Im Vorfeld der EZB-Sitzung am Donnerstag gab es unter Bankern und Volkswirten nur noch ein Rätselraten, ob das Direktorium der Notenbank die Zinsen um 0,5 oder 0,75 Prozentpunkte anheben würde. Am Nachmittag gab die EZB dann die Erhöhung um 75 Basispunkte bekannt – den größten Zinsschritt in der Geschichte der Gemeinschaftswährung.
Der Hauptrefinanzierungssatz, zu dem sich Geschäftsbanken Geld bei der EZB leihen, steigt damit auf 1,25 Prozent. Angesichts einer Inflationsrate von gut 10 Prozent in Deutschland und Raten von über 20 Prozent in den baltischen Staaten schien dieser Schritt der EZB-Führung dann am Ende unvermeidlich – obwohl ihn Bankchefin Christine Lagarde und die Notenbankchefs der hoch verschuldeten Euro-Länder lange hinauszögerten und nur widerwillig akzeptierten.
Die Euro-Manager mussten in den vergangenen Tagen zusehen, wie die Gemeinschaftswährung auf ihren tiefsten Stand seit 20 Jahren fiel, und die Parität zum Dollar deutlich unterschritt. Zu dem Misstrauen der Investoren führten mehrere Faktoren: erstens der große Zins-Unterschied zu den USA, der dort in der Bandbreite zwischen 2,25 und 2,50 Prozent liegt, was die Investition in Zinspapiere wieder attraktiv macht. Das wiederum führt zu einem massiven Kapitalabfluss aus Europa in die Vereinigten Staaten. Außerdem ziehen vieler Anleger auch wegen der Energiekrise und der beginnenden Rezession ihr Geld aus der Eurozone ab. Der schwache Euro macht Importe aus anderen Währungsräumen teurer, was vor allem angesichts der massiven Flüssiggaseinkäufe aus Übersee die Inflation im Euro-Raum zusätzlich antreibt.
Die Wirkung des Zinsschrittes ist deshalb paradox: Zum einen nicht groß genug, um die Geldentwertung zu stoppen. Zum anderen so groß, dass er wegen der ansteigenden Kreditzinsen das ohnehin schon schwache wirtschaftliche Wachstum in der Eurozone noch weiter drücken und die Staatsverschuldung noch stärker anfeuern dürfte. Die EZB deutete deshalb auch an, sie könnte demnächst wieder verstärkt Staatsanleihen bestimmter Staaten kaufen, um den so genannten Spread zu verkleinern – den Unterschied zwischen den Zinsen für deutsche Staatsanleihen und denen von Ländern mit geringerer Bonität. Das hieße nichts anderes als: Rückkehr zum eigentlich nie wirklich beendeten Krisenmodus.
Während die Eurozone aus Rücksicht auf Hochschuldenstaaten ihre Zinsen nicht sehr weit über die aktuellen 1,25 Prozent anheben kann, enteilen die US-Zinsen mit großen Schritten. Die meisten Marktteilnehmer erwarten von der Fed für September einen Schritt von ebenfalls 0,75 Prozent schon im September. Und weitere Zinsschritte sollen folgen. Fed-Direktoriumsmitglied Loretta Mester etwa hält eine Anhebung der Zinsen auf über 4 Prozent Anfang 2023 für nötig. Eine solches Zinsniveau im Euroraum würde Italien kollabieren lassen – beziehungsweise ein neues riesiges Stützungsprogramm nötig machen.
Die Währungshändler reagierten am Donnerstag jedenfalls kaum auf die Nachricht aus der EZB-Chefetage: Nachdem er sich kurz über die Parität gekämpft hatte, fiel der Euro am späteren Nachmittag wieder unter den Dollar.