Tichys Einblick
Migration 2022

Nancy Faesers „Flüchtlingsgipfel“, oder: Wenn der Bund bezahlt, ist nichts unmöglich

Auf dem Berliner „Flüchtlingsgipfel“ ging es, wie immer in solchen Runden, ums Geld. Nur einige wenige fordern die Begrenzung des Zuzugs, noch weniger schlagen Wege dahin vor. Eine zweifelhafte „Migrationsforschung“ tröstet uns derweil damit, dass die Balkanroute noch nicht so stark frequentiert sei wie 2015.

IMAGO/Jürgen Heinrich

Die Kommunen haben gerufen, Nancy Faeser erhörte den Ruf, und lud sie zum „Flüchtlingsgipfel“ ein. Besser hieße er wohl Migrationsgipfel oder: Gipfel der Überlastung des deutschen Aufnahmesystems. Eigentlich handelt es sich um den ungeordneten Teil der Zuwanderung im allgemeinen, egal aus welchem Grund. Und zuletzt geht es dabei, worum es auch in der Vergangenheit auf solchen Gipfeln ging, wenn sich der Bund, Länder und Kommunen treffen: um Geld und Immobilien. Es geht um Steuergelder, die zwar vom Bund an die Kommunen fließen, aber nicht den Gemeinden zugutekommen, sondern für Aufgaben aufgewendet werden, für die wiederum die Bundesregierung die langfristige Hauptverantwortung trägt. Und es geht um Liegenschaften, die der Bund heute vielleicht nicht braucht und deshalb kostengünstig an die Gemeinden weiterreichen kann, damit dort Migranten untergebracht werden können.

Innenministerin Faeser hat den Kommunen nun Liegenschaften des Bundes versprochen, darunter leerstehende Kasernen. Insgesamt 56 sicher nicht ganz kleine Immobilien mit 4.000 Unterbringungsplätzen sollen den Gemeinden neu bereitgestellt werden, zusätzlich zu den ohnehin schon bereitgestellten 300 Liegenschaften des Bundes, von denen zwei Drittel auch von den Kommunen und Ländern genutzt werden.

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg, erinnerte daran: „Wir brauchen die Solidarität von allen und natürlich brauchen wir zusätzliches Geld.“ Aber vertritt Landsberg nicht auch irgendwie „alle“? Also müssen nun „alle“ „allen“ helfen und mit ihnen solidarisch sein… Auch Faeser sprach von einer „gemeinsamen Kraftanstrengung“, bei der jeder seinen Beitrag leisten müsse. „Unterhaken“ ist das sozialdemokratische Motto der Sekunde, „die Lage gemeinsam bewältigen“. 

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Nur noch im Hintergrund wird derweil über die Situation an deutschen Grenzen gesprochen, die letztlich für die Situation der Kommunen verantwortlich ist. In diesem Jahr wird deren Lage durch zwei Faktoren erschwert: Einerseits wurden mehr als eine Million Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen, von denen vielleicht einige nur kurz blieben oder zwischen beiden Ländern pendeln, obwohl man (Friedrich Merz) das natürlich nicht sagen darf, weil damit ein weiteres moralisches Tabu unserer Zeit berührt ist: das Leiden der Ukrainer am Kriege. Laut Nancy Faeser ist eine „mögliche unzulässige Leistungsbeanspruchung“ durch Ukraine-Flüchtlinge nicht festzustellen. Wäre sie feststellbar?

Unbekannt bleibt allerdings, wieviele Ukrainer wirklich in Deutschland sind. Das war die erste der „Errungenschaften“ von Nancy Faeser, die sich standhaft weigerte, diesen Registrierungsprozess verpflichtend zu machen oder zu organisieren. Anscheinend sollte nichts vom Chaos dieser Kriegstage ablenken, die dem deutschen Aufnahmesystem – von manchem klammheimlich begrüßt – nach 2015/2016 zu einer neuen „Dynamik“ verhalfen.

Die andere Quelle – teils mit der Ukraine-Flucht vermischt – war die außereuropäische Zuwanderung, die vor allem über die Mittelmeer- und Balkanroute nach Deutschland führt. Von der „Koordinierungsfunktion“ des Bundes ist auch in diesem Fall laut dem hessischen Innenminister Peter Beuth (CDU) „nichts zu spüren“. Was Beuth aber in der Hauptsache fordert, ist wiederum eine Klärung der „Kostenfrage“, die der Bund seit April versprochen habe. Man sieht: Wenn der Bund es bezahlt, ist in Deutschland alles möglich. 

