Wenn Fahrlässigkeit ein planloses, risikobehaftetes und aus dem Ruder gelaufenes Tun und Unterlassen beschreibt, dann trifft dies auf die Art und Weise zu, in der von der rotgrünen Bundesregierung derzeit Energiepolitik betrieben wird. Ungeachtet naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Innovationen, die kluge Geister in Jahrhunderten erdacht und in eine hochentwickelte Energieversorgungsstruktur umgesetzt haben, erwecken Ökoaktivisten und ihre Gefolgsleute in Parteien und Medien den Eindruck, dass dieser zentrale Baustein moderner Zivilisation nur zu dem Zweck geschaffen wurde, die Klimakatastrophe herbeizuführen. Da die Feindstellung Energie contra Klima nicht nur den Klimaaktivisten sondern auch großen Teilen des rotgrünen Spektrums als politisches Selbstverständnis gilt, sei daran erinnert, dass das Motto der russischen Oktoberrevolution von 1917 „Kommunismus und Elektrizität“ hieß.
Wer in der Schule in Biologie und Naturkunde aufgepasst hat, weiß, dass weder menschliches Leben noch alle übrigen Abläufe in der Natur ohne energetische Impulse denkbar sind. Das gilt auch für die Produktions- und Leistungsprozesse der Wirtschaft, die von den Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Inanspruchnahme der Umwelt sowie vom „vierten Faktor“ Energie angetrieben und am Laufen gehalten werden. Die für Wirtschaft und Gesellschaft benötigte Energie wird im Sektor der Energiewirtschaft produziert und bereitgestellt. Der hier erzeugte Energiemix setzt sich aus einer Vielzahl natürlicher Energierohstoffe und produzierter Energieträger zusammen, von den konventionellen fossilen Energieträgern Mineralöl, Erdgas und Kohle sowie der Kernenergie bis zu den heute im Mittelpunkt der politischen Bemühungen stehenden Erneuerbaren Energien wie Windkraft, Photovoltaik, Biomasse und Wasserkraft. Die mit dem Klimawandel weltweit inganggesetzte Energiewende hat in Deutschland zu extrem rigorosen Eingriffen in die Energiemärkte geführt. Vor allem von Politikern der Grünen wird die Vorstellung verbreitet, dass es möglich sei, auf die konventionellen Energieträger Kohle, Erdgas und Kernenergie entweder aus ökologischen oder aus politischen und ideologischen Gründen zu verzichten und vollständig durch Erneuerbare Energien zu ersetzen.
Dem Umschwenken von ausreichender und kostengünstiger Energieversorgung für Wirtschaft und Verbraucher auf weitestmögliche Vermeidung von CO2-Ausstoß bei der Energieerzeugung, fallen alle jene Energiearten zum Opfer, die bisher die Grundlast der Versorgung getragen haben. Die Protagonisten dieser Politikwende begründen dies einmal mit der Notwendigkeit, die von der Weltklimakonferenz vorgegebenen Ziele nicht nur einzuhalten sondern zum Ausgleich klimapolitisch säumiger Länder überzukompensieren. Zum anderen sind sie von der Überzeugung getragen, dass durch die erneuerbaren CO2-armen Energien allein ein ausreichendes Versorgungsangebot bereitgestellt werden kann. Beides zeugt von einem illusionären, ideologischen und inkompetenten Politikansatz.
Schon wegen seines geringen Drei-Prozent-Anteils am globalen CO2-Ausstoß kann Deutschland selbst bei rigoroser Abschaltung aller hiesigen CO2-Emmitenten angesichts des dynamischen Zuwachses der bevölkerungsreichen Schwellenländer allenfalls minimalen Einfluss auf die globale CO2-Bilanz nehmen. Zum anderen werden die Erneuerbaren Energien weder aus physikalischen noch aus ökonomischen Gründen jemals in der Lage sein, die Versorgung eines der führenden Industrieländer der Welt in eigene Regie zu übernehmen. Nachdem Windkraft und Photovoltaik im Verlauf von fünfzehn Jahren durch staatliche Förderung in ihrer technischen Entwicklung und wirtschaftlichen Wettbewerbskraft massiv unterstützt wurden, beträgt ihr Anteil am derzeitigen (2021) deutschen Primärenergieverbrauch 16 Prozent, während 84 Prozent der Energieversorgung hierzulande nach wie vor von den fossilen Energieträgern Mineralöl, Erdgas, Braun- und Steinkohle sowie von der Kernenergie gedeckt werden.
