Arbeitsminister Hubertus Heil will in naher Zukunft „alle Register für Fachkräftesicherung ziehen“. Man hat anscheinend bemerkt, dass etwas nicht rund läuft am deutschen Arbeitsmarkt. Warum kommt Deutschland immer wieder an diesem Punkt an? Eine Krise (die mit dem C) geht zu Ende, während neue beginnen, doch das Land wälzt sich in allzu bekannten Nachwehen: Für einfache Tätigkeiten finden sich angeblich keine Bewerber mehr. Und keine Maßnahme, kein Programm scheint bisher zu wirken.
Heil will nun verschiedene Gegenmittel beackern, darunter die Themen Ausbildung, Weiterbildung und mehr Erwerbstätigkeit von Frauen. Aber mitten in die rasant wachsenden Migrantenzahlen an deutschen Grenzen hinein verbreitet sich vor allem eine Meldung wie ein Lauffeuer: Arbeitsminister Heil plane ein „neues Einwanderungsrecht“, so ist vom Deutschlandfunk über die Zeit bis zum Stern in den Überschriften zu lesen. Denn für die „Fachkräftesicherung“ sei vor allem die „qualifizierte Zuwanderung“ notwendig, so Heil. Im Herbst wolle er dazu „Eckpunkte“ vorlegen.
Doch die neuen Pläne, die Heil im Herbst konkretisieren will, dürften auf eine zusätzliche Zuwanderung hinauslaufen, die zur Asylzuwanderung hinzukommt und von der nicht gesagt ist, dass es sich um gut ausgebildete Fachkräfte handeln wird. Die Signale der Ampel in dieser Sache sind durchaus ambivalent. Erst im Juli sprach FDP-Fraktionschef Dürr von einer „dringend nötigen Einwanderung auf allen Ebenen in den Arbeitsmarkt“. Dazu gehört dann wohl auch unqualifizierte Zuwanderung.
Geistig befangen in Grabenkämpfen der 90er-Jahre
Innenministerin Nancy Faeser (SPD) gab nun der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein Interview, in dem sie ebenfalls viel von der Situation am Arbeitsmarkt und von Zuwanderung sprach, obwohl beides gar nicht zu ihren Fachgebieten gehört. Eine Bundesinnenministerin wäre unter normalen Umständen für die innere Sicherheit, den Sport und für die Sicherung der deutschen, vielleicht noch der EU-Grenzen zuständig.
Doch Faeser hat anderes im Sinn. Sie will das deutsche Einwanderungsrecht gründlich umbauen, es einfacher und „pragmatischer“ machen. Ein wichtiges Instrument dazu soll das Staatsangehörigkeitsrecht werden. Faeser jubiliert: „Wir sollten uns freuen, wenn jemand die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben möchte, und das nicht als Gefahr betrachten. Da haben wir noch viel vor. Der Kanzler hat das Ziel vorgegeben: Wir wollen unser Staatsangehörigkeitsrecht auf den modernsten Stand in der Welt bringen.“ Doch was heißt „modern“ in diesem Zusammenhang? Für Faeser bedeutet es offenbar vor allem eines: Hürden abzubauen.
Nicht nur soll die deutsche Staatsbürgerschaft hier lebenden Ausländern nicht mehr vorenthalten werden (drei Jahre Aufenthalt können künftig genügen). Daneben sollen abgelehnte Asylbewerber, die als Geduldete weiterhin in Deutschland leben, in den Genuss eines „Chancenaufenthalts“ kommen, um endlich die notwendigen Voraussetzungen (Identitätsnachweis, Berufstätigkeit usf.) für ein dauerhaftes Bleiberecht zu erfüllen. Nun soll die sogenannte „Chancenkarte“ hinzukommen, die sich an Ausländer wendet, die noch gar nicht in Deutschland sind, aber gerne hier arbeiten bzw. nach Arbeit suchen möchten.
Ampel versucht sich, ein wirtschaftsfreundliches Gesicht zu geben
Deutschland sei ein „Einwanderungsland“, hält die Innenministerin triumphierend fest. Faeser scheint die Schlachten der späten Neunziger noch einmal zu schlagen, als sich Kohlianer und Rot-Grüne um solche Fragen stritten, die damals schon theoretisch waren. Die Politik der Ampel wirft eher die Frage auf, ob Deutschland ganz materiell noch mehr Zuwanderung verträgt, als es ohnehin schon alljährlich erleidet. Daneben bleibt offen, ob es unter den herrschenden Zuständen – etwa an Schulen oder im öffentlichen Raum – gelingen kann, die richtigen Einwanderer nach Deutschland zu ziehen.
