Tichys Einblick
Enrico Letta

Die italienische Linke zerlegt sich selbst

Enrico Letta ist das Musterbild des EU-freundlichen Funktionärs und Parteipolitikers mit internationalen Verbindungen. Doch statt die „Neofaschistin“ Giorgia Meloni zu verhindern, droht er mit taktischen Spielereien das Wahldesaster noch zu verschlimmern.

Der Chef des Partito Democratico, Enrico Letta, auf einer Veranstaltung der Sozialistischen Partei Italiens (PSI).

IMAGO / ZUMA Wire

Vielleicht wird man es eines Tages als „Letta-Paradoxon“ bezeichnen: Im Willen, die vermeintliche Neofaschistin Giorgia Meloni als Ministerpräsidentin zu verhindern, bedient sich die Linke jedes Mittels und zerstört sich dabei selbst – und ermöglicht damit zum ersten Mal einer Frau, Regierungschefin Italiens zu werden. Schaut man sich das Trauerspiel links der Mitte an, könnte man leicht zum Schluss kommen, dass die dortigen Protagonisten als verdeckte Maulwürfe der Rechten den eigenen Wahlkampf sabotieren.

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Enrico Letta, der Chef des linken Partito Democratico (PD), begann schon vor Mario Draghis Rückzug mit der Wahlkampagne. Sie umfasst bis dato drei Eckpunkte. Erstens: Nur der PD ist EU- und Nato-treu, die Rechten sind Putinversteher. Zweitens: Nur der PD kann Italien vor einem zweiten Marsch auf Rom retten, den die Rechten mit ihrer anberaumten Verfassungsänderung vorbereiten. Und – seit Draghis Rücktritt – drittens: Der PD will Draghis Politik fortsetzen und ist damit für Italien die einzige verantwortungsvolle Regierungsalternative.

Letta ist der Typus des technokratischen Politikers, der seine Unterstützer – länderübergreifend – im journalistischen Juste milieu hat und sich in dieser Welt wie ein Fisch im Wasser bewegt. Das ist wörtlich zu nehmen: Seine Ehefrau arbeitet als Journalistin beim Corriere della Sera, einer der großen italienischen Tageszeitungen. Er gilt als einer der gemäßigten Köpfe seiner Partei. Seine politische Karriere begann er bei den Christdemokraten, die später unter verändertem Namen mit den Linksdemokraten zum PD fusionierten. Unter Ministerpräsident Massimo D’Alema war er 1998 mit 31 Jahren der jüngste Minister Italiens. Ironie am Rande: Giorgia Meloni wurde 2008 ebenfalls mit 31 Jahren jüngste Ministerin des Landes.

Enrico Letta will Draghis Politik fortsetzen

Auch ansonsten liest sich Lettas Lebenslauf wie der eines klassischen Funktionärs und Parteipolitikers: Minister- und Staatssekretärsposten in allen linken Regierungen seit Ende der 90er, Mitglied in Denkfabriken wie Brzezińskis Trilateralen Kommission und dem Aspen Institute, sowie Präsident des Jacques-Delors-Instituts; einer von der EU mitfinanzierten Denkfabrik, die sich mit der Vertiefung der europäischen Integration beschäftigt.

Letta erfüllt damit trotz seines jungen Alters alle Klischees eines „veterodemocristiano“, eines „alten Christdemokraten“. Diese wenig schmeichelhafte Bezeichnung steht für Persönlichkeiten, die der alten Kaste angehören und darin wichtige Funktionen erfüllten, wenn sie heute auch unter einem anderen Label auftreten – und unter Ausnutzung machiavellistischer Taktiken vor allem den eigenen Machterhalt im Auge behalten. In Italien wird diese Staatskunst insbesondere mit dem siebenfachen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti assoziiert. Assoziationen zu alten Christdemokratinnen mit sechzehnjähriger Amtszeit sind intendiert.

