Spätestens, seitdem die USA einen unvollendeten Regimechange hinterlassen haben, brechen im Irak (korrekt eigentlich Iraq, aber bleiben wir bei der deutschen Schreibweise) alte und neue Konflikte wieder auf. Das Chaos beginnt mit einer britischen Kolonialpolitik, die sich in imperialer Arroganz über alle dort vorhandenen Bedingungen hinweggesetzt hatte – und es endet mit einer unentwirrbaren Gemengelage aus religionsideologischem Machtanspruch und ölgestützter Gewinnsucht. Ohne ordnende Kraft von oben ist der Irak nicht regierbar – und die USA hinterließen ein Vakuum, das nicht nur regionale Kleinherrscher, sondern auch die Mittelmächte der Nachbarschaft zu füllen gedenken.
Ein Kunstland ohne Nation
Zur Erinnerung: Der Irak ist einer der zahlreichen Restanten, die das britische Empire nach dem Sieg der Kriegsalliierten über das Osmanische Reich schufen. Bis 1918/20 gehörte die ursprüngliche Wiege der kultivierten Menschheit zum Sultanat der Hohen Pforte in Istanbul. Von antiker Hochkultur allerdings war in Mesopotamien, dem Land der zwei Ströme Euphrat und Tigris, schon lange nichts mehr geblieben. Die arabischen Eroberungsfeldzüge unter der Fahne des Glaubensideologen Mohammed; der Einfall zentralarabischer Mongolen; der Dauerzwist zwischen den Parteien des islamischen Schisma ebenso wie unter den Stämmen und Völkern – die Jahrhunderte hatten die einst blühende Hochkultur der den Byzantinern ebenbürtigen Sassaniden im 16. Jahrhundert zur leichten Beute der turkmenischen Elite Anatoliens gemacht. Die Osmanen verwalteten den dortigen Niedergang mit Korruption und Schlendrian ebenso wie mit staatlicher Willkür und Unterdrückung.
Ein Jahr später setzten die Engländer den Haschemiten Faisal als Marionettenkönig ein. Der war ursprünglich als König über Syrien gedacht gewesen, doch von der dortigen Mandatsmacht Frankreich abgesetzt und vertrieben worden. London versuchte damit seinen Verrat an dessen Vater, den Sherif von Mekka, zu heilen. Dem hatte der Agent Lawrence „of Arabia“ im Kampf gegen die Türken ein unabhängiges, großarabisches Reich versprochen. Als diese Zusage durch britische Mandatsgebiete mit Marionettenprinzen in Jordanien und Syrien erfüllt war und Sherif Hussein deshalb auf das versprochene Großarabien verzichten sollte, kam es zum Bruch. Die Engländer entzogen dem Mekkaner die Unterstützung. Ohne britischen Beistand musste der Hüter der Heiligen Stätten des Islam sich 1925 den zentralarabischen Saud unterwerfen, die von nun ab über die heiligen Stätten geboten.
Ein Land wird geplündert
Der Irak wurde zum bedeutenden Erdölexporteur. Doch über Lizenzverträge, die nur wenig Geld in die Kassen des jungen Landes spülten, blieben die Gewinne bei angloamerikanischen Gesellschaften. Garant dafür war die Haschemiten-Dynastie, die offiziell bis 1958 den König des Irak stellte, jedoch politisch macht- und bedeutungslos blieb. Die irakische Politik wurde seit den Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts maßgeblich von Nuri a’Said als Premierminister bestimmt. Er stand eng an der Seite der Mandatsmacht und überlebte mehrere Putschversuche, die mit britischer Unterstützung niedergeschlagen wurde.
Husseins globalpolitischer Fehler
Anfangs von den Westmächten goutiert, leitete Hussein 1972 die Verstaatlichung der Ölförderung ein, womit es ihm gelang, sein Land auf annähernd westliches Wohlstandsniveau zu bringen. Der innenpolitische Preis war ein von der sunnitischen Minderheit dominiertes Gewaltregime, das sich sowohl gegen die Schiiten als auch gegen die Kurden richtete, sobald dort Widerstände vermutet wurden.
