Wann immer ein europäischer Politiker bekannt gibt, dass er die Realität der Immigration in seinem Land in irgendeiner Weise handhabbar machen will, erntet er Widerstand. Viele, auch anhaltende Missstände auf diesem Feld werden von den Bürgern hingenommen, deren Legalisierung weniger. Das gilt zumindest für die Länder Europas, die nicht auf Selbstabschaffung bedacht sind. So geschah es nun Emmanuel Macron in Frankreich.
Bisher hatte der Präsident – durch seinen Innenminister Gérald Darmanin – immer wieder und vor allem konservative Signale in der Migrationspolitik gesetzt. Sein Entgegenkommen gegenüber osteuropäischen EU-Ländern, die sich für wirksamen Grenzschutz und Grenzbarrieren aussprechen, schlug international Wellen. Nun kündigte er erneut an, die Abschiebung unerwünschter Migranten vereinfachen zu wollen. Auch die Effizienz der Zurückweisungen an französischen Grenzen, die ja konform mit Dublin-III sind, soll erhöht werden. Doch zugleich verrückt Macron die Grundkoordinaten seiner Politik in einem entscheidenden Punkt nach links.
Le Pen: Macron ermutigt weitere Migrationsströme
Die bisherige Asylpolitik seines Landes sei nämlich „ineffizient und unmenschlich“, sagte Macron im Élysée-Palast: „Unsere heutige Politik ist absurd, weil sie darin besteht, Frauen und Männer, die hier ankommen und sich im allergrößten Elend befinden, in den ärmsten Vierteln anzusiedeln.“ Damit soll nun offenbar Schluss sein. Die Migranten, die Rechts- und Aufenthaltstitel in Frankreich erworben haben, aber auch solche ohne abgeschlossenes Asylverfahren, will Macron künftig in „ländliche Gegenden“ verteilen, die „ihrerseits an Bevölkerung verlieren“. Auch Zuwanderer, die nur einen provisorischen Aufenthaltstitel besitzen, will er sprachlich und erwerbsmäßig schneller „integrieren“.
Tatsächlich will der Präsident nun an allen Fronten die Zügel anziehen: für die Migranten, aber auch für die Franzosen. So soll offenbar ein neues Asylsystem errichtet werden, das nicht mehr – wie das bestehende – „verzögernder“ Natur ist. Diese Ideen könnte sich Macron in Deutschland abgeschaut haben, denn hierzulande denken viele so, in der Bundesregierung, aber auch in den Kommunen. In Frankreich dürfte dasselbe Denken noch etwas weniger etabliert sein. Der politische Diskurs heizte sich denn auch umgehend auf. Eigentlich wollte Innenminister Darmanin das Gesetz schon im Herbst vorlegen. Nun will er im Oktober zunächst eine „große Debatte“ dazu im Parlament ansetzen. Das Regierungslager scheint sich auf größere Kontroversen einzustellen.
Marine Le Pen sprach sich auf einer Parteiversammlung in Agde, auf der sie den Vorsitz ihrer Partei planmäßig abgibt, gegen die Vorschläge aus. Den Delegierten ihrer Partei und den Bürgermeistern ländlicher Kommunen rief sie zu, der Präsident wolle den Dörfern und Städten Frankreichs „eine Immigration aufzwingen, um die Sie nicht gebeten haben“, und ermutige durch dieses Signal weitere „Migrationsströme aus der gesamten Welt“. Schon jetzt seien einige Stadtviertel „quasi unbewohnbar“.
Die Interimschefin der konservativen Républicains, Annie Genevard, kritisierte laut France Info, dass Macron hier ja nur seine eigene Bilanz beurteilt. Denn schon 2018 hatte er ein Gesetz zu Asyl und Zuwanderung beschlossen, das laut Genevard die „Umgehung“ des Asylrechts, also seine Dehnung und Beugung, beenden sollte – tatsächlich habe sich das Problem aber noch vergrößert. Doch Genevard beschränkte sich darauf, schnellere Abschiebungen zu fordern, zur Verteilung der Migranten auf die französischen Landkommunen verlor sie anscheinend kein Wort.
