Tichys Einblick
Tschechien als Opfer der Leipziger Strombörse

In Prag demonstriert man auch gegen die deutsche Energiewende

Im Stromerzeugerland Tschechien steigen die Preise in den Himmel. Grund dafür: Über den einheitlichen Strommarkt exportiert das grüne Deutschland seine Probleme in das nahe Ausland. Die Wut der Tschechen wächst.

Proteste gegen die Regierung in Prag, 03.09.2022

IMAGO / CTK Photo

Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis der Ukraine-Krieg von den Euroföderalisten massiv missbraucht würde. Vorige Woche forderte Olaf Scholz beim Vortrag im Prager Karolinum, das Prinzip der Einstimmigkeit in der Europäischen Union wesentlich abzubauen. Intern erklärt Deutschland, das zusammen mit Frankreich diese Agenda vorantreibt, sein Anliegen den mittelosteuropäischen Gesprächspartnern ungefähr so: Ihr wollt doch, dass die EU für die Ukraine sorgt. Okay, machen wir, dafür aber müssen wir das Veto teilweise abschaffen. Es gehe doch nicht, dass Viktor Orbán, der Putin-Freund, unsere Bestrebungen blockieren darf.

Die tschechische Regierung, von anderen Visegrád-Staaten wie Ungarn oder Polen ganz zu schweigen, wird sich diesem Vorstoß zugunsten von noch mehr Mehrheitsabstimmungen widersetzen. Dasselbe gilt für Skandinavien – Dänemark, Schweden, Finnland. Scholz wirkte deswegen in Prag wie ein Besucher vom Mars. Zu dem Zeitpunkt wurden erste massiven Straßenproteste erwartet.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Die Preise für Benzin, Gas und Strom gehen durch die Decke, und obwohl die Regierung und ihr etwas gelähmter Ministerpräsident Petr Fiala es bisher nur auf Wladimir Putin und seinen Krieg abzuwälzen verstanden – auf einmal verfängt es nicht mehr. Weil der Strom nicht importiert, sondern hierzulande genügend erzeugt wird, sieht man plötzlich das Hauptroblem nicht mehr bei Russland, sondern in Deutschland.

Den Strom bekommt der Tscheche viel teurer, weil sein Land Teil des mitteleuropäischen Strommarktes ist. Ausfälle in Deutschland, verursacht durch die „Erneurbaren“, die entweder mit Gas oder eben – oftmals tschechischen – Importen ausgeglichen werden müssen, verteuern ihm seine Rechnung.

Es bahnt sich hier eine echte Katastrophe an. Noch vor dem letzten Preissprung, zum Beispiel im Juli, war der Strom für Haushalte in Prag der teuerste in allen europäischen Metropolen, und zwar nicht nur auf Kaufkraftparität umgerechnet, sondern absolut. In Prag lag der Preis im Juli bei 53 Cent pro KWh, in Berlin bei 35 Cent, in Paris unter 25 Cent. Wenn man bedenkt, dass Tschechien zu den relativ gesehen stärksten Exporteuren von Strom gehört (10 bis 15 Prozent der jährlichen Produktion) und dass der Durchschnittslohn heute 1520 Euro ausmacht, ist die Lage absurd und wirtschaftlich sehr gefährlich. Viele Fabriken melden, sie stünden kurz vor der Schließung, oder erwägen ihre Produktion ins Ausland zu verlegen – häufig außerhalb der EU.

Worin aber besteht die Schuld Deutschlands? Siebzig Prozent des tschechischen Stroms wird vom quasistaatlichen Konzern ČEZ (staatlicher Anteil 70 Prozent) erzeugt. Es handelt sich um den größten Energiekonzern in Mittel- und Osteuropa. Die ČEZ-Gruppe verkauft auf der Strombörse in Leipzig. Auch die Mengen, die der ČEZ-Konzern in Leipzig nicht verkauft, kann er deshalb dem tschechischen Verbraucher für den Börsenpreis verkaufen, also für den (höheren) deutschen Preis.

Tschechische Produktionskosten (ohne Steuern, ohne Entgelt für Distribution und ohne Emmisionszertifikate) waren Anfang dieses Jahres, also noch vor der Preisexplosion Ende August, je nach Kraftwerktyp fünfzehn- bis zwanzigmal niedriger als der Strompreis am „Markt“.

