Am 13. Oktober 2022 verkündete die Nato den Plan eines gemeinsamen Luftverteidigungssystems: zur Raketenabwehr, auch zur Abwehr von nuklear bestückten Raketen. Der Name des Ganzen: „European Sky Shield.“ Die Nato erklärte: „The initiative will allow all participating nations to jointly develop an air defence system using interoperable, off-the-shelf solutions. This multinational and multifaceted approach offers a flexible and scalable way for nations to strengthen their deterrence and defence in an efficient and cost-effective way.”
Beteiligt sind neben dem Nato-Beitrittskandidaten Finnland 14 europäische Nationen: Belgien, Bulgarien, Estland, Deutschland, Großbritannien, Lettland, Litauen, die Niederlande, Norwegen, Rumänien, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn. Es soll dies eine gemeinsame Initiative zur Stärkung der Luftverteidigung im Nahbereich bis hin zur Abwehr ballistischer feindlicher Raketen sein. Die Details bleiben allerdings noch vage. Das gilt für die Kosten (siehe unten) und den Zeitpunkt der ersten Einsatzfähigkeit: wohl nicht vor 2025 (Siehe hier).
Lernen von Israel?
Zu „Arrow 3“: Es handelt sich um die 3. Generation eines Systems, das ab den 1980er Jahren von den USA und von Israel entwickelt wurde. In Israel ist es Teil von vier Luftabwehrkomponenten des „IMDO“ (Israel Missile Defense Organization).
„Arrow 3“ wird von Israel seit einigen Jahren sehr erfolgreich gegen Raketen eingesetzt, die aus dem Gazastreifen und aus dem Westjordanland abgefeuert werden. Was die schon oft bewiesene Effektivität dieses Systems betrifft, so muss man sich freilich vergegenwärtigen, dass Deutschland mit einer Fläche von 357.580 km² gut 16mal so groß ist wie Israel mit seinen 22.070 km². Vor diesem Hintergrund sind auch die in der Diskussion befindlichen Kosten (2 Milliarden? 8 Milliarden?) vermutlich wohl eher untertrieben.
Deutschland mal wieder hinten dran?
Tatsächlich hinkt Deutschland vor allem bei der Abwehr von ballistischen Raketen sowie von Drohnen und Marschflugkörpern hinterher. Länder wie Indien, China, Russland, Japan, Taiwan, Südkorea, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien haben wir wohl mehr im Arsenal.
Die Angriffe Russlands auf die Ukraine sind freilich jetzt ein täglicher Weckruf. Denn Deutschland ist wenig geschützt gegen feindliche Angriffe aus der Luft, vor allem kaum gegen Raketenangriffe. Das „Patriot“-System ist gerade einmal auf 12 Anlagen stationiert. Dieses System gilt vor allem der Flugzeugabwehr und der Abwehr ballistischer Kurzstreckenraketen in Höhen bis 15 Kilometer.
Wenn in den zurückliegenden Jahren in Deutschland von Luftabwehrsystemen die Rede war, dann eher im Zusammenhang mit Gefahren aus dem Iran. Etabliert ist in Deutschland ansonsten das US-amerikanische „Patriot“-System, das anfliegende Mittelstreckenraketen abschießen kann. Bei der Abwehr von Angriffen aus kurzer Distanz setzt man auf das deutsche System „Iris-T“. Es wurde entwickelt, um etwa Städte in einem Umkreis von 40 Kilometern zu schützen. Insgesamt vier solcher Systeme des deutschen Herstellers Diehl will Deutschland der Ukraine liefern, das erste wurde am 13. Oktober bereits übergeben.
