Tichys Einblick
KEIN VETORECHT IN DER EU?

EU-Politik: Der deutsche Heißhunger nach Führung

Olaf Scholz will das Vetorecht der kleineren Staaten abschaffen für die EU als „geopolitischen Akteur“. Für die Ampelkoalitionäre ist der Ukraine-Krieg Gelegenheit, ihre Föderalisierungspläne voranzutreiben. Die Aufforderung zum „Verzicht auf Egoismen“ ist aus polnischer Sicht problematisch. Auftakt zu einer TE-Serie zur Zukunft der EU.

IMAGO/photothek

Aus sozialdemokratischer Sicht könnte dieser Gedanke kaum verführerischer sein: Der deutsche Regierungschef müsste seine EU-Außenpolitik mit keinem Mitgliedsland mehr abstimmen. Lediglich ein Gast aus dem Élysée-Palast würde kurz nach Berlin reisen, um einige Sympathiepunkte bei seinen Wählern einzusammeln und den Eindruck einer deutsch-französischen Machtachse vorzutäuschen. Wir schreiben das Jahr 2025. Der frisch wiedergewählte Bundeskanzler Olaf Scholz wird seine Entscheidung gemeinsam mit Emmanuel Macron verkünden, obgleich diese bereits vor Jahren längst gefallen ist – ganz unabhängig von den Stimmungen in Paris. Der Alptraum eines europäischen „Föderalstaates“ ist Wirklichkeit geworden.

Zurück zur Gegenwart. In einem Interview mit der FAZ hat Olaf Scholz behauptet, die Europäische Union müsse „in ihrem Inneren die Reihen schließen“, sonst habe sie gegen den Kriegstreiber Wladimir Putin keinerlei Chance. Europa müsse endlich zu einem „homogenen geopolitischen Akteur“ werden, heißt es. Ähnlich hat sich der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil geäußert, der vorsichtshalber daran erinnerte, dass Deutschland nach 80 Jahren angeblicher Zurückhaltung derweil durchaus die Ansicht vertrete, eine Führungsmacht zu werden. Nun gibt es aber eine Reihe von unterschwelligen Hinweisen darauf, dass Berlin bereits vorher diesen Anspruch erhob. Während der griechischen Staatsschuldenkrise behauptete der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, die Eurozone bräuchte „deutsche Verlässlichkeit“. Und als Angela Merkel sich 2015 schweigend über einige Absätze des Dubliner Übereinkommens hinwegsetzte, staunte die westliche Welt über eine „weiche Vormachtstellung“ und einen „deutschen Akt der Selbstlosigkeit“.

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Mit der weichen Beschaffenheit der deutschen Dominanz scheint es endgültig vorbei zu sein. Die Muskelspiele einiger EU-Staaten werden der Bundesregierung „harte Entscheidungen“ abverlangen, so Scholz und Klingbeil. Der Kanzler hat dann auch schon mehrere „konkrete Vorschläge“ angekündigt, darunter die Abschaffung des Vetorechts in der Außenpolitik, mit dem kleinere Länder „zentrale Interessen“ der Gemeinschaft torpedierten. Um Europa als einen für Moskau ernstzunehmenden Gegner zu positionieren, fordern die Ampelkoalitionäre politische Geschlossenheit. „Permanenter Dissens und egoistische Blockaden“ schwächten Europa, meint der Kanzler. Unter den Bedingungen einer solchen Rhetorik muss man damit rechnen, dass der eingangs beschriebene Alptraum gar nicht mehr so unwahrscheinlich ist.

Die von der SPD vorgetragene Aufforderung zum „Verzicht auf Egoismen“ als auffälliger Wesenszug deutscher EU-Politik ist aus polnischer Sicht nicht gerade unproblematisch. Die ostentative Zurückhaltung dient den Regierenden in Berlin inzwischen als eine unverzichtbare Form der Machtausübung. Einige Beobachter glauben, die semantische Spur des Krährufs aus dem Kanzleramt erkannt zu haben.

