Andreas Geisel (SPD) war als Berliner Innensenator verantwortlich für die Berliner Murks-Wahl, die jetzt wohl wiederholt werden muss. Es ist ein einzigartiger, noch nie da gewesener Fall des Versagens.
Aber wer glaubt, der Berliner Sumpf würde deshalb trockengelegt: Irrtum. Andreas Geisel bleibt, wechselte nach der Wahl vom Posten des Innensenators zum Bausenator. Und da will er bleiben:
„Es ist nicht so, dass ich nicht Verantwortung spüre. Aber die Frage ist, welche Entscheidung trifft man, um die Sache besser zu machen, und ich habe mich entschlossen zu arbeiten“, sagte der damalige Innensenator am Mittwochabend bei einem Leserforum der „Berliner Morgenpost“. Laut Wahlgesetz und Verfassung habe er nicht die Fachaufsicht, sondern die Rechtsaufsicht gehabt, sagte der SPD-Politiker. „Ich selbst war Kandidat und hätte nicht eingreifen dürfen“, betonte Geisel und fragte: „Was würde es besser machen, wenn ich zurücktrete?“
Dabei ist sein Versagen bestens dokumentiert.
Der Landesverfassungsgerichtshof von Berlin befragte im Vorfeld der Entscheidung bereits im Frühjahr die Landeswahlleitung zu den Pannen bei der Wahl 2021 – die Antworten liegen TE exklusiv vor. Darin zeigt sich nicht nur das Ausmaß der Pannen, sondern auch die völlige Ignoranz der zuständigen Stellen gegenüber den Problemen im Vorfeld.
In den Antworten, die letztlich zur Entscheidung über die Wahlwiederholung führten, legt die Landeswahlleiterin Zahlen vor, die das Ausmaß der Pannen zeigen. 255 Wahllokale schlossen demnach verspätet, 22 sogar nach 19:30 Uhr. 102 Wahllokale mussten die Wahl wegen Stimmzettelmangel unterbrechen, in mindestens 67 Fällen überstieg die Unterbrechungsdauer eine halbe Stunde, in 36 Fällen betrug sie sogar bis zu zwei Stunden. In 3.577 Fällen wurden falsche Stimmzettel ausgegeben, und in insgesamt 4.706 Fällen wurde vergessen, Wählern einen bestimmten Wahlzettel auszuhändigen, die dadurch an einer Wahl nicht teilnehmen konnten. Eine Zahl zu den Schlangenbildungen in den Wahllokalen liegt nicht vor – man muss aber von flächendeckend über einer Stunde ausgehen. In allen Fällen ist aufgrund der mangelnden Protokollierung der Vorfälle von einer massiven Dunkelziffer auszugehen. Auch, dass Protokolle fehlen und andere in Bananenkisten aufbewahrt werden ist ein an sich schon unglaublicher Vorgang.
Die Zahlen zeigen eine flächendeckende Überlastung, die mehrere strukturelle Gründe hat: Erstens, die Zahl der Wahlkabinen pro Wahllokal war in den meisten Fällen angesichts der Abgabe von insgesamt sechs Kreuzen pro Wahlberechtigtem deutlich zu niedrig. Zweitens, das Personal war durch Unterbesetzung und mangelnde Ausbildung überfordert. Drittens, die Ausstattung der Lokale mit Stimmzetteln war mangelhaft, die Nachlieferungsmöglichkeiten waren nicht ausreichend. Das alles war programmiertes Versagen.
Diese strukturellen Fehler liegen beim Senat
So zeigt der Schriftverkehr, dass fast überall mit lediglich zwei Wahlkabinen geplant wurde. Die Landeswahlleiterin erklärt dazu: „Maßgeblich für die Bestimmung der Zahl der Wahlkabinen waren in erster Linie die Erfahrungen aus früheren Wahlen in Abhängigkeit von den sehr unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten und den Pandemie-Vorschriften zum Abstand (Zahl der Wahlberechtigten im Wahllokal, Größe und Lage des Wahlraumes, Zahl der Wahlhelfenden etc.).“ Die Erfahrungen der letzten Jahre? Da wurden aber nicht Bundestag und Berliner Abgeordnetenhaus gleichzeitig gewählt – zusammen mit einem Volksentscheid.
