Das heute geltende Wahlgesetz für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist das 22. seiner Art in nur 18 Legislaturperioden. Es gleicht also einem „Wackelpudding“ mehr als einem Gesetz. In seiner letzten Fassung wurde es am 14.12.2012 im Deutschen Bundestag in erster Lesung eingebracht. Die meisten Plätze im Hohen Hause blieben damals leer. Das Plenum war offenbar nicht beschlussfähig, wie sich aus der Life-Übertragung des Fernsehsenders Phoenix erkennen ließ. Ein Antrag auf Feststellung der Beschlussfähigkeit wurde aber nicht gestellt.
Mutterseelenallein saß ein höherer Beamter auf der Regierungsbank. Ein ungewohntes Bild. Er war wohl im Innenministerium für den Referenten-, also Regierungsentwurf der Behörde zuständig. Ansonsten blieb die Regierungsbank vollkommen leer. Kein einziger Minister nahm an der Plenardebatte über das Wahlrecht teil. Niemand zitierte wenigstens den zuständigen Innenminister herbei, obwohl das nach der parlamentarischen Geschäftsordnung immer möglich ist. Es gab auch eine Anhörung der Sachverständigen. Doch niemand dachte auch nur im Traum daran, sich von ihnen eines Besseren belehren zu lassen und die politischen Entscheidungen zur Disposition zu stellen. Wenn sich der Zug in einmal Bewegung gesetzt hat, kann ihn keiner mehr anhalten: Am 22. Februar 2013 wurde im Bun- destag das neue Wahlgesetz schließlich „ohne Rücksicht auf Verluste“ durch die zweite und dritte Lesung „gepaukt“. Und danach sieht es auch aus, ein politisch „übers Knie gebogene“ Machwerk aus zahlreichen Irrtümern und Widersprüchen: Überhangmandate, Stimmensplitting, „negatives“ Stimmengewicht, außer Kontrolle geratene Sperrklausel, Listennachfolge in vakante Direktmandate, leer-stehende Wahlkreise, Ausgleichs- und Ergänzungsmandate ohne Wahlhandlung, Doppelkandidaturen und Zweitstimmen-Abzug für erfolgreiche Einzelbewerber usw. usf. …
In das schlechte Bild von der Gesetzgebungsarbeit passt wie „die Faust aufs Auge“, wenn Bundestagspräsident Norbert Lammert ausgerechnet in der Antrittsrede zu seiner Wiederwahl vom 22.10.2013 ohne jede Schamfrist eine Reform der Reform verlangte, die gerade mal ein halbes Jahr alt war! Lammert mahnte die 631 Abgeordneten: „Ganze vier Überhangmandate, viel weniger als in den allermeisten früheren Legislaturperioden, haben durch die neuen Berechnungs-Mechanismen des fortgeschriebenen Wahlrechts, die für die meisten Wahlberechtigten übrigens ziemlich undurchsichtig sind, zu 29 Ausgleichsmandaten geführt. Dies lässt die Folgen ahnen, die sich bei einem anderen, knapperen Wahlausgang für die Größenordnung künftiger Parlamente ergeben könnten.“ Wollte Lammert damit andeuten, dass die nachgeschobenen Ausgleichsmandate – wie in Niedersachsen (2013) oder davor Baden-Württemberg (2011) – auch im Bund zu einem Machtwechsel führen könnten, und dieses Unding unbedingt verhindert werden muss?
„Etwas ist faul im Staate Dänemark“
Wer von nachdenklichem Gemüt ist, der muss sich schon fragen: Wenn die Wähler gar nicht wissen, wie viele Abgeordnete sie gewählt haben, wie sollen sie wissen, wen sie gewählt haben? „Etwas ist faul im Staate Dänemark“, so heißt es in Shakespeares Tragödie Hamlet. Immerhin ist das Wahlrecht des Bundes vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe schon dreimal zu Fall gekommen und man kann nicht ausschließen, dass dies noch einmal passiert. Mit der sog. „Nachrücker-Entscheidung“ v. 26.2.1998 (BVerfGE 97, 317) wurde angeordnet, dass im Fall von Überhangmandaten eine Listennachfolge für direkt gewählte Abgeordnete zu unterbleiben habe. Es folgte die Entscheidung zum „negativen“ Stimmengewicht v. 3.7.2008 (BVerfGE 121, 266), dass es zwischen Stimmen und Mandaten niemals zu einer negativen Korrelation kommen dürfe, mit fallender Zahl der Stimmen also die Zahl der Mandate nicht ansteigen könne. Mit der „Deckelung der Überhangmandate“ durch die Entscheidung vom 25.7.2012 (BVerfGE 131, 316) erreichte die Rechtsprechung ihren vorläufigen Höhepunkt. Die Zahl der Überhangmandate dürfe die Regelzahl der 598 Sitze im Parlament überschreiten, solange es weniger als 15 sind. Die Überhänge sind also zulässig, aber gedeckelt. Das ist der gegenwärtige Stand der Rechtsprechung.