Auch die sogenannte Migrationsforschung mischt sich ein

Derweil warnen „Migrationsforscher“ emsig davor, die neuen Zuströme über die revitalisierte Balkanroute zu dramatisieren. „Ich sehe da bisher keine ganz große neue Migrationsbewegung von außen in die Europäische Union“, meint etwa der Flucht- und Asylexperte Marcus Engler vom staatlich geförderten Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM, eine Frucht des Familienministeriums seit 2016, dem das „Zentrum“ verbunden bleibt) im Handelsblatt. Er erkennt auf Twitter „besorgniserregende Entwicklungen in Deutschland“, weil Nancy Faeser jüngst sagte, dass illegale Einreisen begrenzt werden müssen, um die eigene Hilfsfähigkeit zu erhalten. CDU und AfD hätten schon versucht „politisches Kapital“ aus diesem Ansatz zu ziehen, insofern gerate Faeser auch in den eigenen SPD-Reihen in die Kritik. Ihr Argument blieb dabei rein taktisch, keineswegs stellt es eine strategische Umorientierung oder Kehrtwende dar.

Die freie Wahl des Aufenthaltsortes innerhalb der EU, die man den Ukraine-Flüchtlingen gewährt hat, habe einen Preis, so Engler weiter, den andere „Flüchtlinge“ zahlen müssten. Man müsse neu über die Verteilung der Migranten sprechen, führt Engler zum Schluss auch noch das untauglichste aller Instrumente in der europäischen Migrationsdebatte an. Die Zahl der Ukraine-Flüchtlinge könne im Winter erneut erheblich zunehmen.

Das offizielle Konto des DeZIM teilt derweil einen Tweet der Grünen Filiz Polat, die die Pull-Faktoren, die zweifellos an der Balkanroute wirken, gerne ins Reich der Legende verweisen würde. Polats Beweis: Ein DeZIM-Artikel, in dem gesagt wird, dass derzeit „viel weniger Menschen als 2015/2016“ über die Balkanroute kommen.

Übersehen wird dabei, dass die heutige Stress- und Belastungsprobe der Länder und Kommunen auch durch die jahrelange illegale Migration bedingt ist. Der Wohnungsmarkt ist vielerorts so leergefegt wie lange nicht mehr. Es handelt sich folglich um eine von der Lebensrealität abgehobene Pseudo-Migrationsforschung, die das DeZIM hier betreibt, indem es zudem von den letztlich unzuträglichen Zuströmen der Jahre 2015/2016 ausgeht, die so im Nachhinein auch noch „normalisiert“ werden. Normalisiert wird so auch eine chronische Überlastung des deutschen Asyl- und Fürsorgesystems.

Die CDU fordert Grenzschutz, müsste dazu aber auch in Brüssel springen

In diesem Jahr kamen bis Anfang Oktober um ein Drittel mehr Asylantragsteller ins Land als im Vorjahreszeitraum. Die Erstaufnahmen sind randvoll, ja übervoll, egal ob in Bayern oder Sachsen. Ein Licht am Ende des Tunnels ist nicht zu erkennen. Im September erreichten die in Dresden registrierten illegalen Migranten die Marke der 2.400 nach 1.200 Registrierungen im August und „nur“ 500 im Juli. Viele junge Männer zwischen 15 und 25 sollen darunter sein.

Noch immer warnt der sächsische Innenminister Armin Schuster, so gut er kann, vor weiteren Kontingenten, die Faeser den Bundesländern aufbürden könnte (auch das hören die „Migrationsforscher“ nicht gern). Auch fordert die CDU/CSU seit geraumer Zeit mehr Grenzschutz an den EU-Außengrenzen (so etwa schon vor einem Jahr anlässlich Polens). Den könnte man haben, wenn Ursula von der Leyen sich für EU-Mittel zugunsten von Grenzbarrieren ausspräche. Dann würde der sehr solide, aber noch recht begrenzte griechische Grenzzaun am Evros vielleicht schneller gebaut. 

