Es klingt unbarmherzig nüchtern, wenn Thilo Sarrazin feststellt: „Das Böse und Irrationale ist in der Welt.“ Und den sachlichen Tonfall behält er bei, wenn er nachsetzt: „Und es richtet sich nicht nach unseren Wünschen.“ Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wüssten wir es erneut, meint er. Für ihn ist dies der größte Angriff auf die menschliche Vernunft; den meisten erschien er bis zum 24. Februar 2022 undenkbar.
Dabei ist doch die Vernunft der größte Maßstab für menschliches Handeln. Oder sollte zumindest sein. Denn sie ist es, die mit ihrer Schwester, der Aufklärung, das Fundament für einen beispiellosen wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt geschaffen hat. „Das größte Wunder der Rationalität ist für mich der europäisch-angelsächsische Denkstil“, formuliert Sarrazin im Gespräch mit Tichys Einblick, „der immerhin in bestimmten Teilen Europas und Nordamerikas schon seit 300 Jahren vorherrscht und in Wellen anbrandender Irrationalität bislang auch nicht untergegangen ist.“
Evidenzbasiertes Denken, Anwendung von Logik und Empirie sind Kern des gesamten menschlichen Fortschritts zu mehr Wissen und Erkenntnis. Dies „steht im Gegensatz zu Ideologie, Aberglauben und dem Herbeifantasieren von bloß gewünschten Wahrheiten.“ Sarrazin weiß auch: Sie ist immer wieder gefährdet, sehr sogar, die Vernunft. Deswegen hat er sein neues Buch der „Vernunft und ihrer Feinde“ gewidmet.
Im ersten Teil beschreibt Sarrazin sein Leben und die Verflechtungen in das Deutschland der 1970er und 1980er und wie dies seinen Denkstil prägte. Man kann darin ein wenig von der Geschichte der alten Bundesrepublik erahnen und warum sie über viele Jahre so erfolgreich wurde. Er beschreibt sein kritisch-rational geprägtes Bild einer offenen Gesellschaft, wie sie trotz oder gerade wegen der Auseinandersetzungen um Atomkraft und Nachrüstung in jener Zeit herrschte und auf die man aus unserer derzeit hochideologisierten Phase schwärmend zurückblickt.
Im Gespräch in seinem Garten – wunderbar angelegt, sorgfältig gepflegt, zum Wohlfühlen geschaffen – spricht er über die Gefahren der offenen Gesellschaft. Dabei geht er auch noch einmal auf „sein“ Thema ein, das der Evolution, Intelligenz, wie weit sie vererbt werden kann, und das der Ethnien und Rassen, referiert nichts anderes als Fakten. Schon früh räumte er mit den politischen Slogans – „Der Islam gehört zu Deutschland“ oder Migration sei per se gut – auf und verstieß damit gegen die herrschende Orthodoxie – so heftig, dass die wiederum Sarrazin verstieß. Wie das eben so geht, wenn die Argumente ausgehen: Er sollte als Autor delegitimiert werden, wie er sagt.
Mit der SPD hat er übrigens vollkommen abgeschlossen, widmet sich in seinem Buch allerdings noch einmal seinem Ausschluss, der stark vom damaligen Generalsekretär und heutigen SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil bejubelt wurde, ebenjenem Lars Klingbeil, der im vergangenen Bundestagswahlkampf noch Altkanzler Schröders Wahlkampfhilfe dankbar annahm. In den diversen Schiedskommissionsverfahren jedoch griff er stets nur die moralische Integrität Sarrazins an, Argumente brachte er keine vor.
Von SPD geächtet, von Lesern geliebt
Das Resultat ist eindeutig: Während die SPD sich immer stärker von einer Volkspartei verabschiedet, wird Sarrazin immer mehr zum Volksschriftsteller. 1,5 Millionen Mal verkaufte sich sein „Deutschland schafft sich ab“ aus dem August 2010. Die SPD träumt von jenen Zeiten, als sie so viele Mitglieder hatte wie Sarrazins Bücher Auflage. Nebenbei bemerkt: Sarrazin hat sich nie gegen das Asylrecht ausgesprochen, wohl aber gegen dessen Missbrauch.
In seinem neuen Buch versucht er herauszuarbeiten, woher die Angriffe auf die Vernunft kommen. Für Sarrazin bedenklich, dass seit einigen Jahren in der westlichen Welt offenbar jene Minderheiten wachsen, die Wünsche, Fantasien und Vorurteile an die Stelle von positivem Wissen stellen. Viele Medien unterstützten solche Tendenzen, sie finden sich auf der linken wie auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums.