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Bisheriger Höhepunkt seiner Laufbahn war die Amtszeit als Ministerpräsident von 2013 bis 2014. Sie war zudem ein Tiefpunkt, da Letta nach weniger als zwölf Monaten im Amt von seinem Rivalen, dem damaligen Florentiner Bürgermeister Matteo Renzi, abgesägt wurde. Die Italiener haben diese Demontage lagerübergreifend als Befreiungsschlag begriffen. Die Amtszeit Lettas zeichnete sich durch spröde Ereignislosigkeit und Verwaltung bestehender Probleme aus. Es war zudem die erste „Große Koalition“ der jüngeren Geschichte. So sehr sein Nachfolger Renzi später scheitern sollte: Unter Renzi gab es wenigstens Bemühungen, etwas am von Parteien und Geronten zerfressenen Staat zu ändern.
Das Ende von Lettas Amtszeit war für viele Italiener ein Befreiungsschlag

Für Europa besteht Lettas Erbe aus über 150.000 Migranten, da die Regierung sich besonders in der Seenotrettung engagierte. Ein vielsagendes Detail dürfte sein, dass Lettas erster Staatsbesuch in Berlin war, um Angela Merkel seine Aufwartung zu machen. Ihn verband zudem ein enges Verhältnis mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande. Im rechten Lager sieht man in Letta daher einen Erfüllungsgehilfen der EU und des im Westen herrschenden woken Zeitgeistes inklusive Klimahingabe, von dem Italien bisher größtenteils verschont geblieben ist. Die Wahl am 25. September ist damit auch eine Richtungswahl, ob Italien sich in Zukunft an „westliche Verhältnisse“ anpasst oder sich ähnlich den mittelosteuropäischen Staaten dieser erwehren kann.

Dass die Medien Lettas Wahl befeuern, dürfte angesichts der „Connections“ wenig verwundern. Aber ein Apparatschik ist kein Sympathieträger; auch Letta wurde 2013 nicht als Spitzenkandidat des PD – das war dazumal der linke Pier Luigi Bersani – aufgestellt, sondern kam als Kompromisskandidat nach Hinterzimmergesprächen ins Amt. Letta mimt den Zentristen, um unentschiedene Wähler der Mitte zu gewinnen. Doch bei den linken Wählern will der spröde Altchristdemokrat kein Feuer entfachen. Der PD erreicht in den Umfragen mit rund 22 Prozent das zweitbeste Ergebnis (Giorgia Melonis Fratelli d’Italia: 24 Prozent). Doch das gesamte linke Lager kommt derzeit nur auf rund 30 Prozent – im Gegensatz zum rechten Lager, das bei 48 Prozent liegt. Noch deutlicher wird das im direkten Vergleich bei den Vertrauenswerten: Letta erreicht 25 Prozent, seine Rivalin Meloni dagegen 40 Prozent.

Doch die Lage ist noch dramatischer. Denn anderthalb Monate vor der Parlamentswahl ist von einer Aufholjagd nicht die Rede. Im Gegenteil: Letta und der PD verlieren an Zustimmung. Zurückzuführen ist das auf die politische Taktierei von Letta selbst. Im Bemühen, eine möglichst breite Front gegen das rechte Lager zu formen, hat sich der Ex-Premier verspielt.

Letta verprellt die Linksliberalen, weil er mit den Linksradikalen flirtet

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In Italien stellen sich Einzelparteien und Bündnisse zur Wahl. Damit eine Einzelpartei ins Parlament einziehen kann, benötigt sie 3 Prozent der Stimmen. Ein Bündnis kann aus mehreren Parteien bestehen, braucht aber 10 Prozent der Stimmen. Um kleinen Parteien einen Einzug in die beiden Kammern zu ermöglichen, schließen sich die Parteien zu Listen zusammen: Das ermöglicht nicht nur eine bessere Abstimmung für eine spätere Koalitionspolitik, sondern hat den Vorteil, dass kleine Parteien ihre wenigen Prozente in eine Gesamtkoalition einbringen, die am Ende das Zünglein an der Waage sein können.