Hinter diesen bloßen Zahlen verbirgt sich ein dem Laien nicht erkennbares technisches Versorgungsproblem, denn Strom ist nicht gleich Strom für die jeweiligen Zwecke, für die er eingesetzt wird. Daher unterscheidet man bei der Stromerzeugung zwischen Grund- und Spitzenlast. Nur jene Kraftwerksturbinen, die von ununterbrochen in großen Mengen verfügbarer Energieträger wie Kohle, Gas oder Kernenergie angetrieben werden, besitzen beim heutigen Stand der Technik jene witterungsunabhängige Grundlastfähigkeit, die es schafft, die komplexen Anforderungen für den ungestörten Dauerbetrieb der unzähligen Techniksysteme einer modernen Wirtschaftsgesellschaft zu erfüllen. Die Erneuerbaren Energien wie Windkraft und Solarenergie, die aufgrund der natürlichen Bedingungen ihrer Darbietung durch eine hohe Volatilität gekennzeichnet sind, rechnet man daher der Spitzenlast zu.
Sie können ihre Leistung nur unregelmäßig ins Netz einspeisen, denn von den 8760 Stunden, die ein Jahr hat, kommen wir auf eine Volllaststundenzahl bei Sonne von nur 900 Stunden, bei Wind von 1900 Stunden. Dieses kardinale Manko der Erneuerbaren durch Großspeicher auszugleichen ist zwar eine schöne Idee, deren technische Umsetzung sich aber leider noch im Entwicklungsstadium befindet, wie so vieles, was von gutmeinenden Aktivisten zur Sicherstellung der akuten Versorgung beigesteuert wird. Prof. Schwarz von der Technischen Universität Cottbus hat das Speicherproblem der Erneuerbaren mit dem Bild beschrieben, dass es so sei, als ob man mit Stoff aus dem Flugzeug gesprungen sei, um sich unterwegs noch den Fallschirm zu nähen.
Auch der Vorschlag einer grünen Spitzenpolitikerin, das Stromnetz als Speicher für die Erneuerbaren zu nutzen, stößt auf systemimmanente Grenzen. Ihm steht der physikalische Befund entgegen, dass das Netz ein Durchlaufmedium ist und ihm nur jene Mengen an Strom laufend entnommen werden können, die laufend eingeleitet werden. Das kann am konkreten Beispiel der Lastsituation im deutschen Stromnetz am Dienstag, 19. Juli 2022 um 04:00 Uhr morgens nachgewiesen werden, als der realisierte Stromverbrauch, die Netzlast, 45.408 MWh betrug, während es die eingespeiste Erzeugung nur auf 41.611 MWh brachte. Die deutsche Stromversorgung wies zu diesem Zeitpunkt also eine Unterdeckung von 3.797 MWh oder 9 Prozent aus, die nur darum nicht zu einem Blackout führte, weil sie durch internationale Einspeisungen ausgeglichen werden konnte. Der Grund für die Unterdeckung war, dass morgens um 04:00 Uhr noch keine Sonne scheint und in diesem Fall auch eine Windflaute zu verzeichnen war, so dass der Anteil der Erneuerbaren an der deutschen Stromerzeugung (im Vergleich zum Durchschnittsjahreswert im Jahr 2021 von 40 Prozent) zu diesem Zeitpunkt nur bei 20 Prozent lag. Das sollte angesichts unseriöser und realitätsferner Verlautbarungen zum Stand der Energieversorgung in Deutschland auch einmal festgehalten werden: am 19. Juli 2022 um 04:00 Uhr morgens wurde der deutsche Stromverbrauch zu 80 Prozent aus konventionellen Energien, d.h. aus Braun- und Steinkohle, Erdgas und Kernenergie gedeckt.
