlshaber des Ukraine-Überfalls eingesetzt, räumt ein, dass in Cherson einige „schwierige Entscheidungen“ anstehen könnten.
Die russische Verwaltung in der besetzten Stadt, die ihr Zentrum westlich des Dnjepr hat, soll bereits die Flucht ergriffen haben. Die überwiegend pro-ukrainische Bevölkerung, die noch im Frühjahr regelmäßig gegen die Besatzer demonstrierte, wurde zur „Evakuierung“ aufgefordert, damit die russischen Verteidiger keine Rücksicht auf zivile Opfer nehmen müssen.
Den dort stationierten Russen wurde bereits mitgeteilt, dass sie Cherson „bis zum Tod“ zu verteidigen hätten. Das zumindest hat der Okkupationschef Wladimir Saldo wissen lassen.
Der Tod wiederum könnte die Russen schneller ereilen, als ihnen lieb ist. Auch wenn die Ukraine gegenwärtig keine Informationen über eine mögliche Offensive im Südwesten mitteilt, sind bei der Befreiung sowohl der Region Charkiw im Norden als auch des rechten Ufers des Dnjepr bereits zahlreiche Russen ums Leben gekommen. Beobachter gehen zudem davon aus, dass die schlagkräftigen Divisionen der russischen Armee weitgehend aufgerieben sind. Sie werden aufgefüllt mit Überlebenden anderer Truppenteile, jenen frisch eingezogenen und schlecht bewaffneten Rekruten sowie sogar mit Kämpfern aus anderen Waffengattungen.
Da die westlich des Dnjepr stehenden Einheiten zudem weitgehend von der Versorgung abgeschnitten sind, scheint die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich einem ukrainischen Angriff entgegenzustellen, eher gering zu sein. Sequenzen in den Netzwerken zeigen regelmäßig russische Soldaten, die sich lieber in ukrainische Kriegsgefangenschaft begeben, als auf verlorenem Posten zu stehen.
Dabei leiden die westlich des Dnjepr stationierten Soldaten unter einem doppelten Problem: Einerseits ist ihre Versorgung durch die Zerstörung der beiden Brücken über den Strom ohnehin schon schwierig gewesen und nun durch die erhebliche Beeinträchtigung der Nutzung der Kertschbrücke annähernd zusammengebrochen – andererseits ist auch eine geregelte Zurückführung russischer Einheiten kaum noch möglich, da sie auf provisorische Pontonbrücken und Boote angewiesen sind. Die wiederum sollen aber auch von den zu evakuierenden Zivilisten genutzt werden. Sollte ein ukrainischer Angriff tatsächlich unmittelbar bevorstehen, so könnte dieser zu einem Überführungschaos führen, das alle Überlegungen der russischen Führung am absurdum führt.
Ein denkbarer Vorstoß nach Nikopol
Denkbar aber ist auch etwas anderes. Die Ukraine hat in den vergangenen Wochen bewiesen, dass sie flexibel agiert – und dabei russische Truppen auf falsche Fährten lockt, um in den dann ausgedünnten Gebieten erfolgreich zuzuschlagen. So stehen bei Militärstrategen Überlegungen im Raum, wonach die von Russland befürchtete Cherson-Attacke derzeit nur ein Bluff ist. Stattdessen könnte die Ukraine einen dritten Keil bilden, der östlich des Kernkraftwerks Saporischschjia nach Süden über Nikopol zum Asowschen Meer vorstößt. Dort käme der Ukraine eine weit ins Landesinnere greifende Bucht entgegen mit der Konsequenz, dass nicht nur die westlichen Einheiten Russlands vom Rückzug abgeschnitten, sondern selbst die Versorgung und der Rückzug über die Krim ernsthaft gefährdet wären.
Für welches Vorgehen sich die ukrainische Militärführung entscheidet, weiß sie vermutlich nur selbst. Beobachter gehen allerdings davon aus, dass mittlerweile im Kreml die Alarmglocken auf Rot stehen. Nach der Mobilisierung, die offenbar Hunderttausende vor allem junger männlicher Russen aus dem Land getrieben und vor allem demotiviertes Kanonenfutter an die Front gebracht hat, folgte nun durch Putin die Ausrufung des Kriegsrechts in den widerrechtlich annektierten Gebieten. Die unmittelbare Folge ist, dass die dortigen Besatzer nun erst recht einen Willkür-Freifahrschein im Vorgehen gegen die Ukrainer haben. Auch jene bereits erwähnten Zwangsevakuierungen und Umsiedlungen ließen sich rechtfertigen.
Noch dramatischer allerdings ist es, dass angesichts der Zwangsannexion die ukrainische Bevölkerung zum Kampf gegen das eigene Land gepresst werden könnte. Das wäre zwar ein weiterer, eklatanter Verstoß gegen jegliches Kriegsrecht – jedoch hat Putin bereits regelmäßig gezeigt, dass ihn internationale Regeln einer zumindest halbwegs zivilisierten Menschheit nicht im Geringsten interessieren.