Zugleich sind solche Wahlbündnisse eine Richtungsentscheidung: Paktiert man lieber mit den Rändern oder eher mit den Kräften des Zentrums. Dass man mit Postkommunisten keine Wahl gewinnen kann, in der insbesondere die Mitte unentschieden ist, dürfte auch dem PD klar sein. Daher entschied sich Letta zuerst für die „liberale“ Mitte-Links-Option. Er streckte dem sozialliberalen Carlo Calenda die Hand aus, der 2019 mit Azione ein eigenes Projekt aufgemacht hat, das auch für Mitte-Rechts-Wähler interessant sein könnte. Einige Berlusconi-Abweichler haben dort eine neue Heimat gefunden. Durch eine angedachte Fusion mit der proeuropäischen Partei +Europa haben sich ihre Chancen im bürgerlich-linken Spektrum verbessert. Umfragen sahen Azione in den letzten Wochen bei 4 bis 5 Prozent – und damit als wichtigen Mehrheitsbeschaffer für den PD.

Doch die neue Allianz zerrüttete schnell – weil Letta auch mit den radikalen Linken zusammenarbeiten wollte. Denn auch am linken Rand gab es eine Fusion: die der Linksradikalen mit den Grünen. Zusammen käme diese neue Parteivereinigung ebenfalls auf 4 Prozent. So schmiedete Letta ein umfangreiches, antifaschistisches Bündnis, das auch aus den Sozialisten und anderen linken Splitterparteien bestehen sollte. Doch Letta unterschätzte damit, wie viel er von seinen linksliberalen Partnern abverlangte. Calenda verließ mit seiner Azione wieder das Bündnis. Vorwurfsvoll hallte Enricos Warnung nach, er helfe „damit den Rechten“. Jetzt will Calenda mit Renzis Kleinpartei Italia Viva einen „dritten“, liberalen Pol zwischen links und rechts aufmachen – ein Projekt, dessen Erfolg in den Sternen steht.

Keine Aufholjagd in Sicht: Die Linken verlieren in den Umfragen

Der Streit hat in der letzten Woche alle Parteien des linken Spektrums Verluste beschert: sowohl Azione wie PD gaben jeweils einen Prozentpunkt nach, +Europa trennte sich von Calenda. Dagegen verzeichneten Lega und Forza Italia Gewinne. Das Beispiel zeigt dabei gleich auf mehrfache Weise, in welcher politischen und medialen Parallelwelt die Protagonisten gefangen sind. Zum einen scheint das Thema „Antifaschismus“ keine Rolle zu spielen: Die Mehrheit der Italiener sieht keine „faschistische“ Bedrohung von Meloni ausgehen, so sehr dies nationale, wie internationale Sprachrohre auch vermelden. Der Vertrauensverlust in Letta zeugt zudem davon, dass man Calenda bei diesem Drama nicht als Einzigen verantwortlich macht: Der Linkskurs der Partei bringt keine zusätzlichen Stimmen.

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Auch ein anderes Narrativ gerät ins Wanken. Letta hatte neuerlich Berlusconi und Salvini als russophil angeklagt. Doch die Rechte leidet nicht mehr unter diesem Vorwurf, weil Meloni einerseits als Transatlantikerin für einen Nato-Kurs steht und anderseits die Fratelli d’Italia genau diesen Kurs für das ganze rechte Bündnis festgeschrieben hat. Dadurch, dass Letta jene linken Kräfte ins Bündnis aufgenommen hat, die selbst als Moskauversteher gelten und bei der Abstimmung zur Aufnahme von Schweden und Finnland in die Nato gegen den Vorschlag gestimmt haben, macht Lettas Moralismus nur noch unglaubwürdiger.

Bleibt nur noch die Fortsetzung der Agenda Draghi. Letta galt seit Wochen als designierter Erbe des Ex-EZB-Chefs. Wo immer er auftauchte, stilisierte er sich zum wahren Verteidiger von Draghis Politik und als Garant dafür, dass er diese fortsetze. Doch eine Notiz kam in den letzten Tagen wie ein Dolchstoß: Draghi äußerte höchstpersönlich, dass so eine „Agenda Draghi“ gar nicht existiere. Offenbar hat der scheidende Premierminister kein Interesse an parteipolitsicher Vereinnahmung. Lettas moralistischer Ansatz, der nur Ideen, virtue signaling und Absichtserklärungen enthält, löst sich damit immer mehr auf. Wer dauernd vor Faschismus warnt und die Ukraine zum nationalen Thema machen will, hat schlechte Karten, wenn sich die entscheidende Fragen nach dem konkreten Programm stellt.

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