Historisch vorbelastete Orte und hochtrabende Titel – das ist seit eh eine Konstellation, die für Probleme sorgen kann. So nun jüngst in Gorazde. Die bosnische Kleinstadt am Drin, die seinerzeit, als ich sie 1988 besuchte, nur ein unbedeutender Ort von vielen im Vielvölkerstaat Jugoslawien war, wurde in den jugoslawischen Nachfolgekriegen zu einem Hotspot des Vernichtungsfeldzugs zwischen orthodoxen Serben und muslimischen Bosniern. Seitdem wieder im Vergessen versunken, gelang es nun einem Deutschen, Gorazde mit Kraft wieder in die internationale Beachtung zu katapultieren.
Der „Hohe Repräsentant“ und nichts mehr
Dieser Deutsche wiederum verfügt über besagten, hochtrabenden Titel. Denn er ist „Hoher Repräsentant der internationalen Gemeinschaft für Bosnien-Herzegowina“. Als örtlicher Vertreter des Regierungenvereins UN darf er sich sogar mit einem eigenen Wimpel schmücken: den in weiß gehaltenen Umrissen des früheren Teilstaats Jugoslawiens, umringt vom güldenen Lorbeerkranz auf tiefblauem Grund.
Der Name des Deutschen: Christian Schmidt, Bäckerssohn aus Mittelfranken. Seit dem 1. August 2021 darf er sich auf Vorschlag der Bundesregierung mit diesem bedeutsamen Titel schmücken. Und ist mit einer Aufgabe betraut, für die den Politiker der CSU seine Laufbahn als Berufspolitiker mit dem Höhepunkt des Jobs eines Bundesministers für Ernährung und Landwirtschaft von 2014 bis 2018 offenbar bestens qualifiziert hat.
Kroaten, Serben und Bosniaken
Schmidt also soll nun dafür sorgen, dass das künstlich zusammengehaltene Konstrukt zwischen Kroatien, Serbien und Montenegro irgendwie halbwegs gesittet in die Zukunft – und damit vermutlich auch in die EU – kommt. Doch irgendwie bewegt sich in dem Balkanland nur wenig. Immer noch lähmen die Folgen des Krieges, der tiefe Gräben zwischen den unterschiedlichen Ethnien und Religionsgemeinschaften aufgerissen hat, das Land. So liebäugeln die Serben, die knapp ein Drittel der rund 3,2 Millionen Bosnier stellen, nach wie vor mit dem Anschluss an das Kernland Serbien, welches zwar ebenfalls EU-Anwärterstaat ist, aber nach wie vor eine hohe Affinität zum großslawischen Bruderland an der Moskwa entwickelt. Dabei allerdings stellt das serbische Siedlungsgebiet in Bosnien-Herzegowina ein unüberbrückbares Hindernis dar: Wäre der Osten noch halbwegs problemlos mit Serbien zu vereinen, so liegt das nordwestliche Gebiet, in dem Serben mehr als 60 Prozent der Bevölkerung stellen, als Enklave zwischen den mehrheitlich von muslimischen Bosniaken bewohnten Territorien.
Die Kroaten wiederum, die rund 15 Prozent der Bevölkerung stellen, siedeln überwiegend entlang des zur Küste gelegenen Streifens – dort, wo bis auf einen schmalen, bosnischen Durchgang das EU-Land Kroatien nun wieder hauptsächlich vom Tourismus lebt und kein logistisches Problem damit hätte, seinen schmalen Küstenstreifen um die kroatisch bewohnten Gebiete des Dayton-Produktes zu erweitern.
Die Bosniaken, Nachfahren jener Kroaten und Serben, die unter osmanischer Herrschaft zum Islam konvertierten und die heute ungefähr die Hälfte der Bosnier stellen, empfinden sich als bedrohte religiöse Minderheit, eingezwängt zwischen den christlichen Mühlsteinen der Katholiken im Süden, Westen und Norden sowie der Orthodoxen im Osten. Da zudem ihr Siedlungsgebiet ein Flickenteppich ist und es im gesamten Land kaum homogene Siedlungsgebiete gibt, wurde über die Befriedung im Dayton-Prozess 1995 jenes heute existierende Bosnien-Herzegowina geschaffen in der Hoffnung, dass sich die im Krieg zutiefst verfeindeten Gruppen irgendwie friedlich zusammenraufen würden.
Keine Wunde ist verheilt
Weitgehend friedlich hat bislang funktioniert – auch deshalb, weil mit der Anwartschaft zum EU-Beitritt viel Geld aus den Töpfen Brüssels lockt. Etwas anders sieht es aus mit dem Zusammenraufen.
So, wie aktuell die EU über ihren Außenbeauftragten Josep Borell trotz Beitritts-Lockung vergeblich versucht, die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen Serbien und der aus serbischer Sicht abtrünnigen Provinz Kosovo in irgendeiner Weise EU-kompatibel zu machen, so verzweifelt nun der Mittelfranke an seinem Job, aus dem Kunstprodukt mit seinen sich argwöhnisch gegenseitig beäugenden Gruppen etwas zu formen, das im künftigen Superstaat EU aufgehen kann, wo dann die unverheilten Wunden der Vergangenheit mangels Nationalität in die Irrelevanz gedrängt werden.