Ideologische Verengung
Doch es passe vieles nicht mehr zum Geist der abendländischen Aufklärung, schreibt Sarrazin: „Während in Fragen der Kleidung, des guten Benehmens, der sexuellen Orientierung, der Einstellung zu Ehe und Familie eine große Liberalisierung stattgefunden hat, hat es auf anderen Gebieten eine erhebliche Verengung gegeben. Das gilt insbesondere für die kulturelle Haltung zu naturwissenschaftlichen und biologischen Erkenntnissen. Auch Diskussionen über Einwanderungsfragen und das Verhältnis der Geschlechter werden mehr und mehr ideologisch verengt.“
Doch Finger weg von dem Versuchen, Menschen vorschreiben zu wollen, was sie tun müssten, um glücklich zu werden. Dies ende im Unglück. Sarrazin sieht die große Kulturleistung der modernen westlich demokratisch verfassten Gesellschaften gerade darin, dass sie die Sinnfrage privatisiert habe.
„Nach dem westlichen Ordnungsmodell sollen sich Staat und Gesellschaft grundsätzlich auf das Organisatorische beschränken. Ihren Lebenssinn müssen sich die Bürger selber suchen, den können sie nicht von der Gesellschaft erwarten. Dieses Gedankenmodell ist bestechend einfach und der Kern des gesellschaftlichen Freiheitsversprechens der westlichen Moderne. Darin liegt aber auch ihre Achillesferse, denn das westliche Gedankenmodell kommt an seine Grenzen, wenn Bürger ihre Sinnsuche auf die Organisation der Gesellschaft projizieren.“
„Man rennt dahin, wohin alle zu rennen scheinen,
und gegebenenfalls auch in das eigene Verderben“
An dieser Stelle zitiert er den attischen Staatsmann Perikles: „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Zukunft vorherzusagen, sondern gut auf sie vorbereitet zu sein.“ Damit habe er sowohl das Ziel als auch die Grenzen von Politik auf den Punkt gebracht. Das hatte Perikles schon im 5. Jahrhundert vor Christus notiert – lange bevor neuzeitliche Alarmisten auf den Plan traten und wider alle Vernunft im Jahr 1972 voraussagen konnten, dass im Jahr 2000 das Sozialprodukt pro Kopf in Japan mehr als doppelt so hoch wie das der USA sein werde, die Sowjetunion die Bundesrepublik überholen und China weiterhin in absoluter Armut verharren werde. Das steht in einem der berühmtesten „Werke der Sozialutopie“: in „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome.
Der Glaube an ein historisches Entwicklungsgesetz führe fast immer zu einer Utopie; eine utopische Sozialtechnik strebe einen Neubau der Gesellschaft als Ganzes an, und der Glaube daran führe fast immer zu der Überzeugung, dass die Menschen in ihr Verderben rennen, wenn man nicht dafür sorge, dass sie sich in Richtung der angestrebten Utopie bewegten.
Sarrazins Leistung liegt in einer klaren Beschreibung der Wirklichkeit. Erst die trägt zur Veränderung bei und hilft gegen die Feinde der Vernunft. Wie seinerzeit, als er 2002 als frischgebackener Finanzsenator in Berlin sagte, die Stadt habe kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem. Erst nach dem Abflauen des obligatorischen Entrüstungssturms konnten die zu hohen Ausgaben reduziert und der Haushalt der Stadt auf ein solides Fundament gestellt werden.
Wider den Konformitätsdruck
Sarrazin verweist auf das instinktive Urbedürfnis der meisten Menschen, sich nicht in Widerspruch zur vermuteten oder tatsächlichen Meinung der Mehrheit zu stellen – den Konformitätsdruck. Er selbst hat damit erkennbar keine Probleme. „Man rennt dahin, wohin alle zu rennen scheinen, und gegebenenfalls auch in das eigene Verderben“, sagt er.
Sosehr er auch über das gesamte Buch hinweg für mehr Rationalität wirbt, weiß Sarrazin dennoch: „Mein Realismus bringt auch die Erkenntnis mit sich, dass das Irrationale und Gefühlsgesteuerte immer wieder siegen wird. Denn es enthält die Versprechen des Lebens, Gemeinschaft der Solidarität, Heldenmut, Transzendenz, Sinn, Liebe. Alle Religionen und die meisten Ideologien, die auf -ismus enden, tragen Elemente davon mit sich.“
Sarrazin hält es für wahrscheinlich, „dass menschliche Gesellschaften immer wieder von einem irrationalen Wahn überrollt werden beziehungsweise sich ihm ergeben. Dem Sisyphus gleichend, muss man nach solchen Schüben der Irrationalität mühsam wieder Inseln der Rationalität schaffen, die aber stets zeitlich und örtlich begrenzt sind.“
Und zur aktuellen Lage? Die Ampelkoalition werde nur kurze Zeit im Amt Bestand haben, wenn sie nicht drei Dinge sicherstelle: Verfügbarkeit von Energie, Bezahlbarkeit von Energie und Sicherheit der Arbeitsplätze in der deutschen Industrie. „Der Ausgang des Experiments darf mit Spannung erwartet werden“, so Sarrazin trocken.
Thilo Sarrazin, Die Vernunft und ihre Feinde. Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens. LMV, 392 Seiten, 26,00 €.