Diese verfassungswidrigen Konstruktionsfehler im Bundeswahlgesetz – die der gewöhnlich anzutreffende Wähler in der Wahlkabine natürlich gar nicht erfasst – sind erst sehr spät erkannt und verworfen worden. Das hat jedoch zu dem Anfangsverdacht geführt, das Bundeswahlgesetz könnte noch andere „Macken“ haben. Und so ist es auch. Bei der Bundestagswahl v. 22.9.2013 sind insgesamt 15,7 Prozent aller Wähler an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Das hat es in dieser Größenordnung noch nie gegeben. Rechnet man nicht in Stimmen, sondern in Mandaten, dann bekleiden 93 von 598 Abgeordneten ein Mandat, das die Wähler einer anderen Partei zukommen lassen wollten. Also ist jeder sechste Abgeordnete ein untergeschobenes „Kuckucks-Kind“, das nicht von seinen leiblichen Eltern ausgebrütet wurde und einen Vaterschaftstest nicht überstehen kann. Was daran verfassungskonform sein soll, kann man niemandem erklären. Die Sperrklausel ist die „Achillesferse“ der Verhältniswahl. Genau in diesem Punkt setzt der Wahlrechtsexperte Prof. Hans Herbert von Arnim an, der mit seiner Wahlprüfungs-Beschwerde (Az 2 BvC 46/14) u.a. auch die Fünf-Prozent-Hürde vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe anhängig gemacht hat und zu Fall bringen will.
Die Sperrklausel – „Achillesferse“ der Verhältniswahl
Das Dilemma ist jedoch unübersehbar. Denn die Verhältniswahl ist ohne Sperrklausel gar nicht funktionsfähig. Wer die Sperrklausel schwächt, der riskiert, dass die parlamentarische Willensbildung in einen Kampf aller gegen alle ausartet und in Anarchie endet, weil im besten Fall vielleicht noch eine handlungsunfähige Minderheiten-Regierung gebildet werden kann, wie das zur Zeit in Spanien der Fall ist. Das legt den Gedanken nahe, ob es am Ende nicht doch besser ist, von der leidigen Verhältniswahl zur klassischen Direktwahl in überschaubaren Wahlkreisen zu wechseln, die bekanntlich ganz ohne Sperrklausel auskommt und in aller Regel trotzdem zu einer handlungsfähigen Regierung führt.
Es gibt aber auch andere Wahlprüfungs-Beschwerden, die nach der Wahl vom 22.9.2013 beim Verfassungsgericht anhängig gemacht wurden. Zwei von ihnen mit den Aktenzeichen 2 BvC 64/14 und 2 BvC 67/14 fallen dadurch auf, dass sie das duale Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimme mit fünf Gründen auf breiter Front angreifen und prinzipiell in Frage stellen. Erstens: Die neu eingeführten Landeskontingente wurden nicht eingehalten. Zweitens: Obwohl es vom Verfassungsgericht schon zweimal verworfen wurde (BVerfG v. 3.7.2008, BVerfGE 121, 266 und BVerfG v. 25.7.2012, BVerfGE 131, 316) trat das „negative“ Stimmengewicht 2013 deutlicher ans Licht als je zuvor. Drittens: Das Stimmensplitting ist ungesetzlich, gehört aber zum gewöhnlichen Erscheinungsbild aller Bundestagswahlen, ausgenommen die erste im Jahre 1949 als der Stimmzettel nur einmal gekennzeichnet werden konnte. Viertens: Die 29 Ausgleichsmandate, die nachgeschoben wurden, nachdem die Wahllokale schon geschlossen waren, können nicht auf eine unmittelbare und freie Wahlhandlung der Stimmberechtigten zurückgeführt werden und sind deshalb grob verfassungswidrig. Und Fünftens hat der Gesetzgeber die Anordnung der Verfassungsrichter (BVerfG v. 26.2.1998 (BVerfGE 97, 317 (232)) in den Wind geschlagen, „das für den Wähler kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen“. – Und so viel ist sicher: Die Verfassungsrichter lassen sich von niemanden auf den Arm nehmen und verschaukeln.