Die Aussagen von Olaf Scholz sind selten eindeutig, geben seine Ziele jedoch prägnant wieder. Seiner Meinung nach umgibt die Zusammenarbeit in der EU ein ständiger Anflug von skandalträchtiger Störung und Irritation. Beispielsweise dann, wenn sich die Mitgliedsstaaten auf neue Sanktionen gegen Russland geeinigt haben und lediglich Ungarn diese erneut verzögert. Mit einer sorgsam eintrainierten moralisierenden Gestik kann der Bundeskanzler anschließend zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits kann er die unrühmliche Verantwortung Deutschlands als Zögerer und Zauderer einem anderen Land zuschieben und andererseits hinter der Potemkinschen Fassade einer „einheitlich demokratischen Ordnung“ seine Föderalisierungspläne realisieren. Der russische Angriffskrieg sei eine gute Gelegenheit, die nationalen Alleingänge anderer Staaten zu überwinden. Wenn sich die trüben Wolken zusammenziehen, könne sich die EU kein Veto mehr leisten, so der Sozialdemokrat. Nur scheint er dabei vergessen zu haben, dass das Vetorecht in verschiedenen außenpolitischen Segmenten völlig unterschiedlich zur Anwendung kommt und daher eines der letzten Gewürze in der Suppe der Demokratie darstellt. Wenn Olaf Scholz überdies glaubt, dass ein föderales Europa unsere Gemeinschaft stärker und weniger störungsanfällig gegenüber Moskau mache, dann ist er entweder auf dem Irrweg oder betreibt gezielte Manipulation (beides zusammen geht auch).

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Verbindliche Verträge widersetzen sich solchen Homogenisierungstendenzen. Polen weist zurecht darauf hin, dass die Ideen der Gründungsväter bedroht oder gar annulliert würden. Deshalb ist die PiS-Regierung eine Hürde, deren Überwindung für manch einen EU-Abgeordneten zur temporären Obsession geworden ist. Zugegeben: Man weiß die polnische Hilfsbereitschaft gegenüber der Ukraine zu schätzen. Wer aber noch die Meinung vertritt, dass den Strippenziehern in Brüssel und Straßburg vor lauter Lobhudelei das verbale Schießpulver ausginge, liegt falsch. Möglich, dass wir den EU-Kommissionsmitgliedern zu viel zutrauen, dass sie gar nicht so kompliziert denken. Doch ihre letzten Statements erhärten die Vermutung, dass Polen weder mit einem Kriegsrabatt noch irgendwelchen anderen Zugeständnissen rechnen darf (etwa mit Mitteln aus dem Wiederaufbauplan).

Besorgnis löst zudem in Warschau die Tatsache aus, dass die Kriterien nicht eindeutig benannt werden. Aus Sicht der Togaträger in Luxemburg werden die sog. „Meilensteine“ wohl erst dann erfüllt sein, wenn die konservative Regierung abgewählt wird. Die Kompetenzen der polnischen Richter stünden in Einklang mit EU-Recht, wenn der von ihnen entsandte Donald Tusk das Ruder übernähme. Bis dahin können noch so viele Disziplinarkammern abgeschafft werden. Dass ausgerechnet jetzt wieder ein deutscher Ruf nach einem „geschlossenen Europa“ von der Bühne schallt, ist also nicht überraschend, wenn auch etwas kurios. In einem Augenblick, in dem den Verantwortlichen in Berlin eine zögerliche Haltung beim Thema Waffenlieferungen an die Ukraine attestiert wird, übt sich der ansonsten zurückhaltende Bundeskanzler plötzlich in der Rolle des europäischen Dirigenten. Deutschland sollte seinem Führungsanspruch gerecht werden! Wenn nicht jetzt, wann dann?

