Zu den gruseligsten Figuren der Filmgeschichte gehört Mutter Bates. Sie ist tot, ihr Sohn Norman hat den Leichnam geklaut, präpariert und stellt ihn nun am Fenster aus, um ihr Weiterleben vorzutäuschen. Ähnlich gruselig steht es um die „Schuldenbremse“. Neben dem Tempolimit ist sie das letzte Symbol, mit dem die FDP zeigen will, dass die Ampel mehr ist als nur Rot-Grün mit liberalen Mehrheitsbeschaffern. Doch eigentlich ist die Schuldenbremse so tot wie Mutter Bates und umso näher man ihr kommt, desto gruseliger wird der Anblick.
Die härteste Kritik kommt vom Bundesrechnungshof: „Aus dem Haushaltsentwurf wird die wahre Lage der Bundesfinanzen nicht deutlich.“ So formulieren es die Beamten in einem Bericht, über den zuerst die Nachrichtenagentur AFP berichtet hat. Ausgaben würden verlagert und schönten so das Lagebild. In Wirklichkeit nehme der Bund Kredite in Höhe von rund 78 Milliarden Euro auf. Viermal so viel, wie es Finanzminister Christian Lindner (FDP) mit seinem Entwurf vorgaukeln will. Damit werde „die Funktion der Schuldenregel stark eingeschränkt“, beschreiben es die Beamten – die Schuldenbremse ist so tot wie Mutter Bates, würden es Cineasten sagen.
Die kommende Woche ist Haushaltswoche. Das Etatrecht ist das Königsrecht eines Parlaments. Zumindest in Parlamenten, in denen sich Abgeordnete als selbstbewusste Volksvertreter definieren. An keiner anderen Stelle kann die Legislative so stark ins Tagesgeschäft der Exekutive eingreifen, wie mit der Finanzgebung. Es ist kein Zufall, dass die Regierung diese Woche mit dem „Entlastungspaket“ einläutet. Denn es lenkt die Aufmerksamkeit ab. Den Bürgern und ihren Journalisten wirft sie damit Brotkrumen hin. Letztere können die Regierung loben und sich trotzdem in Kritik üben im Stile von: Paket sei gut, aber wir brauchen mehr davon.
Viel wird diese Woche diskutiert werden über die paar hundert Euro für Rentner und auch, dass es gerne noch ein paar Euro mehr sein dürften. Die rund 500 Milliarden Euro, die der Bund mittlerweile ausgibt, sind da weniger ein Thema. Auch nicht, dass der Rechnungshof diese Ausgaben „weiter stark expansiv“ nennt. Etwa in den Ländern finanziere der Bund Projekte „mit zweifelhafter Wirksamkeit“. Dabei sei seine eigene Substanz eigentlich mittlerweile verbraucht. Darüber müsse die Regierung die Abgeordneten besser informieren. Fordert der Rechnungshof. Fordern nicht die Abgeordneten, die auch in Sachen Haushaltsrecht ihre eigene Belanglosigkeit vorantreiben.
Stein des Anstoßes sind die „Sondervermögen“. Sie sind nicht nur ein sprachlicher Trick Lindners, um Schulden zu kaschieren. Auch im Haushalt selbst dienen sie zur Rosstäuschung. Dabei handelt es sich um fast 150 Milliarden Euro. Den größten Teil nimmt der Bund, um seine Versäumnisse gegenüber seiner Armee nachzuholen. Der kleinere Teil fließt in Projekte, die zum Ziel haben, das Weltklima zu retten. Die „Rettungspakete“ kommen obendrauf. Noch vor dem Winter. Mit diesem vor Augen warnt auch der Rechnungshof: Der Bund dürfe „nicht der Versuchung unterliegen, angesichts der multiplen Krisenlage mit weiteren zu erwartenden Ausgaben in noch mehr Schulden zu flüchten“. Stattdessen müsse er die Ausgaben drosseln und den Haushalt sanieren.