So kann sich die AfD weiterhin als die einzige politische Kraft darstellen, die „sich der Masseneinwanderung in unser Sozialsystem entgegenstellt“, wie nun der migrationspolitische Sprecher der Partei im Bayerischen Landtag, Stefan Löw, in einer Pressemitteilung schreibt. Auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt erneuerte freilich seine Forderung nach einem besseren EU-Außengrenzschutz in der Augsburger Allgemeinen: „Die wirksamste Entlastung der Kommunen ist die Beschränkung von illegaler Migration nach Deutschland.“ Die Landräte deutscher Kreise sprechen sich gar parteiübergreifend für eine Begrenzung des Zuzugs aus – aber solche Worte bleiben preisgünstig, solange keine Person von Bedeutung sich damit verbindet. 

Kurios ist dabei, dass niemand so genau weiß, woher die Neubelebung der Balkanroute kommt. Auch die „Migrationsforscher“ profitieren davon und behaupten, dass die Migranten gar nicht von außerhalb der EU kämen, vielmehr in Griechenland auf eine Möglichkeit zur Weiterreise gewartet hätten. Schon früher hörte man, es gebe sozusagen alte Residuen an Migranten, die während der Pandemie in Serbien festgehangen seien. Doch später stellte sich heraus, dass die bulgarischen Grenzschützer eine Verdreifachung der Aufgriffe an der Grenze zur Türkei feststellten und Heer und weiteren Entsatz an die Grenze schickte, wo auch die provisorischen Unterkünfte vergrößert wurden. Dann fiel den Kundigen auf, dass Serbien seine Visa-Bestimmungen mit 100 Staaten vereinfacht hatte. Schließlich kam es erneut zu größeren Bootsunglücken in der griechischen Ägäis, und Wolfgang Kubicki warnte vor Erdogan, dem Schleppungs-Ermöglicher, als „kleiner Kanalratte“.

Faeser will auf Grenzkontrollen gedrängt haben – in Österreich

Das Ergebnis ist freilich klar, die drastische Erhöhung der Zahlen gegenüber 2021 ist derzeit auch am nördlichen Ende der Balkanroute (in Ungarn und Österreich) zu erleben. In Deutschland, das stets einen Grundsockel an illegaler Zuwanderung zuließ, kommt auch etwas von diesem „Surplus“ an. Und so geht es nun an das Besorgen neuer Unterkünfte. Im Gegensatz zu den Ukrainern sind die rund 135.000 Asylbewerber (bis Anfang Oktober dieses Jahres) nämlich bis auf weiteres auf staatliche Unterbringung angewiesen. Übrigens erlebt auch das Land Brandenburg laut Handelsblatt einen starken Anstieg illegaler Schleusungen. Nach einiger Verzögerung scheinen damit nicht nur Tschechien und die Slowakei, sondern scheint auch Polen fest in seine neue Rolle als Transitland hineingewachsen zu sein.

Nun werden Zeltstädte – etwa in Leipzig – errichtet. Sie reichen aber nur bis Weihnachten. Danach ist wohl die Witterung nicht mehr geeignet, und Turn- oder Messehallen werden in vielen Fällen Zeltsiedlungen zu ersetzen haben. Das tun sie schon jetzt an manchen Orten. 

Einen Tag vor dem Gipfel hatte Faeser noch in Nürnberg mit dem Bamf-Chef Hans-Eckhard Sommer gescherzt. Es war ihr Antrittsbesuch bei der zentralen Behörde, die für die Prüfung von Asylverfahren zuständig ist. Inzwischen nimmt Faeser auch für sich in Anspruch, dass sie auf die Einrichtung fester Grenzkontrollen zwischen Österreich, Tschechien und der Slowakei „gedrängt“ habe. Das ist umso kurioser, als Faeser ein ähnlich konsistentes Vorgehen an der deutsch-tschechischen oder deutsch-polnischen Grenze bis heute verweigert. Dort müssen sich die Bundespolizisten noch immer mit der Schleierfahndung begnügen, die weder ein umfassendes Lagebild erlaubt, noch – was noch wichtiger wäre – die Bundespolizei als offizielle Grenzbehörde etabliert, mit allen dazu gehörenden Vollmachten.

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