Anfangs kam Husseins Krieg gegen die iranischen Mullahs im Westen noch gut an – weshalb ihm das brutale Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung nachgesehen wurde und er insbesondere zu Frankreich enge Beziehungen aufbauen konnte. Erst als er die Idee früherer irakischer Führer übernahm und das benachbarte Kuwait annektieren wollte, schlug vor allem in Washington die Stimmung um. Mit der Stationierung westlicher Truppen in wahabitischen Königreich der Saud entstand die radikal-sunnitische, antiamerikanische AlQaida-Bewegung. Gleichzeitig formierte sich in den Golfkriegen im Irak der schiitische Widerstand gegen die sunnitisch-laizistische Hussein-Elite, die jedoch, anfangs von den USA unterstützt, nach dem ersten Golfkrieg von den Amerikanern im Stich gelassen wurde, weshalb der damals weiterhin amtierende Hussein blutige Rache nehmen konnte.
Die USA als neue Ordnungsmacht
Als Hussein nach dem zweiten Golfkrieg entmachtet und nach einem Schnellprozess getötet wurde, mussten die USA die Ordnungsfunktion in dem zerrissenen Land übernehmen. Eine Befriedung gelang ihnen nicht – lediglich im Nordosten konnte sehr zum Missfallen der Türkei mit dem kurdischen Autonomiegebiet um Erbil eine halbwegs demokratische und funktionierende Verwaltung etabliert werden, die bis heute eng an die USA angelehnt ist.
Im Rest des Irak bestimmten die Gegensätze zwischen Sunniten und den nun die Regierung dominierenden Schiiten die Politik. Im Süden des Irak formierten sich unterschiedliche Oppositionsgruppen, darunter der sunnitische „Islamische Staat“ um den 2019 getöteten Abu Bakr alBagdadi und die sozialrevolutionäre Bewegung um den schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr, dessen militärisch auftretende Anhängerschaft seit 2004 sporadisch gegen die US-Soldaten und die Regierungstruppen kämpfte.
Muqtada gilt als ambivalente Persönlichkeit. Nach einem längeren Exil im Iran soll er aktiv dazu beigetragen haben, den Einfluss der Mullahs im Irak zu stärken. So ließ er zudem seine Anhänger aus den Armenvierteln feiern, als das irakische Parlament in diesem Jahre beschloss, den Kontakt zu Israel mit der Todesstrafe zu ahnden – ein Gesetz, das sich insbesondere gegen die Vertreter der autonomen Region Kurdistan im Nordosten richtet, denen entsprechende Kontakte seit Jahren unterstellt werden.
Muqtada as-Sadr als irakischer Machtfaktor
Seine frühere Affinität zu den schiitischen Führern im Iran hat Muqtada zwischenzeitlich abgelegt. Nachdem der Iran mit paramilitärischen Einheiten in den Irak eingedrungen ist und dort an der Seite jener schiitischen Eliten steht, die den Staat als ihre Beute betrachten, propagiert er einen von allen ausländischen Einflüssen unabhängigen Irak. Aus dem Wahlergebnis von 2021, bei dem die Partei Muqtadas bei schwacher Wahlbeteiligung als relativ stärkste Kraft hervorging, leitet der Prediger den Anspruch einer aktiven Regierungsbeteiligung ab. Als dieser nun nach langen Gesprächen auch wegen der Unvereinbarkeit der jeweiligen Positionen zum Iran nicht durchgesetzt werden konnte, erklärte der Geistliche am Montag seinen Rückzug aus der Politik – ein Schritt, den er bereits früher angedeutet hatte, um seine Anhänger zu mobilisieren. Daraufhin kam es zum Sturm des Regierungssitzes durch seine Miliz, bei dem mehr als 20 Menschen starben. Auch in anderen Städten kam es zu Ausschreitungen von Schiiten, bei den iranische Flaggen verbrannt und iranfeindliche Parolen gerufen wurden.
