Deutschland ist ein Land, in dem die Grünen, obwohl sie selbst nach den neuesten Umfragen nicht mehr als maximal 25 Prozent der Wähler (und deutlich weniger als 20 Prozent der Wahlberechtigten) für sich mobilisieren können, die politischen und kulturellen Debatten fast hegemonial beherrschen. Die CDU hat sich bis heute nicht wirklich von Merkels Versuch, die CDU durch komplettes Wegschleifen ihres Profils kompatibel für eine Koalition mit den Grünen (die es dann im Bund nie gab) zu machen, erholt, und die SPD wird – obwohl sie offiziell noch den Kanzler stellt – zunehmend zum Juniorpartner der Grünen. Ohne Zweifel besitzt auch Habeck sehr viel mehr Strahlkraft als der glücklose Kanzler Scholz.
Eine solche Kritik hat jetzt die französische Philosophin Bérénice Levet vorgelegt, eine Schülerin von Alain Finkielkraut. Ihr Buch „L’écologie ou l‘ îvresse de la table rase“ (Die Ökologie oder die Trunkenheit der Tabula Rasa, Paris 2022) mag stark polemisch zugespitzt sein, ist aber doch oft treffend, und vieles ist mit gewissen Abstrichen durchaus auf Deutschland und die deutschen Grünen übertragbar.
Für Levet stellt die Ideologie der Grünen einen Angriff auf den Menschen selbst oder zumindest den Menschen als Kulturwesen dar. Für die Grünen sei der Mensch im Grunde genommen nicht mehr als ein Lebewesen („vivant“) neben anderen; kulturelle Wurzeln benötige er nicht und die ideale Lebensweise für ihn sei eine gänzlich geschichtslose. Deshalb auch der Angriff auf alle sichtbaren Spuren der Vergangenheit, wie Denkmäler oder sogar auf Kunstwerke und literarische Werke, die nicht mehr als politisch korrekt angesehen werden. Es geht nicht einfach nur um die Aufarbeitung – vermeintlicher – früherer Schuld, es geht um die Geschichtslosigkeit als Prinzip, schon deshalb, weil nur ein geschichtsloser Mensch reiner Weltbürger ohne die Bindung an eine Nation und eine konkrete politische Gemeinschaft sein kann. Und dazu, zu einem reinen Weltbürger, wollen viele Grüne den Menschen gern umerziehen, wohl auch in der Annahme, dass sich nur so globale Umweltprobleme lösen lassen. Die von den Grünen verherrlichte EU ist hier nur das Zwischenstadium auf dem Weg zu einer Art kosmopolitischem Weltstaat als Endziel.
Auch in anderer Hinsicht ist die spezifische grüne Weltanschauung zumindest in ihren „woken“ Spielarten stärker ein Produkt der so sehr verachteten westlichen Kultur, als ihren Vertretern – oder heißt es Vertretenden? – lieb sein könnte. Das gilt etwa für das Insistieren darauf, dass alle möglichen gesellschaftlichen Gruppen und die exotischsten Minderheiten jederzeit ausreichend „sichtbar“ sein müssten und dies schon in der Sprache selbst seinen Ausdruck finden müsse, was dann zur Forderung nach „geschlechtergerechter“ Sprache führt. Levet erinnert zu Recht daran, dass die Idee der persönlichen Sichtbarkeit in der Antike eng mit der Idee des Ruhms verknüpft war; öffentlich sichtbar war der, der sich als heroischer Krieger, als Sportler, als Wohltäter der Polis oder als Inhaber eines öffentlichen Amtes auszeichnete. Mit dem späten 18. Jahrhundert – so kann man Levets Überlegungen ergänzen – trat dann die Idee der Berühmtheit an die Stelle des Ruhms.
Berühmt, oder zumindest bekannt konnte – und sei es nur für einen kurzen Moment – fast jeder potenziell werden, wenn sein Leben auffällig genug war und er sich vielleicht auch exhibitionistisch selber öffentlich inszenierte, wie es schon Rousseau, einer der Väter der späten Aufklärung, aber auch der radikalen Zivilisations- und Fortschrittskritik und damit vielleicht ein früher Grüner, tat. An die Stelle des Helden und seines Ruhms trat die „celebrity“. Am Ende, in unserer Epoche, wurde dann aus dem subjektiven Anspruch auf diese Art von öffentlicher Anerkennung fast eine Art Menschenrecht auf „Sichtbarkeit“ für jede Gruppe, jede Minderheit, und im Namen dieses Anspruches wird dann auch die traditionelle Sprache politisch radikal umgestaltet (Tendenzen dieser Art gibt es mittlerweile auch in Frankreich, auch wenn staatliche Institutionen sich ihnen noch viel stärker widersetzen als in Deutschland).
Der Widerspruch der Haltung vieler Grüner heute besteht darin, dass sie einerseits – durchaus zurecht – den Menschen zum Respekt vor der Natur aufrufen, andererseits aber doch darauf bestehen, dass er sich jederzeit selbst neu erfinden könne, ohne dass ihm die Natur – etwa mit Blick auf seine geschlechtliche Identität – oder die Geschichte irgendwelche Grenzen setzen könne. Dem Menschen der westlichen Moderne wird einerseits – nicht immer zu Unrecht – sein zerstörerischer Hochmut vorgeworfen, andererseits übernimmt man aus dieser westlichen Moderne den Gedanken, dass der Mensch sein eigener Schöpfer sei und keiner Wurzeln bedürfe, weder in der Kultur noch im biologischen Sinne. Diese Ideologie kann eigentlich nur in eine Sackgasse führen, hier ist Levet zuzustimmen, aber die Krise des Westens und Europas muss sich wohl noch einmal dramatisch zuspitzen, bevor eine breitere Öffentlichkeit dies erkennt. Zumindest gilt dies für Deutschland, wo es kritische Stimmen wie die von Bérénice Levet gar nicht gibt, oder wo sie zumindest kaum gehört werden.