Stefan Aust dürfte daher nicht falsch mit seiner Einschätzung liegen, dass die Vorstellung, den Energiebedarf eines Industriestaates wie Deutschland schon in nächster Zukunft hauptsächlich durch Erneuerbare Energien zu decken, zu den gefährlichsten Illusionen der Gegenwart gehört. Es ist richtig und im Interesse einer nachhaltigen Klimapolitik sinnvoll, dass sich die Erneuerbaren ihren Platz im Energiemix verschaffen, aber unter Ausrichtung auf alle drei Teilaspekte einer entideologisierten, fachlich ausgewiesenen Zielsetzung. Am Beispiel der Windenergie lässt sich zeigen, dass technische Entwicklungslinien nie linear und eindimensional verlaufen, weil in der hochentwickelten postindustriellen Gesellschaft eine Fülle sich widerstreitender Parameter Richtung, Tempo und Ausmaß des Innovationskorridors bestimmen.
Woher sollte angesichts der Grenzen, die den Erneuerbaren Energien durch physikalische Gesetze und soziale Akzeptanz gezogen werden, jenes Energiedifferential bis zur Deckung des Bedarfs kommen, das zudem im Zuge einer auch durch E-Mobilität steigenden Energienachfrage durch dynamisches Wachstum gekennzeichnet sein wird? Der Hinweis auf im Forschungsstadium befindliche Zukunftsenergien wie Wasserstoff oder Kernfusion dürfte für die Realverfügbarkeit zur Deckung der Bedarfslücke wenig helfen. Die Lösung liegt denknotwendig in Deckungsbeiträgen jener konventionellen Energien, die auch in der Vergangenheit die Grundlast der Versorgung getragen haben, wobei hinsichtlich der Größenordnung ihres Beitrags dem Parameter Klimafolgenabschätzung die entscheidende Beachtung zu schenken wäre und ansonsten ideologische Engführung einem mehrheitsfähigen Pragmatismus weichen sollte.
Unter den fossilen Energien dürfte das Mineralöl außer für die Wärme-, Treibstoff- und Schmierstoffversorgung vor allem als Grundstoff der Petrochemie auf absehbare Zeit unverzichtbar bleiben. Die wenigsten wissen, dass nicht nur Oberhemden und Kleiderstoffe sondern auch Möbel, Geschirr, Einrichtungen und vieles andere mehr aus dem Mineralölderivat Rohbenzin hergestellt werden. Am wenigsten dürfte am Kohleausstieg gerüttelt werden. Allerdings sollte aus Gründen praktischer Vernunft ein Braunkohle-Großkraftwerk in der Lausitz weiter betrieben werden, weil damit zur sozialen Befriedung einer gebeutelten Region beigetragen werden kann, ohne dass dadurch ein nennenswerter Effekt in der globalen CO²–Bilanz zu verzeichnen wäre.
Erdgas hat als Kohlenwasserstoffenergie eine dem Mineralöl ähnliche Doppelbedeutung als Energieträger wie als Grundstoff der Chemischen Industrie. Daher ist die industrielle Verzahnung zwischen europanahen Großvorkommen an Gas und europäischer Chemie von so grundlegender wirtschaftlicher Bedeutung. Das ist der eigentliche Grund dafür, dass Sibirien schon früh die energiepolitische Eisschrankfunktion für die europäische Wirtschaft übernommen hatte. Es dürfte diese Rolle aufgrund der geopolitischen „fundamentals“, wenn auch mit vorübergehenden Einschränkungen aufgrund des russisch-ukrainischen Krieges, auf lange Sicht beibehalten. Die Europäer wären gut beraten, den von Eigeninteressen geleiteten US-amerikanischen Pressionen in Sachen Russengas mit mehr Souveränität zu begegnen, zumal das Hauptargument, die russischen Gaseinnahmen würden für militärische Zwecke gegen die Ukraine eingesetzt, sehr durchsichtig ist. Die Amerikaner wissen sehr wohl, dass sich Rohstoffvorkommen nicht von selbst öffnen sondern mit Großinvestitionen in Exploration und Transport erschlossen werden müssen und damit der Preis, den die Europäer für das russische Gas bezahlen, ihnen als auch in Zukunft gesicherte Versorgung wieder zugute kommt. Auch das Argument der Menschenrechtsverletzungen im Zuge des Ukraine-Krieges, das gegen die russischen Gaslieferungen ins Feld geführt wird, sollte, so wichtig es bei der Bewertung internationaler Beziehungen zwischen den Staaten ist, gerade im Lichte der Abhängigkeit der Amerikaner vom Öl Saudi-Arabiens betrachtet werden.
