Der neue sächsische Innenminister läutet den Alarm. Sein skandalumflorter Vorgänger Roland Wöller musste wegen Vorwürfen der Vettern- oder Amigowirtschaft im April zurücktreten. Kann Armin Schuster (CDU) reinen Tisch machen und mit deutlicher Aussprache Boden bei den Wählern wiedergutmachen? Noch im August schrieb er einen Brandbrief an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), in dem er die Überlastung durch diverse Migrationsströme beklagte und eine bessere Abstimmung zwischen Bund und Ländern forderte.
Dass die berüchtigte Balkanroute der illegalen Migration in diesem Sommer wieder Zulauf bekommen hat, ist dabei schon seit Monaten klar. Seit Juni berichten bulgarische Grenzschützer von vermehrten Ankünften von Syrern aus der Türkei: Eine „Karawane des Lichts“ soll sie nun in die lichten EU-Gefilde führen, obwohl Erdogan sie lieber in einem kolonisierten Nordsyrien ansiedeln würde (TE berichtete). Auch der Libanon will übrigens 15.000 Syrer im Monat „freiwillig“ in ihr Heimatland zurückführen, wie arabische Medien berichten – trotz Kritik der Vereinten Nationen. Die Lage in den Nachbarstaaten ist durch die aktuelle Wirtschaftskrise belastet, so dass die Beherbergung der syrischen Migranten täglich schwerer fällt. Die Folge dürften auch neue sekundäre Migrationstrecks nach Europa sein.
Auch Griechenland meldete in den vergangenen Wochen deutlich mehr Versuche von illegalen Migranten, die Landesgrenzen zu überqueren. An einem Tag im August waren es laut dem zuständigen Minister 1.500 an der Landgrenze am Evros, die an ihrem Tun gehindert worden seien. 60 Schleuser will man dabei festgenommen haben. Doch wo ein Weg versperrt wird, scheint sich ein neuer zu öffnen. So verdreifachten sich die Zahlen auch am anderen Ende der Balkanroute – in Österreich und Ungarn. In Ungarn hat Viktor Orbán seine Grenzschützer-Einheit eingeweiht, auch Österreich schickt mehr Polizisten an die ungarisch-serbische Grenze.
Zurück nach Sachsen: Bei jedem „Flüchtlingszug“ aus Prag rasen die Polizeifahrzeuge mit Blaulicht durch die Stadt, wie TAG24 berichtet. Es geht dabei um die Sicherheit, aber auch um die Registrierung der Ankommenden. Sachsen ist wie weitere elf Bundesländer – darunter auch NRW, Berlin, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Hamburg, das Saarland und Bremen – aus dem Erstverteilungssystem EASY der Bundesländer ausgestiegen (TE berichtete). Das System ist darüber kollabiert, denn die verbleibenden vier Länder dürften auch bald an die Grenze ihrer Kapazitäten gestoßen sein. Das heißt im Umkehrschluss, dass alle Migranten, die im Grenzland Sachsen ankommen, auch dort bleiben, dort untergebracht werden müssen.
Es droht die Rückkehr der Turnhallen, die erneute Zweckentfremdung der Mehrzweckhallen
Für Deutschland insgesamt errechnet der sächsische Innenminister eine Aufnahme von 170.000 Asylbewerbern im gesamten Jahr 2022, immer noch ohne Ukraine-Flüchtlinge. Das entspräche, so Schuster, erneut den Zahlen von 2017/2018 – also nicht vom Scheitelpunkt, aber doch von den Ausläufern der großen Migrationskrise seit 2015. Aber das stimmt eben nur, wenn man die restlichen Belastungen außen vor lässt – nämlich noch 30.000 Aufnahmen durch andere Aufnahmegründe (etwa „Ortskräfte“ aus Afghanistan) plus die „Schutzsuchenden“ aus der Ukraine. Aus dem Bundesinnenministerium wissen wir, dass inzwischen sicher eine Million ukrainische Flüchtlinge in Deutschland leben oder hier registriert sind. Damit wäre man bei einer Aufnahme von 1,2 Millionen Flüchtlingen und illegalen Migranten in diesem Jahr und damit bei einer Zahl, die vermutlich noch nie so da war, noch nicht einmal im stets beschworenen 2015. Von Januar bis Dezember 2015 wurden bundesweit laut Bamf rund 1,1 Millionen Zugänge von Asylsuchenden im Erstverteilungssystem EASY registriert.
