Im Krieg in der Ukraine übernehmen die Verteidiger immer mehr die Initiative. Die ukrainische Armee feiert wieder zunehmend Erfolge. Nun läuft langsam auch die angekündigte Großoffensive im Süden an. Präsident Selenskyj will unter anderem die Großstadt Kherson zurückerobern und Druck von der wichtigen Hafenstadt Odessa nehmen.
Durch die Eroberungen, insbesondere der wichtigen Hafenstädte wie Mariupol und Odessa, sollte die Ukraine „erwürgt“ werden. „Wenn Russland den Süden nicht mehr kontrolliert, ist die Strategie gescheitert.“ Putin und seine Generale müssen im Fall einer Niederlage im Süden schwierige strategische Entscheidungen treffen – dann wäre plötzlich auch die 2014 besetzte Krim mit ihrem wichtigen Hafen Sewastopol in Gefahr. „Wenn Sewastopol in Reichweite der ukrainischen Langstreckenwaffen wäre – ist es dann noch eine Bastion, die es sich für Russland lohnt zu verteidigen?“, fragt Ryan. Die Halbinsel gegen eine konzentrierte ukrainische Offensive zu halten, dürfte sich schwierig gestalten.
Während der australische Experte den Ukrainern viele Chancen zurechnet, sehen andere die Erfolgsaussichten der Offensive begrenzt. Der renommierte Militärhistoriker Sönke Neitzel meint zwar im Interview mit der Welt, dass die Ukrainer lokale Erfolge erzielen könnten – „für eine groß angelegte Gegenoffensive fehlen meines Erachtens aber alle Voraussetzungen. Die quantitative und qualitative Überlegenheit ist nicht gegeben.“ Auch taktisch seien die Ukrainer im Nachteil gegenüber russischen Verteidigern: „Angreifen im großen Stil ist viel schwieriger und nach allen Informationen, die mir vorliegen, fehlen den ukrainischen Streitkräften dazu eben nicht nur die Waffen wie moderne Panzer, mehr Artillerie und Munition, mehr Kampfflugzeuge, sondern auch die taktischen Fertigkeiten.“ Ähnlich äußerte sich der Militärexperte Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. Auch er hält den Erfolg einer großen ukrainischen Gegenoffensive für unwahrscheinlich.
Russische Experten erklären die Gegenoffensive derweil für gescheitert, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat: „Selbstmörderisch“ seien die ukrainischen Pläne. Dennoch verstärkt Russland aktuell seine defensiven Stellungen im Süden der Ukraine, zieht sich streckenweise sogar zurück. Das ist jedoch weniger ein Zeichen von Schwäche, sondern eher eine taktisch sinnvolle Vorbereitung. Die Rückeroberung Khersons wäre militärisch, aber vor allem moralisch und propagandistisch bedeutsam für die Ukraine – ein Scheitern der Gegenoffensive hingegen würde Verluste bedeuten, die die Ukraine sich schlicht nicht leisten kann.