Tichys Einblick
Petition zum Weiterbetrieb der AKW

Warum 19 Wissenschaftler den Koalitionsfrieden gefährden

Die Bundestags-Petition zum Weiterbetrieb der Atomkraftwerke kommt zur richtigen Zeit: Sie zwingt die Abgeordneten, in der Frage der Energiesicherheit eine eindeutige Position zu beziehen.

Kernkraftwerk Neckarwestheim mit Reaktorgebäude. Die EnBW produziert dort Strom mit einem Druckwasserreaktor (Block II).

IMAGO / Arnulf Hettrich

Drei Tage vor Ablauf der Zeichnungsfrist fehlten noch gut 15.000 Stimmen – so zeigte es die Seite des Deutschen Bundestags bei der Petition zur „Stuttgarter Erklärung“ jedenfalls an, in der 19 Wissenschaftler den unbefristeten Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke fordern, also den Ausstieg vom Atomausstieg.

Die Wende brachte die Dresdner-Tagung von TE zur Energiewende – parallel zum Livestream verdoppelte sich die Zahl der Unterschriften:

Am Ende wurde es noch nicht einmal knapp. Nicht nur die nötigen 50.000, sondern sogar 58.471 Online-Voten waren bis um Stichtag am 17. Oktober eingegangen, dazu noch eine bisher nicht ausgezählte Menge an Stimmen per Brief und Fax (im Bundestag gehört das Fax zu den Standardkommunikationsmitteln, auch beim Petitionsausschuss).

Voraussichtlich steht das Endergebnis erst Ende Oktober fest. Klar ist aber jetzt schon: Der Petitionsausschuss muss das Thema beraten, wozu es auch gehört, die Petenten einzuladen, also führende Energieexperten von Hochschulen und Instituten, die für das Thema eine große Expertise mitbringen. Professor André Thess, Inhaber des Lehrstuhls für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und einer der Initiatoren, rechnet mit der Anhörung noch im November.

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Zu den Fachleuten, die hinter der „Stuttgarter Erklärung“ und der entsprechenden Petition stehen, gehören neben André Thess auch der Professor für Energieverfahrenstechnik an der TU Dresden Michael Beckmann – beide sind TE-Lesern bekannt als Experten der von TE in Dresden organisierten Tagung zur Energiepolitik –, außerdem Harald Schwarz, Professor für Elektrotechnik und Experte für Netzsicherheit an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, außerdem der Chemie-Professor Burak Atakan, Universität Duisburg-Essen, der Wirtschaftswissenschaftler Alexander Dilger von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Professorin Francesca di Mare, Inhaberin des Lehrstuhls für thermische Turbomaschinen an der Ruhr-Universität Bochum, die Professorin für Technische Thermodynamik Sabine Enders, Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und zwölf weitere Fachleute.

Zu der „Stuttgarter Erklärung“ und der folgenden Petition gab es kaum Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien, die sonst stets mit großem Aufwand bereitstehen, wenn es gilt, die Aktivitäten von „Fridays for Future“ einem großen Publikum zu vermitteln.

Der SPIEGEL, der im März 2011 verkündete, der durch einen Tsunami verursachte Unfall im Kernkraftwerk Fukushima bedeute das weltweite Ende der Atomkraft, behauptete über die „Stuttgarter Erklärung“ ebenso faktenfrei, ihre Unterstützer machten „gemeinsame Sache mit Leugnern des Klimawandels“.

In Wirklichkeit leugnet kein einziger der beteiligten Wissenschaftler den Klimawandel. Der SPIEGEL-Vorwurf, es handele sich um „Stimmungsmacher“, wirkt nicht nur wegen des agitatorischen Angriffs der Illustrierten unfreiwillig komisch, die 2011 gegen Atomkraft Stimmung machte – sondern auch, weil die 19 Wissenschaftler nur fordern, was in Umfragen derzeit auch zwei Drittel bis drei Viertel der Deutschen befürworten.

Die fachlich versierten und streitlustigen Wissenschaftler dürften sich bei der Anhörung im Parlament vermutlich von Abgeordneten nicht so leicht niederreden lassen. Thess, aber auch andere Protagonisten beherrschen durchaus die Kunst der sachlichen, aber pointierten Auseinandersetzung.

Die erfolgreiche Initiative zwingt die Bundestagsabgeordneten, sich in der Frage der Energiesicherheit zu bekennen. Vor allem stört die kommende erzwungene Anhörung der Fachleute den Formelkompromiss, den die Helfer von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gerade als „Führung“ und „Machtwort“ zu verkaufen suchen.

Zur Erinnerung: Scholz hatte zum ersten Mal in seiner Kanzlerschaft von seiner formalen Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht, um den sogenannten Atomstreit zwischen den Grünen und der FDP zu entscheiden. Der grüne Koalitionspartner hatte verlangt, nur zwei der drei Kraftwerke bis höchstens April 2023 weiterlaufen zu lassen, und die Ablage in Niedersachsen schon zum Jahresende 2022 trotz der Energieversorgungskrise abzuschalten. Die FDP forderte nicht den generellen Weiterbetrieb der Kernkraft, wollte die Meiler aber wenigstens bis 2024 am Netz halten.

Scholz’ Kompromissentscheidung sieht vor, alle drei Kraftwerke noch wenige Monate über das Jahresende laufen zu lassen, sie aber zum 15. April 2023 definitiv abzuschalten. Sein vorgebliches Machtwort liegt deutlich näher an der Position der Grünen. Vor allem hat es nichts mit der tatsächlichen Situation des Landes zu tun. Denn niemand glaubt ernsthaft, die Versorgungsknappheit und die hohen Energiepreise wären Mitte April 2023 schon wieder Geschichte.

Die Kanzler-Führung reicht gerade für einen Formelkompromiss zwischen der Maximalforderung der Grünen, denen der Anti-Atomkurs als Glaubensbekenntnis gilt, der zaghaften Gegenwehr der FDP, und der Position der Sozialdemokraten, die keine dezidierte Meinung zur Versorgungssicherheit und zur Strompreisentwicklung zu haben scheinen, sondern offenbar nur das Ampel-Dreierbündnis über den Jahreswechsel bringen wollen.

In diese Lage stößt die Petition der Wissenschaftler. Sie bringt die Bundestagsfraktionen in wenigen Wochen dazu, sich entweder für oder gegen eine generelle Weiterführung der Atomkraft in Deutschland zu erklären. In Umfragen hat die Bevölkerungsmehrheit schon entschieden.

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