Blickt man in deutsche und italienische Medien, dann scheint die Sache klar: alle lieben Mario Draghi. Die Parteien wollen, dass er bleibt, die Bürgermeister wollen, dass er bleibt, das Ausland will, dass er bleibt, die EU will, dass er bleibt – und die Medien sowieso. Der katholische Journalist Antonio Socci brachte diese Stimmung ironisch auf den Punkt: die Taxifahrer in Los Angeles baten Draghi, zu bleiben; die grönländischen Robbenjäger baten Draghi, zu bleiben; ja selbst die polynesische Fischereigewerkschaft bat Draghi, zu bleiben; nur das, was die Italiener möglicherweise wollten, werde ignoriert.
„Draghi oder Tod!“ ist insbesondere im Lager der linken Mitte zum heimlichen Wahlspruch geworden. Um das Drama zu verstehen, das derzeit geboten wird, reicht die Einordnung des „Draghimörders“ Giuseppe Conte durch den Chef des linken Partito Democratico (PD), Enrico Letta. Der hatte Conte als Gavrilo Princip bezeichnet, den Mörder des habsburgischen Thronerben Franz Ferdinand, der mit seinem Attentat in Sarajevo den Ersten Weltkrieg auslöste. