Die deutsche Medienlandschaft stand bisher immer an der Seite der sogenannten „Cancel Culture“, wurde also zur Erfüllungsgehilfin der Regierungspolitik. Umso erstaunlicher ist es daher, dass nun erstmals ein Hochkaräter aus dem Mainstream zugibt, dass die Lage kritisch ist. René Pfister, immerhin drei Mal mit dem begehrten Nannen-Preis ausgezeichnet und Spiegel-Korrespondent in Washington, legt nun seine Schrift „Ein falsches Wort – Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht“ vor.
Dass ein Spiegel-Journalist erstmals eingesteht, dass die Meinungsfreiheit beschnitten wird, ist erstaunlich. Denn noch vor drei Jahren klang das ganz anders. Damals widmete der Spiegel dem Thema einen Titel. Anlass waren Proteste gegen den AfD-Gründer Bernd Lucke, der nach seinem Ausscheiden aus dem Europaparlament 2019 wieder als Professor für Wirtschaft an der Universität Hamburg unterrichten wollte. Linke Störer hatten den Hörsaal gekapert und die Vorlesung über Wochen hinweg verhindert. Nur der Einsatz von Polizei und Sicherheitsdienst ermöglichte, dass Lucke wieder unterrichten konnte. Doch der Spiegel meinte, dass Lucke den Störern „dankbar“ sein sollte. Schließlich hätten sie ihm das erste Mal seit mehreren Jahren wieder Schlagzeilen verschafft. Außerdem unterstreiche der Einsatz der Sicherheitskräfte, dass die Meinungsfreiheit nicht gefährdet sei – kein Problem also!
Für eine breite Öffentlichkeit wird „Ein falsches Wort“ viel Neues enthalten. Doch waren die wichtigsten Argumente bereits bei mihr oder bei Kolja Zydatiss nachzulesen. Als Kenner der USA kann Pfister jedoch viel Hintergrundwissen einbringen und fördert bei seiner Analyse, die bis in die 1960er Jahre zurückreicht, viel Erhellendes zutage.
Auch mit der eigenen Branche geht der Autor erstaunlich kritisch ins Gericht. Denn hinter den hehren Motiven der „Haltungsjournalisten“ versteckten sich allzu oft niedere Beweggründe:
„Dass sich Journalisten eher der progressiven Sache verpflichtet fühlen, liegt wahrscheinlich in der Natur unseres Berufes. Wer nach Abitur und Studium einen Beruf anstrebt, dessen Einkommensperspektiven eher begrenzt sind, der muss Motivation jenseits des Materiellen finden.
Man mag finanziell zwar nicht mit den Freunden mithalten können, die in einer Anwaltskanzlei arbeiten oder als Manager bei einem Pharmakonzern – dafür aber geht man mit dem guten Gefühl ins Büro, seinen Beitrag im Kampf gegen Klimawandel und Rassismus zu leisten.“
Die Ursache für die Hysterie der amerikanischen Linken sieht Pfister in den Helikoptereltern. Dabei stützt er sich auf Forschungen des Psychologen Jonathan Haidt. Dessen These lautet, dass die amerikanischen Mütter durch den technischen Fortschritt im Haushalt entlastet wurden und umso mehr Zeit ihren Kindern widmen konnten. In ständiger Sorge, das Kind könne erkranken, verunglücken oder entführt werden, hätten sie versucht, alle Gefahrenquellen von den Kleinen fernzuhalten. Wer in jungen Jahren lernen musste, dass nahezu alles eine Bedrohung darstellt, wird auch schon die falsche politische Meinung als gefährlich erachten.
Viele Fälle werden aufgelistet, in denen die falsche Meinung zum Karriereende oder zumindest zu einem Spießrutenlauf führten. Doch ein Beispiel ragt besonders hervor. Der Datenanalyst David Shor hatte 2020 die gewaltsamen (laut amerikanischen Medien: „größtenteils friedlichen“) Ausschreitungen nach dem Tode George Floyds bei einem Polizeieinsatz kritisiert. Diese seien gefährlich, denn ähnliche Unruhen hätten es schon Richard Nixon erlaubt, sich als harter Hund zu präsentieren und die Präsidentschaft zu gewinnen. Donald Trump könne im Wahlkampf ebenfalls auf „law and order“ setzen und weitere vier Jahre im Weißen Haus verbleiben. Obwohl Shor einer der zentralen Wahlkampfstrategen Barack Obamas war und explizit vor einem republikanischen Wahlsieg gewarnt hatte, wurde er von seinem Arbeitgeber, einem Meinungsforschungsunternehmen, vor die Tür gesetzt.