Es wurde allen Ernstes davon ausgegangen – so schreibt die Landeswahlleiterin –, „dass die längere Verweildauer durch die höhere Zahl der Wahllokale und den höheren Briefwahlanteil ausgeglichen werden würde“. Für die Zahl der Wahlkabinen seien von der Landeswahlleitung keine Vorgaben gemacht worden. Die Wahlämter haben dabei „auf Erfahrungswerte zurückgegriffen“. Teilweise sei die Zahl der Wahlkabinen gar „mit Blick auf die verfügbare Raumgröße und die Vorgaben aufgrund der Pandemie reduziert worden“.
Dabei wäre eine Rechnung relativ einfach. Angesichts von rund 500 bis 1.000 Wählern pro Wahllokal, sind in den Stoßzeiten bis zu 100 Wähler in der Stunde realistisch. Bei zwei Wahlkabinen müsste ein Wähler dann fast in einer Minute seine Stimmabgabe schaffen. Angesichts von fünf Stimmzetteln und sechs möglichen Kreuzen bei drei Wahlen und einem Volksentscheid war das absehbar völlig unrealistisch. Viele Wähler berichten auch aufgrund der Unübersichtlichkeit der Stimmzettel von Zeiten von über fünf Minuten pro Wähler. Dazu kommt eine Verzögerung durch die strikten Abstands- und Hygieneregeln.
Die geplante Wahlzettel-Knappheit
Bei der Aussstattung der Wahllokale mit Stimmzetteln sah es ähnlich aus. Die Unterlagen zeigen, dass Senator Geisel sich im Vorfeld genau über die Planungen in den Bezirken informierte. Ihm wurde dann mitgeteilt, dass die Wahllokale in Charlottenburg-Wilmersdorf mit lediglich 300 Stimmzetteln ausgestattet waren – Geisel unternahm dagegen nichts. Größere Nachlieferungen waren damit von vornherein erforderlich.
Über die Funktionsweise einer möglichen Nachlieferung wird keine genaue Planung verlangt. Am Wahltag durchschnitt der Berlin-Marathon aber gerade den Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf und machte Auslieferungsfahrten teilweise unmöglich – in der Planung von Senator Geisel kommt das nicht vor. Folgerichtig kam es auch genau in diesem Bezirk dann zu den längsten Wahlunterbrechungen wegen Stimmzettelmangels.
Probleme, die einfach vorherzusehen waren – und gegen die vom Senat nichts unternommen wurde. Die Bezirkswahlleiter berichten ebenfalls von enormen Problemen bei der Schulung von Wahlhelfern aufgrund der Corona-Einschränkungen. Maßnahmen werden daraufhin keine unternommen.
Schuld sind die anderen – alles läuft prima
Ansonsten glänzt die Landeswahlleiterin vor allem durch Ahnungslosigkeit. Über die am Wahltag gebildeten Schlangen hat man keine wirkliche Information. Wie viele von den Wahlvorständen eigenhändig kopierte Stimmzettel zum Einsatz kamen – „ist nicht bekannt“. Der Senat setzte bei der Vorbereitung vor allem auf Gutgläubigkeit. Staatssekretär Akmann sieht die Vorbereitungen zur Wahl im Juli 2021 in einem TE vorliegenden Schreiben „auf einem guten Weg“. Trotz der erheblichen Herausforderungen dieses Wahljahres scheine es derzeit keine „akuten, unüberwindlichen Hindernisse“ zu geben. Weder auf die Stimmzettelfrage noch auf die mangelnden Wahlkabinen geht er daraufhin ein, sondern beschäftigt sich stattdessen mit den Hygienekonzepten, Infektionsschutzvorschriften und einer damit einhergehenden „zahlungsmäßigen Begrenzung des Zugangs zu Wahllokalen“.
