Kann man von einem TV-Duell sprechen, wenn es im Internet statt im Fernsehen läuft? Zumindest dem Charakter nach hatten sich Enrico Letta vom linken Partito Democratico und Giorgia Meloni von den nationalkonservativen Fratelli d’Italia in jenem Format getroffen, wie es in den USA zur Tradition geworden ist und seit 2002 auch in Deutschland Einzug gefunden hat. Vielleicht war es auch besser so. Eine kürzlich veröffentlichte Statistik belegt, dass das staatliche Fernsehen den Partito Democratico (PD) und den linksalternativen Movimento 5 Stelle (M5S) in der Senderzeit überproportional bevorzugt.
So traf man sich auf dem neutralen Territorium auf Corriere.tv, der Sparte der großen Tageszeitung Corriere della Sera. Chefredakteur Luciano Fontana erwies sich als neutraler Moderator, der auch ein Auge zudrückte, wenn ein Kandidat ein paar Sekunden länger brauchte oder einer der Kandidaten die Chance nutzte, neben der üblichen Redezeit den Gegner zu stellen. Der Themenmix Ukraine/Ausland, Wirtschaft, Energie, Migration, Justiz, Verfassungsreform, EU und Familie gewährte beiden Kandidaten die Möglichkeit, ihre Schwerpunkte auszuspielen.
Meloni erklärte dabei ihre Ukraine-Politik in einer prinzipiellen Vision: Es gehe darum, dass Italien in Europa eine Rolle als ernstzunehmender Partner einnehme, der sich an seine Versprechen und Allianzen halte. Deshalb habe man die Regierungspolitik auch in der Opposition unterstützt. „Ein Italien, das sich seiner Verantwortung entzieht, würde dafür bezahlen und wäre das Italien der Spaghetti und Mandolinen“, sagte die rechte Spitzenkandidatin.
Das Thema Energie nutzte Letta als Aufschlag für eine Reformation der EU. Ähnlich wie Bundeskanzler Olaf Scholz forderte der Sozialdemokrat ein Ende des Vetos der Mitgliedsstaaten. Länder wie Ungarn torpedierten die gemeinsame europäische Politik, ob bei Russlandsanktionen, Energie oder Migration. Meloni hielt dagegen: Das kleine Ungarn mit seinen paar Millionen Einwohnern sei wohl kaum das Problem in der jetzigen Energiekrise. Vielmehr trage Deutschland mit seiner Gaspolitik einen erheblichen Teil der Verantwortung – nicht zuletzt, weil es auf EU-Ebene zusammen mit den Niederlanden einen Gasdeckel verhindere. Bissig erklärte Meloni, dass dieselbe Union, die einst für Kohle und Stahl gegründet worden sei, nunmehr keine Antwort auf die Energiekrise habe.
Ärger gab es auch beim Wiederaufbauplan nach der Corona-Pandemie. Letta sah die Verhandlungen als abgeschlossen an, Meloni dagegen wollte nachjustieren angesichts von Preissteigerung, Inflation und Energiekrise. Das rechte Lager hatte bereits in der Vergangenheit angekreidet, dass im Plan viel Geld für Klimapolitik ausgegeben werde und viel zu wenig für den Mittelstand. Hier setzte Letta an: Die Fratelli d’Italia hätten bei der Abstimmung nicht dagegen gestimmt. Meloni entgegnete: Man habe sich enthalten, weil das seitenlange Gesetzespapier so lang war, dass niemand genau gewusst habe, was darin geschrieben stand.
Beim Thema Migration gab Letta neuerlich dem Veto-Recht der EU-Mitgliedsländer die Schuld daran, dass es keine Lösung gebe. Osteuropäische Länder wie Ungarn oder Polen hätten eine „gemeinsame Migrationspolitik“ verhindert. Wie diese nach Lettas Überzeugungen ausgesehen hätte, kann man erahnen, wenn der PD-Chef die deutschen Integrationsmühen lobt. Die Bundesrepublik habe 500.000 Migranten integriert. Woher diese Zahlen kommen, weiß niemand. Stattdessen sieht man, wie unter dem Erfolgsmythos, den Angela Merkel in die Welt gesetzt hat, auch ausländische Konservative leiden, weil Linke sie als Kampfmittel nutzen.