Pfister ist gleich doppelt erschreckt: Denn zu einem kann die Cancel Culture auch linksstehende Aktivisten treffen und zum anderen hat die gesellschaftliche Polarisierung nicht nur das eigene, sondern vor allem das andere Lager zusammengeschweißt. Hillary Clinton hatte im Wahlkampf 2016 die Wähler der Gegenseite als „bedauernswerte Rassisten, Sexisten, Homophobe und Islamophobe“ beschimpft. Hierin erkennt er eine der Haupttriebfedern des Populismus.
Als zwei der wichtigsten Vertreter der Critical Race Theory werden der (schwarze) Ibram X. Kendi und die (weiße) Robin DiAngelo benannt. Beide sehen in der amerikanischen Gesellschaft einen systematischen Rassismus und in jedem Weißen qua Geburt einen Rassisten. Kendis Forderung, ein Anti-Rassismus-Ministerium zu errichten, das mit Sonderbefugnissen jeden Politiker maßregeln kann, wird in die Nähe von Orwells Überwachungsfantasien gerückt.
Pfister merkt an, dass die CRT nahezu religiöse Züge angenommen hat. Mittlerweile stellt sie ein eigenes Geschäftsfeld dar, weil große Unternehmen gegen teures Geld Anti-Rassismus-Schulungen buchen können. Derartige Programme seien allerdings in aller Regel nutzlos. Der einzig reale Effekt sei, dass Unternehmen ihre Außenwirkung aufbessern könnten. Kleidungshersteller würden zahllose Arbeiter in Südamerika und Asien ausbeuten, doch dies würde man ihnen schnell verzeihen, solange sie nur Position gegen Rassismus bezögen. Die politische Linke hat ihre klassische Kapitalismuskritik zugunsten der Identitätspolitik mittlerweile fast gänzlich vernachlässigt.
Pfister zitiert ausgiebig John McWhorther, einen schwarzen Kritiker der Identitätspolitik. Dieser beklagt, dass Weiße immer die Schuldigen sind. Ein Weißer, der keine schwarze Frau daten will, ist offensichtlich rassistisch, doch auch ein Weißer, der eine Vorliebe für schwarze Frauen hat, ist Rassist, weil er sie exotisiert. Ein Weißer, der aus einer mehrheitlich schwarzen Wohngegend wegzieht, hasst Schwarze, ein Weißer, der in eine mehrheitlich schwarze Wohngegend zieht, trägt zu Gentrifizierung und steigenden Mieten bei.
Pfister hinterfragt das Narrativ vom „weißen Privileg“ das angeblich die westlichen Gesellschaften durchziehe und bezweifelt, dass diese durch und durch rassistisch seien. Er verweist dazu zum einen auf den Bildungserfolg asiatischer Einwanderer und stellt folgende rhetorische Frage:
„Und wenn Deutschland ein ‚Albtraum‘ für alle Zuwanderer ist – warum wollten dann im Jahr 2015 Hunderttausende Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak ausgerechnet nach Deutschland?“
Derartige Worte sind aus dem Mund eines Spiegel-Redakteurs tatsächlich eine Überraschung. Wer nur das Buch rezensiert, das Pfister geschrieben hat, stellt fest, dass es überraschend gut ist. Allerdings ist vor allem entscheidend, welches Buch Pfister nicht geschrieben hat.
Dass Pfister sich gegen Identitätspolitik einsetzt, ist löblich. Doch sein Umfeld ist derart von Identitätspolitik durchsetzt, dass er nur deren extreme Auswüchse überhaupt als solche erkennt. Andere identitätspolitische Vorstellungen sind schon so fest etabliert, dass er sie als Selbstverständlichkeit wahrnimmt. Zum Beispiel wenn es heißt, dass Afroamerikaner häufiger im Gefängnis sitzen und weniger Geld verdienen. Die simple Erklärung, dass dies aus ihren höheren Kriminalitätsraten und schlechteren Bildungsabschlüssen resultiert, findet sich nicht wieder. Auch glaubt Pfister, dass die US-Polizei aus rassistischen Gründen Afroamerikaner erschießt. Doch die tödlichen Schüsse sind in den allermeisten Fällen gerechtfertigt, weil sie gefährliche Kriminelle treffen. Überdies sterben mehr Weiße als Schwarze bei den Polizeieinsätzen.
