Tichys Einblick
Reservebetrieb für AKWs

Habecks AKW-Plan: Ein Gipfel der Dreistigkeit

Von „stundenhaften Mangelsituationen“ im Winter ist die Rede, Deutschland befindet sich in einer existenziellen Energiekrise – und der Wirtschaftsminister gibt zwei Kernkraftwerken eine Gnadenfrist von vier Monaten auf Abruf. Denn die Ursachen für die deutschen Probleme liegen im Ausland. Dreister geht es nicht mehr.

IMAGO / Bernd Elmenthaler

Wenn die Ampel bereits jetzt eine historische Marke gesetzt hat, dann in ihrer Kommunikation. Da ist ein FDP-Justizminister, der für nichts verantwortlich ist; ein SPD-Gesundheitsminister, dessen Logikstränge höchstens noch in einer Parallelwelt Sinn ergeben; und eine grüne Außenministerin, deren Äußerungen so umstritten sind, dass ein ganzes Bataillon von Pressestellen und „Faktencheckern“ ausströmt, um den Stein des Anstoßes als russische Propaganda zu entlarven.

Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck macht da keine Ausnahme. Seine Anhänger dichten ihm an, die Welt schnörkellos zu erklären. Man schätzt an ihm, dass man ihn angeblich so gut versteht. Wie also würde Robert Habeck an diesem schicksalsschweren 5. September, an dem die Grünen den heißersehnten Atomausstieg verschieben würden, richtig einordnen, um die Anhänger bei der Stange zu halten?

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Wer die ersten Minuten der Pressekonferenz am Montagabend verfolgte, wollte seinen Ohren nicht trauen. Die selbstverschuldete deutsche Energiewende, die mittlerweile spürbare Auswirkungen auf Nachbarländer wie Tschechien hat, und deren Scheitern spätestens deutlich wird, wenn es bei uns zu Problemen führt, dass französische Kraftwerke nicht mehr den benötigten Importstrom liefern, kam erwartungsgemäß nicht vor.

Stattdessen betonte Habeck am Anfang der Konferenz: Die Versorgungssicherheit in Deutschland sei hoch, Deutschland ein Stromexportland. „Wir haben eine große Netzstabilität, wir haben genug Energie in Deutschland und versorgen unsere europäischen Nachbarn mit dieser Energie“, sagte der Wirtschaftsminister.

Man staunt: Wenn Deutschland so ein vorbildliches Energieland ist, das auch noch das Ausland beglückt, warum gibt es dann diese Pressekonferenz? Warum mobbt Deutschland andere Länder wegen Gasmangels und drängt zu europäischen Gassparmaßnahmen? Warum gibt es bei uns überhaupt einen Gasnotfallplan – und warum schreibt Bloomberg nahezu täglich Horrorgeschichten über den explodierenden deutschen Strompreis, der die Industrie erwürgt? Warum mehren sich Nachrichten über Unternehmen, Handwerksbetriebe oder Familienbetriebe, die wegen der Energiekrise nach Generationen ihre Pforten schließen?

Habeck hat eine Antwort, die sich auf eine simple Botschaft zurechtstutzen lässt: Die Umstände – und insbesondere das Ausland – sind schuld. „Natürlich sind wir Teil eines europäischen Energiesystems, das heißt, das, was in den europäischen Nachbarländern passiert – oder nicht passiert –, beeinflusst auch den deutschen Energiemarkt“, sagt Habeck. „Dieses europäische Energiesystem und dieses besondere Jahr führen dazu, dass ein drittes Mal die Versorgungssicherheit intensiv geprüft wurde.“

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Übersetzt: Alles lief nach Plan, bis uns die Wirklichkeit einholte. Die Gesamtsituation ist schuld. Die Gesamtsituation, das sind: die Ausfälle von russischem Gas und ihrem Ersatz; das „Nicht-am-Netz-sein“ französischer Atomkraftwerke in einem „großen und stetigen Ausmaße“; das Niedrigwasser, das die Rheinschifffahrt behindert, damit die Kohletransporte und Kohleverstromung; sowie die Verminderung der Wasserkraft von Norwegen bis zu den Alpen. Hat denn vielleicht auch Deutschland einen winzigen Anteil an der Misere? Natürlich gesteht Habeck ein: Man habe „geschludert“. Wobei? Die Antwort war klar: beim Ausbau der „Erneuerbaren Energien“.