Die Ausgleichsmandate sind grob verfassungswidrig
Die Wahlprüfung ist ein Grundrecht und als solches in Art. 41 GG fest verankert. Die vorangegangenen Wahleinsprüche (Az WP 187/13 und WP 222/13) hat der Deutsche Bundestag mit Beschluss v. 9.10.2013 „niedergestimmt“. (Vgl. Bundestags-Drucksache 18/2700, Anlage 6 und Anlage 8, zugänglich auch im Internet.) Dagegen ist die Beschwerde beim Verfassungsgericht zulässig und tatsächlich auch erfolgt. Die beiden Wahlprüfungs-Beschwerden, die beim Verfassungsgericht seit Dezember 2014 (Az. 2 BvC 64/14 und 2 BvC 67/14) anhängig sind, zielen auf eine Wiederholung der Wahl unter einem verfassungskonformen Gesetz ab. Gibt das Gericht den Anträgen statt, würde die 18. Legislaturperiode vorzeitig zu Ende gehen.
Die Wahl vom 22.9.2013 müsste unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Anordnungen und Auflagen wiederholt werden. Was den letzten, den fünften Be- schwerdegrund betrifft, stehen die Prozess-Chancen besonders gut. Denn die Beschwerdeführer haben keinen Geringeren als den Bundestagspräsidenten auf ihrer Seite. Wie kein anderer hat der zweite Mann der Republik immer wieder betont, die typischen Wähler würden in der Wahlkabine nicht wissen, was sie tun, weil viele von ihnen, fast die Hälfte, den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme mit allen sich daraus ergebenen Komplikationen nicht hinreichend durchschauen. (Vgl. Rüdi- ger Schmitt-Beck, ZParl 3/1993, S. 393 ff: „Denn Sie wissen nicht, was sie tun“.) Und weil sie nicht wissen, was sie tun, tun sie in der Wahlkabine, was sie eigentlich nicht wollen.
Fassen wir es zusammen: Das geltende Wahlrechts-Änderungsgesetz – das 22. seiner Art seit 1949 – ist durchsetzt von zahlreichen Irrtümern und Widersprüchen. Die Landeskontingente wurden nicht eingehalten. Das negative Stimmengewicht trat 2013 deutlicher ans Licht als je zuvor. Das Stimmensplitting ist ungesetzlich. Die Sperrklausel ist 2013 außer Kontrolle geraten: Mehr als jeder sechste Abgeordnete bekleidet ein Mandat, dass die Wähler einer anderen Partei zukommen lassen wollten. Durch die 2013 auch im Bund neu eingeführten Ausgleichsmandate wird das Wahlergebnis verfälscht. Sie sind deshalb grob verfassungswidrig. Und das gilt nicht nur für den Bundestag, sondern auch für die betroffenen Landtage. Last but not least sind die gewöhnlich anzutreffenden Wähler nicht in der Lage, das komplizierte Wahlsystem hinreichend zu durchschauen.
Es hängt also ein Damoklesschwert über der Berliner Republik. (Vgl. „Die Berliner Republik unter dem Damoklesschwert / Wahlgesetz, Wahlgrundsätze und Wahlprüfung“, 10/2016, ISBN 978-3-7103- 2880-0.) Doch was wirklich passiert, bleibt ungewiss. Denn vor Gericht und auf Hoher See sind wir alle in Gottes Hand.
Manfred C. Hettlage ist rechts- und wirtschaftspolitischer Publizist. Mehr zur Person des Autors und speziell zum Wahlrecht auf www.manfredhettlage.de.