Wirklich skurril mutet es an, wenn Pfister immer wieder „N-Wort“ schreibt:
In der Analyse nehmen vor allem die New York Times, die amerikanischen Universitäten und identitätspolitische Aktivisten einen großen Raum ein. Und das ist auch gut so. Doch dort, wo Pfister auf Deutschland zu sprechen kommt, bleibt ein großer blinder Fleck. Denn hierzulande hat vor allem der Spiegel dazu beigetragen, die Meinungsfreiheit einzuengen, wofür er aber keine Kritik erfährt.
Wer „Ein falsches Wort“ liest, stellt fest, dass Pfister die Meinungsfreiheit nicht deswegen verteidigt, weil sie ein Wert an sich ist. Zum einen betont er, dass die Cancel Culture auf lange Sicht nur dem gegnerischen Lager dient und dass sie immer häufiger auch Personen aus der politischen Mitte und dem linken Spektrum trifft. Womöglich bekommt er es langsam selbst mit der Angst zu tun.
Auch Pfisters Kollege Hasnain Kazim, der durch antideutschen Rassismus auffiel, bemerkte, dass die Debatte gefährliche Züge annimmt. Ihm wurde vorgeworfen, als Pakistaner, der mit einer deutschen Frau verheiratet ist, kein „richtiger“ Schwarzer zu sein. Wie so oft frisst die Revolution ihre Kinder.
Auch wenn diese Vermutung zutreffen sollte: Die Meinungsfreiheit aus egoistischen Motiven zu verteidigen und nicht, weil man den Gegner respektiert, ist immer noch besser, als sie rundheraus abzulehnen. Zumindest besteht dann immer noch die Möglichkeit, dazuzulernen.
Immer wieder betont Pfister, dass trotz allem Donald Trump und die Republikaner die größte Gefahr für die amerikanische Demokratie darstellten. Und auch wenn er begreift, dass ungerechtfertigte Kritik das gegnerische Lager nur bestärkt, kommt er nicht auf den Gedanken, diesen Fehler womöglich auch selbst zu begehen. Den amerikanischen Vizepräsidenten Mike Pence nannte er „Ajatollah aus Indiana“. Doch dieser Vergleich geht ins Leere. Sicher, Pence ist evangelikaler Christ, der die Evolutionstheorie leugnet und daher von einer rational-wissenschaftlichen Weltsicht tatsächlich so weit entfernt ist wie die Ajatollahs im Iran. Dennoch ist er nach wie vor ein demokratischer Politiker. Im iranischen Gottesstaat hingegen werden Frauen gesteinigt, Schwule gehängt und Terrorgruppen wie die Hisbollah ausgebildet.
Doch Pfister, der begriffen hat, dass die Cancel Culture zum Aufstieg Trumps beigetragen hat, stellt sich niemals die Frage, ob nicht die Hetzkampagne gegen Thilo Sarrazin und dessen Buch „Deutschland schafft sich ab“ die Gründung der AfD begünstigte. Dessen Werke bezeichnete er als „rassistisch“ und „unappetitlich“.
Ebenso unterstützen die Spiegel-Kolumnisten Sybille Berg, Margarete Stokowski, Samira El Ouassil und Sascha Lobo in ihren Kolumnen die Antifa und damit Gewalt gegen Andersdenkende. Mittlerweile finanziert die Bundesregierung über sog. „Demokratiefördergesetze“ ebenfalls linksextreme Gruppierungen. Auch hiervon liest man nichts.