Doch das scheint nicht so zu laufen, wie Schmidt sich das gedacht hatte. Da helfen auch Titel, Wimpel und UN-Rückendeckung nicht. Deshalb nun platzte dem Deutschen anlässlich eines Besuchs in jenem einst umkämpften Gorazde der Kragen. Wenig diplomatisch polterte der Bäckerssohn: „Rubbish, full rubbish. I am rid of this!“, was sich am ehesten mit „Müll, nichts als Müll! Ich bin es leid!“ übersetzen lässt. Kurzum: Schmidt empfindet seine Funktion als so etwas wie eine Strafversetzung in eines jener beliebten Länder, in denen nichts geht und in denen sich nichts bewegt. Weshalb er dann auch noch hinterher warf: „Ich habe diese Situation satt. Jeder gibt jedem die Schuld. Freunde, so kommt man nicht nach Europa!“
Der Balkan ist der Balkan …
Also alles wie gehabt. Nichts geht voran, jeder blockiert den anderen, Misstrauen und gegenseitige Ablehnung allenthalben. Und weil Schmidt nun einmal das ist, was man in politischen Kreisen einen „echten Europäer“ nennt (bösartige Kreise könnten es auch als stete Unterwerfungsbereitschaft unter die Brüsseler EU-Bürokratiekrake abtun), hat er nun so richtig laut Dampf abgelassen.
Dabei wäre eigentlich zuerst die Frage zu klären, ob Bosnien-Herzegowina überhaupt in die EU will – und was es da soll. Denn selbstverständlich importiert sich die EU damit auch all jene Probleme, die sich in dem Kleinstaat heute bereits als Mühlstein erweisen. Und eigentlich hat die EU davon auf dem Balkan schon genug: Die Bulgaren mögen auf Gegenseitigkeit keine Nordmakedonen und sind sich darin mit den Griechen einig. Die Griechen wiederum finden, dass auch Teile Bulgariens eher zum griechischen Makedonien und schon gar nicht zum nordmakedonischen gehören. Die Nordmakedonen wiederum liegen über Kreuz mit den Albanern, deren Kosovaren die Serben nicht mögen, was wiederum auch auf Gegenseitigkeit beruht. Dann sind da noch die traditionellen Animositäten zwischen Serben und Kroaten, die nicht zuletzt dadurch serbische Nationalgefühle verletzten, als die kroatische Armee im Handstreich jene Serben vor die Tür setzte, die auf ihrem Staatsgebiet einen serbischen Separatistenstaat gegründet hatten.
Insgesamt sieht die Situation auf dem Balkan insofern auch noch knapp 30 Jahre nach den Kriegen ungefähr so aus, wie sie Albert Uderzo 1987 in seinem Comic „Asterix chez Rahazade“ (deutsch: Asterix im Morgenland“) für den Nahen Osten beschrieb: Jeder gegen jeden, und wenn es gerade passt auch mal gemeinsam gegen den Rest. So etwas mag nun einen ordnungsorientierten Deutschen tatsächlich an den Rand des Zusammenbruchs treiben. Weshalb es vielleicht auch keine weise Entscheidung gewesen ist, ausgerechnet diesen Christian Schmidt, der weder über balkanische Vorkenntnisse noch über diplomatische Erfahrung verfügt, mit diesem hübschen Titel zu beglücken.
Wobei unabhängig davon eben grundsätzlich die Frage zu klären wäre, warum Länder wie Bosnien-Herzegowina unbedingt in die EU müssen, wo diese doch bereits genug Fälle hat, in denen unterschiedliche Auffassungen und gegenseitige Animositäten ständig neue Sollbruchstellen offenbaren. Aber da sind es dann die geopolitischen Überlegungen, die wie so oft das Denken der „EUropäer“ bestimmt. Denn ein Bosnien – ob mit oder ohne Kroaten und Serben – könnte ja zum Einfallstor radikalislamischer Terroristen werden. Und ein Serbien, das nicht durch Brüssel kontrolliert wird, wäre die ideale Basis für die Moskowiter, um den alten, panslawistischen Zug zum Mittelmeer in Angriff zu nehmen.
Müll, alles Müll
Was nun allerdings den Posten des „Hohen Repräsentanten“ betrifft – da wäre es der UN vielleicht künftig zu empfehlen, sich nicht an einem ordnungs- und regelbestimmten Deutschen zu versuchen, sondern sich jemanden zu holen, der aus seiner langjährigen, diplomatischen Tätigkeit über die notwendige Erfahrung verfügt, um mit Ländern, in denen nichts funktioniert und in denen sich die Bewohner aus ethnischen und religiösen Gründen gegenseitig nicht über den Weg trauen, sachgerecht umgehen zu können.
Denn bei aller Kritik, die man an der Art des Auftritts des Hohen Repräsentanten Christian Schmidt nun äußern darf – in der Sache ist ihm nicht zu widersprechen: „Müll, alles Müll!“. Und wer es leid ist, der sollte dann auch so konsequent sein und auf Titel und Entlohnung umgehend verzichten.