Recht geben Schuster auch die deutschen Landkreise, die in eindringlichen Worten vor Zuständen wie 2015/2016 warnen. „Die Landkreise haben bei der Aufnahme und Unterbringung ukrainischer Flüchtlinge vielerorts die Kapazitätsgrenzen erreicht“, sagte der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, laut einem dpa-Bericht dem SPD-nahen Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Auf Deutsch bedeutet das die Rückkehr der Turnhallen oder besser die erneute Zweckentfremdung der Mehrzweckhallen, den Aufbau von Zeltstädten. Daneben zählt Sager Schulen, Kitas und die gesundheitliche Versorgung auf, die alle gerade zum Problem würden. Das sind Sorgen wie im Vor-Brexit-Britannien.
Verpuffende Solidarität der Länder, wo alle überlastet sind
Daneben gesteht Schuster aber alles zu, was eine anerkannt „demokratische“ Partei in Deutschland zuzugestehen hat. Seine Kritikpunkte gleichen damit Akupunkturnadeln in der Haut der Bundesministerin. Vielleicht tun sie ihr gut. Ja, die „Vorbildrolle“ Deutschlands bei der Aufnahme von „Flüchtlingen“, seine „völkerrechtliche und humanitäre Verantwortung“, aber auch die „unbegrenzte“ Zufluchtgewährung für „Schutzsuchende aus der Ukraine“ – all das müsse wahrgenommen werden, schrieb Schuster. Aber er wirft auch die Zahl von 52.000 Ukraine-Flüchtlingen in den Raum, zu denen weitere hinzukommen würden.
Auch am Königsteiner Schlüssel wollte Schuster im August noch nicht rütteln, obwohl der ja derzeit gar nicht funktionieren kann: Die Solidarität der Bundesländer muss verpuffen, wo sie sämtlich überlastet sind. Das muss bald auch für Bayern und Baden-Württemberg gelten, die Anfang September „noch aufnahmefähig“ waren. Auch Niedersachsen, wo am 9. Oktober gewählt wird, zeigt weiter breite Schultern, will noch mehr Migranten aufnehmen. Aber schwer wird das allemal, vor allem für Kommunen und Bürger.
Schuster warnt vor „geregelter Zuwanderung“ – Herrmann kritisiert „Kommandoton“ des Bundes
Hinzu kommt die „Zuweisung“ von 1.350 ehemaligen afghanischen „Ortskräften“ oder sonstigen Schutzbedürftigen an den Freistaat. Schuster warnt schon jetzt vor dem nächsten „Bundesaufnahmeprogramm“, das Faeser angekündigt, aber noch nicht größenmäßig beziffert hat. Ja, er warnt ganz allgemein vor „weiteren zuwanderungserhöhenden Maßnahmen“, etwa auch im Bereich der „geregelten Zuwanderung“. Gemeint ist die geplante Aufnahme von Kontingenten wie aus Afghanistan oder auch aus anderen Ländern. Schuster scheint eine Art Veto-Recht der Länder vorzuschlagen, was die Zuwanderung angeht, einfach weil es Länder und Kommunen sind, die am Ende die konkrete Suppe auslöffeln müssen für die Migrations-Utopien der Berliner Regierenden.
Was Schuster und Herrmann damit ansprechen, ist – das muss gesagt werden – nur der deutlich kleinere Teil der jährlichen Zuwanderung nach Deutschland. Über die 150.000 Ukrainer, die sein Bundesland seit dem 24. Februar aufnahm, beklagt sich auch Herrmann nicht. Sie besorgten sich häufig selbst Unterkünfte. Die Bettenbelegung der bayrischen Ankerzentren liegt derweil laut FAZ bei „106 Prozent“. In den Wintermonaten sei womöglich auch noch „der allerletzte Platz“ besetzt. Allerdings könnten bald noch weitere Kontingente der sogenannten „geregelten Zuwanderung“ hinzukommen, etwa wenn die EU-Abkommen mit nordafrikanischen Staaten greifen sollten (TE berichtete).