Bleibt die Kernenergie als potentieller Lückenbüßer der absehbaren Unterdeckung, wenn weiterhin nur auf die Erneuerbaren gesetzt wird. Mit einem Beitrag von ebenfalls sechs Prozent zum Primärenergiebedarf spielt sie im deutschen Energiemix nach dem Ausstiegsbeschluss von 2011 zwar keine tragende Rolle mehr, hält aber mit einem Anteil von zwölf Prozent noch immer eine wichtige Position in der Stromerzeugung. Der zur Zeit nach Gesetz noch gültige Stilllegungsbeschluss für die letzten drei am Netz verbliebenen Kernkraftwerke zum Jahresultimo 2022 steht in einem denkbar krassen Gegensatz zur sich abzeichnenden Stromlücke, wenn auf einen Schlag neben den aus Russland belieferten Erdgas- auch die Atomkraftwerke mit einem gemeinsamen Anteil von 27 Prozent als bewährte Eckpfeiler der deutschen Stromerzeugung ausfallen würden.
Niemand außer den Hardlinern der Anti-Atombewegung versteht, weshalb das starrsinnige Beharren auf deren fünfzig Jahre altem Gründungsmythos weiterhin politikfähig sein soll, wenn die Kernenergie inzwischen von aller Welt als Non-plus-Ultra einer alle drei Teilziele optimal erfüllenden Energiepolitik betrachtet und entsprechend genutzt wird. Die peinliche Rückständigkeit der amtierenden Bundesregierung in der Kernenergiefrage nimmt absurde Züge an, wenn sie sich nicht nur der Forderung der europäischen Nachbarn und der EU-Kommission zur Unterstützung von Versorgungssicherheit und Klimaschutz nach Weiterbetrieb der drei verbliebenen Kernkraftwerke verschließt sondern sogar dem Weltklimarat widerspricht, der aus denselben Erwägungen heraus für eine bevorzugte Nutzung der Kernenergie plädiert.
Es kann nicht sein, dass die für die Energiepolitik verantwortlichen Ressorts der Bundesregierung ihr Entscheidungshandeln einer Parteiräson unterwerfen, während es um Wohl und Wehe Deutschlands als eine der weltweit führenden Industrie- und Techniknationen geht. Zumutbar sollte auch den einer Kernenergienutzung ablehnend gegenüberstehenden Protagonisten die Einsicht sein, dass man die Versorgung mit einer als gefährlich und risikoreich eingestuften Energieart nicht den vergleichsweise unsicheren Kantonisten aus dem Ausland überlassen sollte, wenn man als Erfinder dieser hochsensiblen technologischen Innovation über das zu seiner Beherrschung beste Sicherheitskonzept selbst verfügt.
Der Autor war Generalbevollmächtigter der Deutschen BP AG Hamburg (bis 1991), nach der Wende Energiebeauftragter der Sächsischen Staatsregierung Dresden/Organisation der Braunkohlesanierung in den Revieren Lausitz und Westsachsen; er wurde promoviert mit der Studie „Die Integration der westeuropäischen Energiemärkte“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1968, Verfasser zahlreicher energiepolitischer Beiträge.