Die Einführung reicht, um zu wissen, was Habeck hier versucht: Die Frage der AKWs ist nicht nur eine nationale, sondern eine europäische Frage. Die Grünen als Pro-Europäer können den Kontinent nicht hängen lassen. Deutschland wird gebraucht: als erfolgreicher Stromproduzent. Dafür muss man Opfer bringen. In grüner Übersetzung: Das große Opfer ist der Weiterbetrieb zweier Kernkraftwerke. Aber auch das ist eine einzige Mogelpackung. Denn es geht nicht um eine Laufzeitverlängerung oder einen Streckbetrieb. Die zwei Kraftwerke Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim in Baden-Württemberg bleiben als Notreserve im Standby-Modus; ein Streckbetrieb auf Abruf. Im April ist Ende.

Dass Habeck dabei nonchalant die französische Atomkraft für den Ausfall verantwortlich macht und damit als unzuverlässig deklariert, ist nur einer der vielen Gipfel der Dreistigkeit angesichts des Dauerausfalls grüner Technologien, die Deutschland erst in die Gasfalle gelockt haben, weil Strom und Wärme irgendwoher kommen müssen, wenn der Wind mal nicht weht. Die nächste Dreistigkeit ist der Spagat, einerseits die Bedrohung so weit herunterzuspielen, dass man wenigstens ein Kraftwerk vom Netz nehmen kann, sie aber wenigstens so hochhalten muss, dass man am Ende nicht zur Rechenschaft gezogen wird, wenn im Winter das einzige Licht von lodernden Fackeln ausgehen sollte, begleitet von glitzernden Mistgabeln.

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Diese Doppelstrategie findet sich im Satz, dass „stundenweise krisenhafte Situationen im Stromsystem im Winter 22/23 zwar sehr unwahrscheinlich sind, aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden können“, wie es in einer Mitteilung des Ministeriums heißt. Zudem betont der Minister, dass es sich bei der Atomkraft um eine „Hochrisikotechnologie“ handelt, so, als stünde der GAU jeden Tag bevor. Mit der Atomkraft sei „nicht zu spielen“. Und: „Am Atomausstieg, wie er im Atomgesetz geregelt ist, halten wir fest.“ Der theoretisch erwartete GAU hat immer noch ein größeres Potenzial als die praktisch bestehende Energiekrise.

Die nächste Dreistigkeit: „Unsere Botschaft ist ganz klar: Es ist sinnvoll und notwendig, alle Möglichkeiten zur Erhöhung der Stromerzeugung und der Transportkapazitäten zu nutzen.“ Das ist eine klare Lüge. Würde Habeck wirklich alle Möglichkeiten ausnutzen wollen, blieben nicht nur drei Kraftwerke am Netz. Es würden auch noch die kürzlich abgeschalteten drei AKWs wieder ans Netz angeschlossen.

So bleibt von der Entscheidung nur ein Basargeschäft übrig, wie es üblich in der Berliner Republik ist: Eine Partei ist für ein Projekt, Sachverständige bestätigen den Sinn des Projekts, aber die andere Partei ist dagegen. Kompromiss: Zwei AKWs bleiben, eins muss weg, und niemand ist zufrieden. Dass sich die FDP am Abend heftig gegen die Entscheidung wehrte und auch behauptete, dieser Vorstoß sei nicht abgestimmt gewesen, zeigt auch, dass der vermeintliche demokratische Kompromiss nicht nur eine Chimäre ist, sondern eine gefährliche Angelegenheit, wenn die Wahrheit nicht in der Mitte liegt, sondern Auswirkungen auf Leib und Leben haben kann.