Das Kriegsrecht wirkt auch nach innen
Offenbar soll diese Ergänzung des Dekrets prophylaktisch gegen zunehmende Widerstände im Russland selbst wirken. Dabei geht es nicht nur um den Unmut der von Zwangsrekrutierung bedrohten, ethnischen Russen und deren Familienangehörigen, die um das Leben ihrer Lieben bangen, sondern um den zunehmenden Widerstand der bislang vorrangig verheizten, kaukasischen und asiatischen Minderheiten.
In Russland, dessen Bewohner schon immer einem ausgeprägten Rassismus frönten, soll zwischenzeitlich das Misstrauen gegen „Nichtrussen“ derart groß sein, dass mittlerweile sogar Politiker die Aussetzung von Einbürgerungen und Anwerbung fordern. Die Ukraine wiederum hat sich zwischenzeitlich den Spaß erlaubt, die Freie Republik Tschetschenien völkerrechtlich anzuerkennen – nicht nur eine Spitze gegen Putin und Kadyrow, sondern durchaus ernst gemeinter Appell an die nichtrussischen Ethnien, den Aufstand zu wagen.
Der Terror gegen die Zivilbevölkerung
Putin selbst bangt offenbar nicht nur um sein Diebesgut, sondern realisiert zunehmend mehr, dass sein Abenteuer, das bisher Tausende von Menschenleben gefordert hat und dem Leningrader eine Top-Position in der Riege der größten Massenmörder der Geschichte sichert, sich wie eine Schlinge um seinen eigenen Hals legen könnte.
Unter diesem Aspekt scheint es denkbar, dass der KGB-Offizier angesichts der offensichtlichen Unmöglichkeit, die Ukraine, wie ursprünglich beabsichtigt, in Gänze „heim ins großrussische Reich zu holen“, zur Syrisierung greift und die Ukraine zurück in die Steinzeit bomben will. Zudem deutet sich mit dem avisierten Rückzug um Cherson an, dass der Schwerpunkt nun auf der Sicherung der ostukrainischen Eroberungen liegen soll. Das Motto: Sichern, was irgendwie zu sichern ist – zerstören, was nicht mir gehören kann.
Allerdings könnte Putin auch dabei Probleme bekommen – unabhängig davon, dass es ihm zwischenzeitlich gelungen sein soll, rund 30 Prozent der ukrainischen Energieinfrastruktur zu zerstören. Nach Erkenntnissen westlicher Militärbeobachter ist die russische Armee kaum noch effizient einsatzfähig. Die Verluste an Menschen und Material sind nicht zu ersetzen. Die neu gezogenen, schlecht ausgerüsteten Männer werden unkoordiniert eingesetzt und können die aufgeriebenen Eliteeinheiten nicht ansatzweise ersetzen. Putins berühmte Wunderwaffen wie der Armata und die Hyperschallrakete stehen, wie hier bei TE bereits wiederholt berichtet, ohnehin nur auf dem Papier. Außer ein paar wenigen Einheiten, die auf Paraden spazieren gefahren wurden, ist da nichts.
Die Ukraine hingegen wird durch den Westen ständig mit hochwertigerem Material ausgestattet – und sie hat offenbar mittlerweile aus den USA die Freigabe, auch außerhalb der Ukraine mit diesen Waffen aktiv zu werden. So sind in den vergangenen Tagen zahlreiche Angriffe auf das nördlich von Charkiw gelegene Belgorod erfolgt. Dort befinden sich nicht nur Tanklager für die russischen Einheiten, sondern auch Anlagen zur Steuerung der Drohnen. Auch die Militäranlagen auf der Krim und selbst bei Rostow geraten nun ins Visier der Ukrainer.
Ungemach droht aus Belarus
Probleme allerdings könnten den Ukrainern die Weißrussen machen. Dort soll – obgleich Russland sein hochwertiges Material zwischenzeitlich abgezogen hat, um die Front im Osten zu stärken – die vom belorussischen Diktator Lukashenka gebildete, gemeinsame Einheit an der Grenze zur Ukraine Stellung beziehen. Ob der Ex-KGB-Mann allerdings tatsächlich die Ukraine mit seinen Einheiten angreift und damit unmittelbar zur Kriegspartei wird, ist gegenwärtig nicht zu beurteilen. Bereits die Stationierung jedoch bindet ukrainische Kräfte, die im Osten und Süden benötigt werden.
Dennoch möglich, dass wir demnächst vor allem auf ukrainischer Seite eine Herbstoffensive sehen, an deren Ende sich Russen und Ukrainer mehr oder weniger winterfest vorerst einrichten. Optimal ausgestattet für den Winterfeldzug ist keine der beiden Seiten. Allerdings sind der Ukraine aus Europa entsprechende Ausrüstungen avisiert. Die russischen Rekruten scheinen hingegen selbst für ihre Winterbekleidung sorgen zu müssen, was deren Motivation nicht beflügeln wird.
Im Ersten Weltkrieg brach die russische Front deshalb zusammen, weil die Soldaten des Zaren schlicht in den Kampfstreik traten. Nicht auszuschließen, dass sich Geschichte wiederholt, wenn Russlands zwangsrekrutierte Männer Weihnachten mit abgefrorenen Zehen im Feindesland verbringen sollen.