Ein Dorf in der Bretagne sagt Nein zu seiner „Afrikanisierung“
Laut dem Journalisten und Parteigründer Éric Zemmour hat Macron sich hier die alte Verschwörungstheorie des „grand remplacement“ (große Ersetzung, Auswechslung) in positiver Weise zu eigen gemacht: „Macron bestreitet nicht länger die Existenz der großen Ersetzung. Er geht von ihr aus und liebt sie. Er möchte sie mit Enthusiasmus organisieren.“
Im 2000-Seelen-Dorf Callac in der Bretagne, dessen Bürgermeister sich für die Aufnahme von 70 afrikanischen Familien ausgesprochen hat, protestierten laut Medienberichten 300 Bürger mit der Unterstützung von Zemmours Partei „Reconquête!“. Auf Transparenten hieß es „Nein zur großen Ersetzung in Frankreich und der Bretagne“, „Nein zur Afrikanisierung der Bretagne“. Linksextreme Vereine, darunter die Antifa, organisierten einen Gegenprotest mit etwa gleich vielen Teilnehmern.
Angeblich waren aber nicht viele Callacois unter ihnen, wie eine konservative Ex-Bürgermeisterin bemerkte. Die besorgten Dörfler wiesen derweil auf reale Probleme bei der Neuansiedlung hin: Zwar würden nun Wohnungen und öffentliche Einrichtungen für die Neuankömmlinge renoviert. Aber die Arbeitslosigkeit in der Region liegt schon jetzt bei 18 Prozent. Außerdem finden die Bretonen es ungerecht, dass die öffentlichen Mittel ausgerechnet den Migranten zugutekommen sollen, nachdem jahrelang keine ähnlichen Investitionen nach Callac geflossen waren.
Le Figaro: Bald sind die Banlieues überall
Sogar der politisch in der rechten Mitte stehende Figaro veröffentlichte ein Éditorial des Politikchefs Vincent Trémolet de Villiers, der mit bitterem Sarkasmus schlussfolgerte: „Morgen heißt es dann also, Seine-Saint-Denis für alle!“ Das Département im Norden von Paris ist berüchtigt für seinen hohen Ausländeranteil und seine Parallelgesellschaften, die Macron eigentlich einmal zurückerobern wollte, was jedoch im Sande verlief. Man kann den Ausspruch auch so übersetzen: Bald sind die Banlieues überall. Trémolet de Villiers setzte Macrons Vorhaben entgegen, die Mehrheit der Franzosen wollten eben keine „bessere Verteilung von Migranten, sondern eine Kontrolle an den Grenzen“. Sechs von zehn Franzosen würden laut einer Umfrage von 2021 ein Referendum zur Zuwanderung begrüßen.
Dass Frankreich sich nicht selbst abschafft, daran hat etwa auch Großbritannien ein Interesse. Laut Frontex sind allein im August mehr als 13.500 Migranten über den Kanal nach England gekommen. 41.000 waren es in diesem Jahr bisher insgesamt. Damit ist der August am Ärmelkanal einer der „verkehrsreichsten“ Monate seit langem. Das gilt in jedem Fall für die EU-Außengrenzen. Laut dem aktuellen Frontex-Bericht sind bis einschließlich August dieses Jahres 188.200 illegal in die EU gekommen – so viele wie seit 2016 nicht mehr.
Die Westbalkanroute brachte mit 86.581 Grenzüberquerungen die meisten Ankünfte, doch auch die zentrale Mittelmeerroute holte mit 52.900 Neuankömmlingen auf. Doch die überwiegende Mehrheit der Asylbewerber weiß auch, wo sie ihren Asylantrag am Ende stellen wollen: In der Bundesrepublik wurden bis August bereits über 115.000 Asylanträge gestellt. Mehr als die Hälfte der EU-Ankömmlinge, vielleicht am Ende noch mehr, sucht demnach ein dauerhaftes Zuhause in Deutschland.