Übrigens: Das Nato-Land Türkei scheint sich der Bedrohung aus der Luft bewusster zu sein als so manch andere. Im Jahr 2017 kaufte die Türkei gegen alle Kritik aus der Nato von Russland S-400-Abwehrraketen (Reichweite 400 km). Russland lieferte ab 2019. Die Türkei stellte die S-400 aber mit Blick auf US-Sanktionen nicht in Dienst. Die USA befürchteten, dass Russland durch das S-400-System Einblick in die Technik moderner amerikanischer Kampfflugzeuge bekommen könnte. Deshalb stoppten die USA in der Folge die Auslieferung von US-Kampfjets F-35 an die Türkei. Aktuell geht Russland trotz des Ukraine-Krieges weiter von einer zweiten Lieferung aus.
Warum Raketenabwehr?
Mit Raketenabwehr ist die Abwehr bzw. Zerstörung von ballistischen Raketen, Lenkraketen, Marschflugkörpern und Drohnen mit taktischen und strategischen Reichweiten gemeint. Diese Defensivwaffen sind stationär untergebracht oder mobil verfügbar, etwa von Panzern oder Schiffen/U-Booten aus. Es handelt sich um Systeme, die mit vielfacher Schallgeschwindigkeit feindliche Raketen attackieren und zerstören, die ggf. Reichweiten von Tausenden Kilometern und Flugkurven zum Teil in 100 Kilometern Höhe im Weltall haben.
Dass Eroberungskriege von einem Heer entschieden werden, ist aus der Geschichte der Kriege bekannt. Deshalb auch die große Bedeutung von Panzern! Fliegende Systeme bereiten eine Landnahme vor, indem sie ein Zielland zerstören und die Bevölkerung mürbe machen. Oder sie bereiten eine Kapitulation vor.
Ein wenig Geschichte der Raketenabwehr
Es waren die USA, die vormalige UdSSR und zuletzt Russland, die in der Raketenabwehr technologisch voranmarschierten. Russland zuletzt – geheimnisumwittert – mit der Hyperschall-Waffe „Kinschal“ und einem Marschflugkörper SLAM (Supersonic Low Altitude Missile) ihren technischen Ausgang hatte. All dies übrigens mit Vorläufern in den letzten Kriegsjahren in Nazi-Deutschland. Die V2 war die Urmutter ballistischer Raketen.
Die USA bauten bald die Abfangraketen „Nike Hercules“ und „Nike Zeus“ mit Flughöhen von 45 bis 300 Kilometern. Ende der 1960er-Jahre folgte die „Spartan“, sie konnte – themo-nuklear bestückt – auf mehr als 550 Kilometer Höhe steigen. Die Sowjets bauten in den 1960er-Jahren ein System namens A-35, das im Vergleich zu den US-Modellen die etwas größere Raketen Typ Fakel 5V61, auch A-350 beziehungsweise im Westen Galosh genannt, benutzte.
Am 23. März 1983 kündigte US-Präsident Reagan dann ein Programm an, das als „Star Wars” berühmt wurde. Diese „Strategic Defense Initiative” (SDI) war als
Abwehrschirm gegen sowjetische Interkontinentalraketen ausgelegt. Unter anderem experimentiert man auch mit Laserwaffen zur Abwehr feindlicher Raketen. Es war aber ein fehlgeschlagenes Projekt mit fliegenden Laserplattformen, etwa der Boeing YAL-1 Airborne Laser. An Bord eines Boeing 747-400F-Frachtflugzeuges sollte ein hochenergetischer Laserstrahl erzeugt werden, der über eine drehbare Kuppel an der Nase verschossen wurde. Gleichwohl erprobt Israel diese Lasertechnik neu. Israel macht derzeit sogar entscheidende technische Fortschritte beim Bau eines Laser-Systems zur Abwehr von Drohnen und kleinen Flugkörpern. Name: Iron Beam.
Gretchenfrage: Neues entwickeln oder Bewährtes kaufen?