Diese Chancenkarte ist tatsächlich ein altes FDP-Projekt. Damals wollte man sie noch an „Fachkräfte“ vergeben, für die es in Deutschland Bedarf gäbe. Aber auch Asylbewerber sollten die Karte bekommen können, soweit sie straffrei waren und ihren Lebensunterhalt selbst verdienten. Man konnte das schon vor vier Jahren, als die FDP vergeblich über „Jamaika“ verhandelte, für eine Mogelpackung halten. Doch die Reste dieses Vorschlags gehen offenbar in die aktuellen Ampel-Gesetzentwürfe ein. Ob sie dem System guttun oder überhaupt etwas beitragen, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Die Ampel versucht sich hier, ein wirtschaftsfreundliches Gesicht zu geben. Aber ob sie damit Nutzen oder Schaden bringt, bleibt vollkommen offen, vor allem wegen der Unwucht, die durch die überbordende illegale Zuwanderung auf Wirtschaft und Gesellschaft wirkt. Zusammen mit der „Chancenkarte“ soll ein neues, großzügigeres Einwanderungsrecht kommen, dessen Umrisse nur zum Teil klar sein dürften. Die Regierung von Emmanuel Macron hatte in Frankreich Ähnliches vor, verschob das Projekt aber dann lieber ins nächste Frühjahr. Die Mehrheiten in der neuen Nationalversammlung ohne eigene präsidiale Mehrheit, mit einem erstarkten Rassemblement national (RN) hinter Marine Le Pen scheinen nicht übersichtlich genug für den legislativen Turbo-Gang.
In Deutschland ist noch nicht klar, ob es erheblichen Gegenwind für das Ampel-Projekt geben wird. Immerhin findet die Union langsam Gründe für Kritik an den herrschenden Migrationszuständen, obwohl daraus noch erhellt, dass man eine Umkehr der Politik der letzten Jahre anstrebt. Die andere Oppositionspartei zur Rechten der Regierung, die AfD, wird noch immer weitgehend ignoriert, zumal was ihre Vorstellungen zur Zuwanderung angeht. Dabei zeigen die EU-Partner Frankreich, Schweden und Italien, dass man den Diskurs zwar verweigern kann, er sich dann aber auf anderem Wege Bahn bricht.
Bürokratie-Abbau – bisher nur für Zuwanderer
All das wirkt wie ein weiterer, gewollter Paradigmenwechsel, eine Zeitenwende der anderen Art. Wo in Deutschland einst das Abstammungsprinzip dominierte, sollen nun nicht nur die hier Geborenen ganz natürlich Deutsche sein, sondern auch alle, die neu ins Land kommen und hier bleiben wollen. Und das Szepter des Handelns halten hier vor allem SPD und FDP in der Hand. Die Grünen sind erstaunlich still bei dieser rechtlichen Materie, die sich zudem als Handeln im Interesse des Wirtschaftsstandorts geriert.
In ähnlichem Duktus fordert auch Faeser „unbürokratische Verfahren für die Einwanderung von Arbeitskräften“. Doch der Satz löst ein weiteres Aha aus: Faeser geht es nicht um „Fachkräfte“ oder „qualifizierte Zuwanderung“, sondern schlicht und einfach um Arbeitskräfte, die ja auch durchaus vollkommen ungelernt sein dürfen. Die FAS fragt nach: Ist nun wirklich Ende mit dem Fachkräfte-Narrativ? Kommen jetzt auch „geringer qualifizierte Arbeitskräfte“ für Flughäfen und Gastronomie? „Ja“, platzt es aus Faeser heraus, „in unserem ureigenen Interesse!“ Auch geringer Qualifizierten müsse man „vorübergehend“ eine Beschäftigung in Deutschland erlauben. Nun weiß jeder, dass dem einmal Zugewanderten kaum jemand mehr den Stuhl vor die Tür setzen kann. Man darf gespannt sein, ob sich in Heils Paket wirksame Regelungen dazu finden.
„Auch Menschen mit anderen Stärken eine Chance geben“
Arbeitsminister Heil erklärte seine Chancenkarte gegenüber der Bild-Zeitung so: „Wir legen Jahr für Jahr, entsprechend unserem Bedarf, ein Kontingent fest, wie viele Menschen mit der Chancenkarte nach Deutschland kommen dürfen, um sich hier für eine bestimmte Zeit einen Job oder eine Ausbildung zu suchen. Für diese Zeit müssen sie ihren Lebensunterhalt selbst sichern können.“ Rätselhaft bleibt nur, wie man zugleich nach einem Job suchen und dabei den eigenen Lebensunterhalt sichern soll. Und Heil sagt es noch einmal zum Mitschreiben: Es gehe nicht nur um Fachkräfte mit Abschluss, man wolle „auch Menschen, die andere Stärken haben und die wir am Arbeitsmarkt brauchen, eine Chance geben, nach Deutschland zu kommen“.