Durch diese Situation geriet die fragile Situation im Irak erneut in die unmittelbare Gefahr, in einen umfassenden Bürgerkrieg zu münden, in dem nicht nur die traditionell verfeindeten Gruppen der Schiiten, arabischen Sunniten und Kurden aufeinanderprallen, sondern auch die Schiiten untereinander sich gegenseitig zerfleischen könnten.
Gegen Mittag des zweiten Tages der Aufstände rief Muqtada seine Anhängerschaft zur Ruhe auf. Er lehne die Gewalt ab, erwarte friedliche Proteste. Daraufhin schwiegen seit Dienstag die Waffen. Das allerdings hinderte weder Kuwait noch andere arabische Staaten, ihre Bürger zum Verlassen des Irak aufzufordern. Der Iran schloss seine Grenzen zum Irak und empfahl seinen Staatsbürgern ebenfalls dringend, das Nachbarland zu verlassen.
Allerdings zielte diese Aufforderung weniger auf die im Irak stationierten Paramilitärs aus den Reihen der Revolutionsgarden, sondern auf die Pilger. Die zentralirakische Stadt Kerbala ist mit dem 40 Tage andauernden alArba’in-Fest der wichtigste Pilgerort der Schiiten, zu dem alljährlich auch Millionen Iraner anreisen. Hier soll im Jahr 680 der Enkelsohn Mohammeds, AlHusain ibn Ali, bei seinem Aufstand gegen die Umayyaden aus dem Stamm der Quraish ums Leben gekommen sein. Mit ihm starb die Führung der damals in Opposition zu den Quraishi stehenden Muslime, die deren Legitimation in der Nachfolge Mohammeds bestritten und diese für Ali und dessen Nachkommen eingefordert hatten. Die Schlacht bei Kerbala ist seitdem das entscheidende Erweckungsereignis des schiitischen Islam.
Aufgeschoben – nicht aufgehoben
Insider gehen davon aus, dass Muqtada mit seinem Rückzug und den nachfolgenden Aufständen lediglich den politischen Druck auf die amtierende Regierung erhöhen will. Sein nationales Ziel, einen Irak ohne fremde Einflussnahme zu schaffen, stößt dabei vor allem bei den Mullahs im Iran und den herrschenden Schiiten auf Ablehnung. Während die Mullahs von einem schiitischen Gürtel vom Mittelmeer bis nach Pakistan träumen, über den sie Israel vom Erdboden tilgen wollen, folgt die Anlehnung der Eliten schlicht dem politischen Überlebensgebot gegenüber der sozialrevolutionären A’Sadr-Bewegung. Beargwöhnt wird Muqtadas Einfluss jedoch auch von den Kurden in Erbil, die sich im Ernstfall zwischen den Mühlsteinen Türkei, Iran und schiitischem Irak wiederfinden, sowie von den arabischen Sunniten im Zentrum und im Südwesten, die über traditionelle Stammesverbindungen mit ihren Verwandten in Syrien und Saudi-Arabien verbunden sind.
Die Gefahr eines Bürgerkriegs im Irak, bei dem der britische Kolonialismus mit seiner aufgesetzten Grenzziehung und die USA mit ihren Ölinteressen ein Land geschaffen haben, das angesichts der Unvereinbarkeit der gegenseitigen Abneigungen offenbar tatsächlich nur diktatorisch regiert werden kann, ist damit nur aufgeschoben, nicht aber aufgehoben. Der schiitische Prediger hat ein wenig mit den Muskeln gespielt und gezeigt, dass er nach wie vor über eine eindrucksvolle Armee gebietet, die für ihn zu jeder Handlung bereit ist, aber auch unmittelbar auf seine Anordnungen reagiert. Was tatsächlich von seiner Ankündigung zu halten ist, sich aus der Politik zurückzuziehen, muss die Zukunft zeigen.