Breites Bündnis auf dem Wenzelsplatz
Energieproteste in Prag: Zehntausende demonstrieren gegen Untätigkeit der Regierung
Es liegt auf der Hand, dass ČEZ die Börse in Leipzig sofort verlassen müsste. Das Unternehmen will aber nicht, vermutlich weil die Managergehälter von den Gewinnen abhängen. Aber auch die Regierung hat sich dazu bisher nicht durchgerungen – und hier wird es politisch interessant. Die tschechische Regierung behauptet, es gehe nicht so leicht, weil sonst die Minderheitsaktionäre den Staat verklagen könnten. Worüber sie nicht spricht, sind die politischen Rücksichten auf die Bundesregierung. Deutschland muss in der Flaute unbedingt Strom importieren.

Auch Robert Habeck war unlängst im Rahmen der tschechische EU-Ratspräsidentschaft in Prag. Die Bedeutung von tschechischen Importen für den deutschen Strommarkt spielte er herunter. Zugleich warnte er seine tschechischen Gesprächspartner vor der „Unterhöhlung“ des einheitlichen Marktes.

Hier kommt das Gas ins Spiel. Fast 100 Prozent des Gases fließt aus Deutschland nach Tschechien – mit einem massiven Zuschlag, weil Uniper es den tschechischen Kunden meistens am Spotmarkt verkauft. Aber dass das Gas durch den deutschen Umweg vier- bis fünfmal teurer (Stand Frühling) für tschechische Kunden wird, spielt keine so wichtige Rolle, seitdem man nicht mehr sicher ist, ob es im Winter überhaupt noch Strom gibt. Im Hinblick auf Gas und Erdöl ist die Tschechische Republik heute auf Deutschland und seine Rohre angewiesen. Deshalb sagt ein Mitglied der ODS-Führung (die Bürgerlichen, momentan von Petr Fiala geleitet) unter vier Augen: „Wenn du jemanden brauchst, so wie wir jetzt die Deutschen beim Öl und Gas brauchen, dann zögerst du ein bisschen, ihnen den Strom-Krieg zu erklären.“

Also versuchte Premier Fiala Kanzler Scholz für die Abkopplung der Strompreise vom Gaspreis zu gewinnen, was Fiala derzeit „eine gesamteuropäische Lösung“ nennt. Fiala konnte jedoch Scholz in diesem Punkt kein Versprechen abgewinnen.

Tschechien
Tschechischer Präsident Zeman: „Grüner Wahnsinn“ für Energiekrise verantwortlich
Fiala, ein anständiger, aber nicht gerade durchschlagskräftiger Mensch, sagte Scholz auch, er würde es begrüßen, wenn die verbleibenden drei AKWs in Deutschland am Stromnetz blieben. Und seine Leute sondieren mit größter Vorsicht, ob man den Emissionshandel nicht aufweichen oder sogar für zwei Jahre volkommen abschalten könnte. Bisher sind aber, so berichten Quellen in Prag, die meisten Regierungen in Westeuropa dazu nicht bereit, und die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erst recht nicht.

Inzwischen bekommen immer mehr Tschechen neue, immer höhere Rechnungen für Vorauszahlungen für Gas und für Strom, den viele sich bald nicht mehr leisten können. Auch Fiala kommt nicht umhin, den Strompreis zu regulieren, notfalls durch einen nationalen Sonderweg, der von der Leipziger Strombörse wegführt.

Die oben erwähnte Demo in Prag fand diesen Samstag statt, auf dem historisch beladenen Wenzelsplatz. Es wurde protestiert gegen: Preiserhöhungen, künstliche Energieknappheit, Fiala, die EU – und immer wieder auch gegen die deutsche Energiewende. Ein aufstrebender Politiker namens Jindřich Rajchl rief in die Menge: „Ich beschuldige den Premier Fiala, der wiederholt und konsequent die Interessen der Bundesrepublik Deutschland und der übernationalen Korporationen den Interessen der tschechischen Bürgern vorzieht, des Hochverrats.“

Rajchl ist ein unangenehmer Menschenschlag, schierer Populist. Aber die laut Polizeiangaben 70.000 Tausend oder laut Veranstalter 100.000 bis 120.000 Demonstranten stimmten ihm zu. Über den einheitlichen Strommarkt exportiert das grüne Deutschland seine Probleme in das nahe Ausland. Und das Ausland kocht langsam vor Wut.

Anzeige
Die mobile Version verlassen