Grundsätzlich ist Pfister zuzustimmen, wenn er schreibt:
„Wie kann die SPD die Partei des Flüchtlingsschutzes sein,
wenn gleichzeitig die Zuwanderung unqualifizierter Menschen
den Sozialstaat belastet?“
Solche Worte stehen in deutlichem Kontrast zu der üblichen Berichterstattung des Spiegels ab 2015. Schließlich hatte es damals noch geheißen, nach Deutschland kämen vor allem Frauen und Kinder sowie Ärzte und Ingenieure. Angst vor Terror, Kriminalität und sexueller Gewalt seien nur „rechte Angstmache.“ Die deutsche Medienlandschaft übernahm diese Phantastereien der Bundesregierung unhinterfragt – und schränkte damit das Meinungsklima erheblich ein.
Zwar haben Politiker zu allen Epochen immer wieder gelogen, aber meist wohnte diesen Lügen noch so viel Plausibilität inne, um sie wenigstens glauben zu können. Doch derart weltfremde Aussagen, die sofort als falsch zu erkennen sind, sollen nicht geglaubt, sondern gefürchtet werden. Die Regierung muss nicht einmal betonen, dass sie diejenigen „cancelt“, die die Jubelmeldungen hinterfragen. Das versteht sich von selbst. Vor allem in Ostdeutschland dürften viele Bürger die Botschaft verstanden haben.
Wie Pfister erfreut feststellt, glaubt nur ein kleiner Teil der Deutschen, dass sich verschiedene Völker in ihrer Intelligenz unterscheiden. Doch da ist ihm wohl der wissenschaftliche Fortschritt der letzten Jahre entgangen. Forscher können immer mehr Gene identifizieren, die die Intelligenz beeinflussen und tatsächlich deutet vieles auf gruppenspezifische Unterschiede hin. Doch dies ist beim Spiegel ein Tabuthema.
Auch zum Umgang mit der AfD verliert Pfister kein Wort. Selbstverständlich muss sie sich, wie jede andere Partei auch, der Kritik stellen. Und oft genug bietet die AfD auch reichlich Angriffsfläche, wie zum Beispiel, wenn sie sich nicht eindeutig von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine distanzieren kann. Jedoch muss eine solche Kritik sachorientiert bleiben und sich in der politischen, nicht der privaten Sphäre abspielen.
Doch in den vergangenen Jahren wurde diese Grenze immer wieder überschritten. Da sind zum einen körperliche Angriffe auf AfD-Politiker oder Sachbeschädigungen von Abgeordnetenbüros und Fahrzeugen. Im politischen Betrieb wird die AfD von Bundestagsausschüssen, vom Posten des Parlamentsvizes und staatlichen Fördergeldern für die parteinahe Stiftung ausgeschlossen. Schon der freundschaftliche Kontakt zu AfD-Politikern kann das berufliche Aus bedeuten.
AfD-Politiker müssen fürchten, ihren Job oder gar die Wohnung zu verlieren. Sie erhalten Hausverbote in Restaurants, werden von Sportvereinen ausgeschlossen, dürfen ihre Kinder nicht an Privatschulen anmelden oder werden nicht mehr medizinisch behandelt. Die Wähler der AfD werden pauschal als dumm, rechtsextrem oder „Jammer-Ossis“ beschimpft.
Diesen Aspekt sucht man bei Pfister vergebens.
Zum Ende seines Buchs schreibt er: „es gibt Tabus, auch sprachliche, die zu Recht bestehen.“ Und damit hat Pfister natürlich Recht. Gewaltdrohungen, Angriffe auf das Privatleben und Verleumdungen sind nicht zulässig und können nicht mit dem Verweis auf die Meinungsfreiheit gerechtfertigt werden. Doch Pfister bleibt unpräzise und führt nicht aus, welche Positionen er weiterhin tabuisiert haben will. Womöglich möchte er weiterhin zahlreiche legitime Meinungsäußerungen ächten.
Eben deswegen ist sein Buch nur ein halber Erfolg. Ob Pfister die angegebenen Probleme schlicht nicht als Probleme wahrnimmt, oder nur die Auseinandersetzung mit seinem Arbeitgeber scheut, bleibt offen.
Lukas Mihr ist Historiker und freier Journalist. Das von ihm besprochene Buch von René Pfister trägt den Titel „Kein falsches Wort. Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika die Meinungsfreiheit bedroht“ und erschien Ende August 2022 als SPIEGEL-Buch bei der Deutschen-Verlagsanstalt.