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Der 5. September ist damit der Tag einer Bankrotterklärung. Für Habeck und seine Partei dürfte die in einem Monat stattfindende Niedersachsen-Wahl eine größere Rolle spielen als der Wohlstand der Bürger. Der Wirtschaftsminister sieht der deutschen Wirtschaft achselzuckend zu, wie sie aufgrund explodierender Stromkosten noch deutlicher kollabiert als in der Corona-Krise. Jeden Tag stirbt ein Traditionsgeschäft in der Republik und der Minister möchte noch erproben, ob es auch ohne Strom geht. Deutschland müsste von seinen europäischen Nachbarn für diese Hasardeurshaltung eigentlich in Haftung genommen werden.

Doch der 5. September ist noch ein anderes Datum. Es ist der Tag, an dem Russland angekündigt hat, Nord Stream 1 werde so lange nicht mehr in Betrieb genommen, bis die Sanktionen aufgehoben worden sind. Weder sieht es derzeit nach einem militärischen Sieg einer der beiden Kriegsparteien noch nach diplomatischen Möglichkeiten aus. Der Krieg wird wohl noch Monate dauern – mit unabsehbaren Konsequenzen.

Die Geschichte hat nicht nur an die Tür geklopft – sie steht im Wohnzimmer und rüttelt den dösenden Michel. Statt die internationalen Zusammenhänge – wie den „europäischen Energiemarkt“, den Herrn Habeck ja selbstlos retten will – zum Anlass zu nehmen, um die Wende von der Wende einzuleiten, bleibt der grüne Minister bei parteipolitischem Geschacher. Die Kernkraft bleibt ab Silvester nur im Standby-Modus, um zugeschaltet zu werden und dann aus der bundesrepublikanischen Historie zu verschwinden.

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Vielleicht haben wir die religiösen Überzeugungen des Vizekanzlers bisher unterschätzt, denn offenbar glaubt Habeck an energiepolitische Osterwunder. Warum ab April wieder alles in Ordnung sein soll, bleibt unbeantwortet. Die unruhigen weltpolitischen Stürme, in die Europa eingetreten ist, hören nicht auf. Eine grundlastsichernde Energie wie die Kernkraft wird dringend benötigt – spätestens im Winter 2023/2024. Bereits dieses Jahr konnte Habeck – das gibt er offen zu – gar nicht absehen. Warum sollte es beim nächsten anders sein?

Es bleibt der Eindruck eines billigen Täuschungsmanövers. Habeck will nicht schuld sein, wenn es zum Blackout kommt: Schließlich hat er ein paar Kraftwerke weiterlaufen lassen. Er könnte im Notfall behaupten, dass Deutschland auch mit Atomkraft in der Stromnot stecke. Er will aber auch nicht am Ausstieg aus dem Ausstieg schuld sein, sollte sich zeigen, dass in der Krise die vermeintliche Risikotechnologie die risikoloseste Alternative auf einem unendlichen Schachbrett mit unbekannten gegnerischen Positionen ist.

So oder so: Mit derselben Perfidie, mit der Habeck die Schuld nicht in Deutschland, sondern in Europa und den „Umständen“ sucht, versucht er selbst mit dieser Mogelpackung der Kernkraft einen größeren Schaden denn je zuzufügen. Dass Habeck dabei jedoch selbst Zweifel hat, ob die Kernkraft nicht doch die richtige Option gewesen wäre, zeigt sich darin, dass er sich nicht wagt, den ideologischen Pfad komplett weiterzugehen. Man hofft wohl darauf, dass ab dem Frühling die französischen Atomkraftwerke wieder einwandfrei laufen, damit wir unsere abschalten können.

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