Der Bundesrechnungshof war über Jahre eher ein Ruheposten in der politischen Landschaft. Nur selten fand sich die Behörde in den Schlagzeilen. Nun sorgte sie bereits zum zweiten Mal in einer Woche für solche Schlagzeilen. Vor gut acht Tagen warnte sie den Bund schon einmal „vor eingeschränkten finanziellen Handlungsspielräumen künftiger Regierungen“. Gegenüber der Nachrichtenagentur DPA teilte der Rechnungshof mit, dass die öffentlichen Haushalte durch Krieg und Corona „erheblich unter Druck geraten“ seien. TE hatte darüber mehrfach berichtet: Nach Daten des Statistischen Bundesamtes haben Bund, Länder, Kommunen und Sozialkassen in den Jahren 2020 und 2021 über 300 Milliarden Euro Defizit eingefahren. Also noch vor dem Krieg.
Zwar nimmt der Bund derzeit – auch durch die steigenden Preise – so viele Steuern ein wie noch nie. Aber ihm laufen die Ausgaben weg. Dadurch seien 90 Prozent seiner Einnahmen „versteinert“, warnt der Rechnungshof. Das heißt: Der Bund muss das Geld nutzen, um Zwangsausgaben zu begleichen. Die freie Schwungmasse wird kleiner. Das führt zu einem vernichtenden Urteil des Bundesrechnungshofes: „Die Gefahr wächst, dass der Staat seine Handlungsfähigkeit verliert.“ Es drohe „Staatsversagen“.
Die AfD hat sich bereits vor der Haushaltswoche dem Thema angenommen. Sie hält Lindners Entwurf für verfassungswidrig. Das Grundgesetz sehe nämlich vor, dass der Haushalt „um finanzielle Transaktionen“ bereinigt werden müsse angesichts der Schuldenbremse. Sprich: Die Schuldenbremse solle eingehalten werden, fordert das Grundgesetz, und nicht durch Taschenspielertricks wie „Sondervermögen“ umgangen werden. Dazu hat die AfD ein Gutachten beim Wissenschaftlichen Dienst in Auftrag gegeben (WD4 – 3000 – 011/22).
Der Wissenschaftliche Dienst kommt zu einem gemischten Ergebnis. Die Mitarbeiter des Bundestags sehen die Problematik: „Finanzielle Transaktionen bergen somit die Gefahr einer haushaltspolitisch unerwünschten Umgehung der bundesdeutschen Schuldenbremse.“ Doch auch obwohl das Vorgehen Lindners nicht ehrlich ist, ist es laut Wissenschaftlichem Dienst nicht verfassungswidrig: „Abschließend ist damit festzuhalten, dass die bisherige Vorgehensweise durchaus in einem sachlichen Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Bereinigungsgebot aus Artikel 115 des Grundgesetzes steht.“ Wobei sich richtige Überzeugung selbst in Beamtendeutsch anders liest.
Die AfD will trotzdem ein Normenkontrollverfahren anstreben, wenn der Bundestag den Haushalt diese Woche so verabschiedet, wie ihn Lindner eingebracht hat. Doch das kann sie nicht. Nicht alleine. Einem solchen Normenkontrollverfahren muss ein Viertel der Abgeordneten zustimmen. Praktisch heißt das, dass die CDU oder eine Regierungsfraktion dem Verfahren zustimmen müssten. Es wird generell zu den Themen der Haushaltswoche gehören, wie ernst die Union ihre Rolle als Oppositionsführerin nehmen will.
Christian Lindner übt sich derweil in Sprachkunst. Der Bundesrechnungshof spricht von „Handlungsunfähigkeit des Staates“ und von „drohendem Staatsversagen“. Er verstehe das „nicht als Kritik“, schreibt Lindner auf Twitter, „sondern als Bestärkung, an nachhaltig stabilen Staatsfinanzen konsequent weiterzuarbeiten.“ Dieser Logik nach wäre Lindner umso motivierter, desto weniger der Staat fähig ist, seinen Aufgaben nachzukommen. Schade um die Schuldenbremse. Aber schließlich ist auch das Verhältnis von Mutter Bates zu ihrem Sohn erst durch ihren Tod enger geworden.