Man verspreche sich also nicht zu viel von Schusters und Herrmanns Kritik. Den beiden Staatsministern geht es vor allem um die Planbarkeit und die Finanzierung der anhaltenden Massenmigration nach Deutschland – ganz gleich wie sie begründet ist, ob durch Asyl, Flucht oder pure Armut, ob durch illegale Einreise oder Kontingentbeschluss über die Köpfe der Bürger hinweg. Man baut eine Verhandlungsposition auf, stellt sich aber keineswegs grundsätzlich gegen mehr Aufnahmen. Den Ländern soll „die Möglichkeit zur Vorbereitung der Aufnahme“ gegeben werden. Idealerweise hätte Schuster gerne „Kapazitätsabfragen“ bei den Ländern vor „Aufnahmezusagen“ des Bundes. Das hat eine gewisse Logik, wird aber einen wachsenden Zustrom weder stoppen noch abmildern, weil „Kapazitäten“ ja auch ausgebaut werden können.
Die Knappheit der Ressourcen (in Schulen, Kitas, Wohnungsmarkt, Gesundheitswesen) wird aber bleiben und die Bürger weiter und stärker belasten und einschränken, ihnen im Zweifel sogar Lebenschancen rauben. Das geschieht natürlich auch durch den rasant steigenden Finanzbedarf. Nur bleibt diese Belastung auch angesichts anderer Lasten (Gas- und Strompreise, allgemeine Inflation usf.) abstrakt.
Und die Rückführungsinitiative des Bundes? Auch in Sachsen scheitern Abschiebungen regelmäßig
Am Ende des Briefes folgt, mit erneuter Anrede („Sehr geehrte Frau Bundesministerin“), noch ein heftigerer Widerspruch, der sich auf die sogenannte „Rückführungsinitiative“ der Bundesregierung bezieht. Sie ist bis zum heutigen Tage schlicht inexistent. Es ist eigentlich unfassbar, dass ein Koalitionsvertrag neben vielen migrationsfördernden Maßnahmen ein solches Feigenblatt enthält, das aber nach acht Monaten Regieren durch kein einziges Gesetzesvorhaben, nicht einmal durch einen Vorschlag an die Verwaltung eingelöst worden wäre. Schuster vermisst „substanzielle Vorschläge“ dazu im Gesetzentwurf zum Chancenaufenthaltsrecht.
Nun scheiterte im sächsischen Leipzig die Abschiebung eines 26-jährigen Jordaniers, der sich dem Verfahren zu entziehen trachtete, indem er sich einschloss und mit Selbstmord drohte. Sein Abschiebetermin war damit verstrichen, der Mann wurde in ärztliche Behandlung überwiesen. Irgendwo konnte man lesen, dass 50 Prozent der Jordanier heute gern in die EU wollen. Das bedeutet freilich nicht, dass alle einen gültigen Asylgrund haben.
Im Fall des 26-jährigen Mohammed H., der nun so viel Gratisbeistand von lokalen Medien bekommt (etwa auch durch die Frage „Warum hat Sachsen noch keinen Chancen-Aufenthalt?“), muss zudem gesagt werden, dass er möglicherweise zur Gruppe der „Gefährder, Mehrfach- und Intensivstraftäter“ gehört. Denn sonst wäre er wohl gar nicht erst zum Abschiebungskandidaten in Sachsen geworden, wie Innenminister Schuster im Juni verkündete: „Wer vollziehbar ausreisepflichtig ist, muss unser Land auch wieder verlassen, am liebsten freiwillig. […] Bei derzeit ca. 15.000 Ausreisepflichtigen geht es allerdings um Prioritätensetzung. Vorfahrt bei der Abschiebung haben deshalb die Gefährder, Mehrfach- und Intensivstraftäter.“
Wenn diese „Vorfahrt“ dann in vielen Fällen schlicht umgangen und von mannigfaltigen Interessengruppen durchlöchert wird, dann sind auch solche Worte nicht viel wert. Außerdem wäre den deutschen Bundesländern nicht nur eine solche „Vorfahrtregelung“ zu wünschen, sondern wirklich die konsequente Abschiebung aller jener, die sich den „subsidiären Schutz“ durch ein Asylverfahren erschlichen haben. Denn dieser „subsidiäre“ Schutztitel bedeutet schlicht und ergreifend, dass der Antragsteller kein Asyl in Deutschland verdient – obwohl er nur unter dieser Annahme (dass er es verdient) eingereist ist. Was der Bund dazu beitragen kann, dass diese Rückführungen stattfinden, das würde man allerdings gerne von Staatsminister Armin Schuster erfahren.