Dazu muss man Folgendes wissen: Seit Wochen wird in der BRD panisch das Gerücht verbreitet, dass der kommende Winter recht eisig werde. Dennoch könne man weniger heizen und duschen, während an der deutschen Küste die Flüssiggas-Terminals fertiggestellt werden. Notfalls könnte das Nachbarland Polen, das einst bei der Finalisierung der Nord Stream-Projekte unegoistisch übergangen wurde, seine Gasvorräte mit Deutschland teilen. Vielleicht könnten die osteuropäischen Staaten auch ihre Wirtschaftsleistung etwas reduzieren. Sparen geht immer, gerade in diesen Zeiten. Und jetzt mal im Ernst: Eine derart „geeinte und geschlossene“ EU stellt für Putin keinerlei Bedrohung dar, im Gegenteil. Ein föderales Europa liegt im Interesse des Kremls, weil es die kleineren Mitgliedsländer destabilisiert. Es kann sogar sein, dass genau dies zu jenen Forderungen gehört, die das von Scholz und Macron herbeigesehnte „diplomatische“ Ende des Ukraine-Kriegs einleiten könnten.

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Wenn Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer von einem „Einfrieren“ des russischen Angriffskriegs spricht, dann haben wir es nicht mit intellektueller Insuffizienz zu tun, sondern mit einer Haltung, die seit jeher der deutschen Staatsräson entspricht. Der CDU-Vize weiß ganz genau, dass eine diplomatische Lösung mit Moskau nicht zu erreichen ist, solange Putin hartnäckig an seinem Ziel einer vollständigen „Entmilitarisierung“ des Landes festhält. Dennoch behauptet Kretschmer öffentlich etwas anderes. Die vorangegangenen skizzenhaften Ausführungen geben erste Hinweise, warum er so spricht. Deutschland hat seinen Führungsanspruch nie aufgegeben. Ohne billige Energie aus Russland sieht sich das Land jedoch an die wirtschaftliche Peripherie gedrängt.

Russland wiederum wird seine imperiale Geschichte nicht fortschreiben können, wenn die ostslawischen Länder auf dem Gebiet der ehemaligen Kiewer Rus in die westliche Einflusszone geraten. Polen oder die baltischen Staaten stören diese „Balance“ und werden aus deutscher und russischer Sicht zu bloßen Anwälten US-amerikanischer Interessen reduziert.

Es sieht doch folgendermaßen aus: Russland ist derzeit nicht imstande, Polen wirklich gefährlich zu werden, weder militärisch noch wirtschaftlich. Dafür sind wir viel zu sehr im Westen eingebunden. Gefährlich ist indessen die in Berlin und Brüssel geschmiedete Idee eines homogenen Europas. Sie raubt uns die Energie und macht uns weniger konkurrenzfähig. Als kürzlich ein polnischer Politiker anzumerken wagte, dass Deutschland derzeit für Polen gefährlicher sei als Russland, wurde er hierzulande durch den medialen Schmutz gezogen. Ihm wurde vorgeworfen, er spielte mit der „antideutschen Karte“ und Moskau in die Hände. Dies ist blanker Unsinn. Entgegen all dem Gerede hatte er doch nur die Wahrheit ausgesprochen. Der zwischen Wehklage und Anklage, Satire und Invektive changierende Charakter der deutschen Reaktionen erinnert an die absurden Kommentare eines Guy Verhofstadt, der – je nach politischer Tageslaune – die polnische Regierung heute als „putinfreundlich“ und morgen als „putinfeindlich“ zu desavouieren versucht.

Nein, die polnischen Eliten sind nur etwas enttäuscht von dem unaufhaltsamen Niedergang des Westens, der sich einst als deren Unterstützer ausgewiesen hatte. Deutschland spielt dabei zweifelsfrei eine Schlüsselrolle. Natürlich war man im Februar auch an der Spree etwas überrascht gewesen, als Putin gleich von Beginn an mit der Empathie einer Abrissbirne vorging. Aber damit ist die deutsche Staatsräson doch nicht aus der Welt. Mit dem Traum von einem zentralisierten europäischen Staat kann Deutschland zweierlei erreichen – das Kostüm des ewigen Imperialisten abstreifen und dennoch den ewigen Hunger nach Führung stillen. In Berlin wird man daher weiterhin geduldig abwarten und für ein „einheitliches“ Europa plädieren. Irgendwann macht eine neue „Perestroika“ den Weg für ein erneutes „Umdenken“ frei. Bis dahin wird die Gaspipeline Nord Stream 2 kaum Rost angesetzt haben.


Wojciech Osiński ist Deutschland-Korrespondent des Polnischen Rundfunks

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