Melonis Gegenposition: Stabilisierung Libyens, Verhinderung der Überfahrten vor Ort, Einrichtung von Hotspots, Unterscheidung von Migranten und Flüchtlingen. Zudem forderte sie mehr Verständnis für Osteuropa. Sie verwies auf eine Metapher Johannes Pauls II., demnach Europa mit zwei Lungenflügeln atme. Stattdessen tue man so, als gäbe es in der EU eine erste und eine zweite Liga.
Zu einer scharfen Auseinandersetzung kam es bei der Diskussion über die Verfassungsreform. Meloni setzte sich für eine semipräsidentielle Republik nach französischem Vorbild ein. Sie solle mehr Stabilität gewähren und zugleich Szenarien wie in den letzten Jahren vermeiden, in denen die Bürger nur wenig Kontrolle über die Regierung hatten. Als Letta mit dem Wert der Verfassung argumentierte, fuhr Meloni dazwischen: Offenbar seien Verfassungsänderungen nur erlaubt, wenn die Linke an der Macht sei. Der Entwurf der Fratelli d’Italia orientiere sich an dem, der unter der Regierung von Massimo D’Alema ausgearbeitet worden sei – einem ehemaligen Parteifreund Lettas.
Nicht nur inhaltlich unterschieden sich die Kandidaten. Letta neigt zu langen, rhetorisch geschliffenen Sätzen. Professionell bleibt sein Blick auf die Kamera gerichtet, seine Gestik ist ruhig. Alles an Letta wirkt bis ins letzte Detail geübt und hundertmal exerziert. Der Ton ist akademisch, abgeklärt und sachlich. Das lässt ihn seriös erscheinen – und als mit allen Wassern gewaschener Funktionär.
Meloni dagegen wirkt immer etwas nervös, gestikuliert, konzentriert sich manchmal auf sich selbst, schaut in verschiedene Richtungen, reibt sich mal an ihrem Kleidungsstück, faltet dann wieder die Hände, verliert den Augenkontakt zur Kamera. Manchmal echauffiert sie sich über Lettas Satz, fällt ins Wort. Zugleich sind ihre Sätze kürzer, prägnanter, aber nicht populistisch. Meloni verstellt sich nicht, sie ist ganz die Römerin von nebenan.
Letta kommt mit seinem Auftreten deutschen Befindlichkeiten deutlich näher als die lebhafte Meloni. Aber es ist Wahlkampf in Italien, nicht in Deutschland, und die Präferenzen sind andere. Lettas geschliffene Art erscheint vielen Italienern monoton und leblos. Anderen gefällt dagegen Melonis Garderobe nicht. Unflätigkeiten und Beschimpfungen bleiben aus. Meloni kontert direkt und stellt ihre Positionen klar, Letta beharrt auf das Gesagte, bleibt ruhig.
Welche Auswirkungen das Duell hatte, bleibt dahingestellt – ähnlich wie in Deutschland. Obwohl das Format im Internet und nicht im Fernsehen lief, behielt es seine Relevanz. Das einzige Zusammentreffen der Spitzenkandidaten des linken und des rechten Lagers wurde von allen Medien besprochen und war auch Thema in den sozialen Medien. Dass dabei das jeweilige Lager seinen eigenen Kandidaten als Sieger sah – nicht überraschend.
Was bleibt, ist die Ansage Melonis gegen Ende des Duells. Da fragte Fontana nach, ob sich im Falle einer fehlenden Mehrheit beide Kandidaten eine große Koalition vorstellen könnten. Meloni wiegelte ab: „Eine gesunde Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass man sich in der Wahlkampagne heftig bekämpft, und nicht danach tut, als wäre nichts gewesen.“ Es war der einzige Punkt neben der Ukraine-Politik, in dem sich die beiden Kandidaten einig waren.