Deutschland will sich nun zum Schrittmacher eines neuen europäischen Raketenschutzsystems machen. Kann das gelingen? Umsicht und Skepsis sind angebracht. Denn gänzlich neue Systeme haben weder die Deutschen noch ihre europäischen Partner „im Kreuz“. Also stellt sich die Frage, ob es zu europäischen Kooperationen kommen wird und soll. Nach all den Erfahrungen mit gemeinsamen Rüstungsprojekten tauchen hier doch gewisse Fragezeichen auf. Andererseits kann es nicht Anliegen der europäischen Nato-Partner sein, nur ständig in den USA einzukaufen, wie das zuletzt ja bei der Anschaffung von Kampfjets der Fall war.
Also drängt es sich auf, vorhandene Systeme zu kaufen bzw. anzupassen. Wir nennen ein paar, die zum kleineren Teil sogar europäische Varianten ausweisen:
1. Terminal High Altitude Area Defense (THAAD): Ebenso wie bei Patriot ist bei THAAD die Technik auf mehreren Lkw untergebracht. THAAD ist optimal gegen anfliegende Gefechtsköpfe ballistischer Raketen mit Reichweiten von 1.000 bis 5.500 Kilometer konfiguriert, die sie sich in Höhen von 100 bis 150 Kilometer und in einem Radius von bis zu 200 Kilometer vornimmt. Das System wurde erstmals 2008 in Texas aufgestellt. Es ist unter anderem in Südkorea stationiert
2. Standard Missile 3 (SM-3): Die SM-3 ist momentan der wirkungsvollste Abfänger ballistischer Raketen. Hier sind Abfanghöhen zwischen 600 bis 1.000 Kilometer bei Radien von 700 bis 2.500 Kilometern möglich. Die Trefferwahrscheinlichkeit soll mehr als 80 Prozent betragen
3. Aegis Ashore: 2011 vereinbarten die USA und Rumänien ein Raketenabwehrsystem im Rahmen des European Phased Adaptive Approach (EPAA) im rumänischen Deveselu. Die Anlage besteht aus vier AN/SPY-1 Radaranlagen sowie drei Mk 41 VLS Modulen.
4. Ground-Based Interceptor (GBI): Das ist eine landgestützte Fortführung der regional verteidigenden ABM-Systeme (ABM = Anti-Ballistic Missile Treaty von 1972) sowie ein Nachhall von SDI, doch ohne nukleare Sprengköpfe. Momentan sollen es 44 Raketen in Silos sein, die in Alaska und Kalifornien unterirdisch angelegt wurden.
5. Aster 30 EADS: In Planung ist seit mehr als einem Jahrzehnt das Medium Extended Air Defense System (MEADS), ein allgemeines Flugabwehrsystem gegen Kurzstreckenraketen, das Fla-Waffen wie Roland, Hawk und teilweise Patriot ablösen soll. Beteiligt sind die USA, Deutschland und Italien, Frankreich stieg aus. Mittlerweile ist die Einführung von MEADS in Deutschland absehbar, wobei es auch die Raketen vom Typ Iris-T SL der deutschen Firma Diehl Defence verfeuern soll.
Es bleibt spannend. Vor allem vor dem Hintergrund der von Scholz angesagten Zeitenwende und der Verwendung des 100 Milliarden schweren Sondervermögens für die Bundeswehr. Allerdings drängt die Zeit. Von letzterer wurde im naiven Glauben an einen ewigen Frieden viel verplempert. Wir wissen zudem nicht, wie der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ausgeht. Und wir wissen nicht, wie Russland – mit oder ohne Putin – über einen wie auch immer gearteten Waffenstillstand oder Friedensschluss hinaus agieren wird. Deshalb kann auch hier nur die alte lateinische Sentenz gelten: SI VIS PACEM PARA BELLUM. (Wenn du den Frieden willst, rüste dich für einen Krieg!)
Wir verweisen zur Vertiefung der technischen Aspekte auf folgende Expertise: www.militaeraktuell.at/eine-kleine-geschichte-der-raketen-abwehr/