Tatsächlich müssen nur drei von vier Punkten erfüllt sein, um die „Chancenkarte“ zu bekommen, wie Heil schon Anfang September gegenüber der Bild enthüllte. Zur Not geht es also auch ohne Berufsabschluss, solange man drei Jahre Berufserfahrung „nachweisen“ kann, Sprachkenntnisse hat, schon mal in Deutschland war oder unter 35 Jahren ist. Nur drei von diesen fünf Möglichkeiten müssen jeweils erfüllt sein. Wer aber prüft die Berufserfahrung, die vor der Einreise in einem fremden Land erworben wurde? Vermutlich niemand, eine Selbstaussage wird reichen müssen.
Für Faeser geht es übrigens laut FAS-Interview weniger um die konkrete Größe des Kontingents, sondern darum, „Bürokratie abzubauen“. Schön und lehrreich ist auch das ‚konkrete‘ Beispiel der Ministerin: „Eine Bauzeichnerin aus Jordanien mit dreijähriger Berufserfahrung möchte aus privaten Gründen in Deutschland arbeiten, wo sie nach der Schule schon einmal ein Au-pair-Jahr verbracht hat.“ Die geschilderte Biographie wirkt auf den ersten Blick unwahrscheinlich, wird aber durch Faesers Interview ab sofort ermöglicht, egal ob als wahre oder erfundene Geschichte. Junge Jordanier und Jordanierinnen wissen ab sofort, was sie den Einreisebehörden zu sagen haben, um in Deutschland auf Arbeitsplatzsuche gehen zu können.
Faeser: Neues Bürgergeld macht Arbeitsaufnahme attraktiver
Dann hatten die FAS-Journalisten noch eine verrückte, beinahe schon sozialdemokratische Idee, der Faeser allerdings mit Bravour auswich. Es könnten doch einfach wieder weniger Zuwanderer nach Deutschland kommen, sagte einer der beiden Interviewer, die Arbeitgeber müssten dann eben mehr Lohn bezahlen. Faeser hat sich in dieser Frage zwar nicht mit ihren Wählern, dafür aber mit Gewerkschaftsführern kurzgeschlossen und berichtet von „großer Einigkeit“. Nun haben die Gewerkschafter auch kaum die Interessen von Arbeitslosen oder Geringverdienern im Blick, sondern scheinen immer mehr für die Schon-Angekommenen, die Facharbeiter zuständig. Sie sind also die falschen Ansprechpartner, wenn man Missstände im System angehen will.
Aber wie das, wenn ihre Jobs inzwischen von neuen Zuwanderern besetzt wurden? Und überhaupt sollen die Auszahlung und das Schonvermögen ja gerade erhöht werden – also eher ein Anreiz, weniger zu arbeiten als bisher. Die SPD will doch gerade weg von den strikten Hartz-IV-Sanktionen. Oder versteht man das falsch? Im Grunde muss man Faeser und ihren Ministerkollegen insgesamt hier eine große Abgehobenheit vorwerfen. Die Realität der kleinen Leute im Lande scheint ihnen egal zu sein. Es geht nur darum, den Überbau aus deutschen Akademikern und Facharbeitern zu erhalten und mit Pizzaboten und allem anderen zu versorgen, was man so an fleißigen Händen braucht.
Bleibt die Frage, wie Deutschland für die vielen neuen Arbeitskräfte attraktiv werden soll, die hier „für eine bestimmte Zeit einen Job oder eine Ausbildung suchen“ sollen. Genau an diesem Punkt wird die schöne neue Welt des Arbeits- und Fachkräftestaates Deutschland scheitern. Die Innenministerin führt ins Feld, dass das Leben in Deutschland noch viele Vorteile habe. Aber was sie an positiven Faktoren nennt, sind eher Kostentreiber im internationalen Vergleich: das teure Gesundheitssystem oder auch die (vielleicht nicht mehr lange) gute „Work-Life-Balance“. Paradigmatisch auch, dass Faeser partout nur für die bestehenden Vorteile „werben“ will. Ausgeschlossen scheint, dass auch etwas verbesserbar wäre an diesem Deutschland, in dem ihre Partei – mit kurzer Unterbrechung – nun schon seit 24 Jahren mitregiert.