Und am Ende sind immer die anderen schuld. Dass die Stimmzettel vertauscht wurden, sei ein Fehler der Druckerei gewesen, mit der explizit „sortenreine“ Auslieferung vereinbart worden ist. Die extremen Wartezeiten beim Versand der Briefwahlunterlagen lägen hingegen in der Verantwortung des Zustellungsdienstleisters „Pin“. Ansonsten seien die Bezirkswahlämter verantwortlich.
Doch in den vorliegenden Schriftverkehren, in denen sich Senator Geisel über den Stand der Vorbereitungen informiert, werden die entscheidenden Fragen nicht benannt und ausgeklammert. Aus der Tatsache, dass bei dieser Wahl mehr Stimmen abzugeben sind als bei den Wahlen zuvor, wurde keine besondere Konsequenz gezogen.
Die Verantwortung liegt direkt beim damaligen SPD-Innensenator Geisel. Der war, wie sich gezeigt hat, über alle Vorgängen genauestens informiert – aber nach der Wahl vor allem damit beschäftigt, die entsprechenden Vorgänge zu vertuschen. Parallel agierte seine Senatsverwaltung mit dubiosen „Hinweisen“, um die Ergebnisse entsprechend zu „glätten“, wie TE-Recherchen zeigen.
Dass Geisel sich jetzt aus dieser Verantwortung zu stehlen versucht wirft auch ein Licht auf den Führungsstil und die Mitbeteiligen der regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey. Offensichtlich versucht sie Geisel zu decken.
Berlins Innenstaatssekretär Torsten Akmann behauptet zwar: „Der Senat hat in den letzten Monaten kontinuierlich daran gearbeitet, dass wir künftig gute Wahlen in Berlin haben“. Aber er weicht der Frage aus, warum die bis dahin korrekt durchgeführten Wahlen in Berlin im Jahr 2021 plötzlich derartig vermurkst werden konnten. Frank Henkel wiederum, als Innensenator der CDU einer der Vorgänger von Geisel, sagt dazu: Die Durchführung von Wahlen erfolge nach einem klar festgelegten und bis ins Einzelne dokumentierten Verfahren. Zwar käme es etwa wegen Bevölkerungsverschiebung in einzelnen Wahlbezirken zu kleineren Anpassungen. Aber insgesamt handele es sich doch um einen Routinevorgang, der bestens eingespielt gewesen sei – bis Geisel die Verantwortung übernommen habe.
„Dass Senator Geisel so tut, als hätte er mit der Veranstaltung nix zu tun, ist schon eine besondere Art der Wirklichkeitsverweigerung. Das Wahlchaos in Berlin ist seine Verantwortung und die hat er nur äußerst schlampig wahrgenommen. Im Ergebnis kann es daher nur eine Konsequenz geben: Rücktritt – sofort! Sollte er dazu nicht das erforderliche Rückrat und den erforderlichen Charakter haben, muss die Regierende Bürgermeisterin ihren Parteifreund entlassen.“
Damit stellt sich die Frage: Wenn Geisel das Chaos veranstaltet hat: war es absichtliche Manipulation, um der rot-rot-grünen Koalition die Mehrheit zu verschaffen?
Der ehemalige Abgeordnete Marcel Luthe ist führender Beschwerdeführer gegen die Wahlpannen und treibt die juristische Aufarbeitung der Vorgänge entscheidend voran. Er kommentiert den Vorgang gegenüber TE: „Wer wie die verantwortliche SPD-Riege – primär der Ex-SED-Mann Andreas Geisel als zuständiger Senator – statt der offensichtlich notwendigen mindestens vier Wahlkabinen etwas mehr als zwei aufstellen lässt, hat nicht zufällig etwas verbockt, sondern planvoll einen demokratischen Akt beschädigt. Das war kein Zufall, sondern angesichts der Zahlen Vorsatz.“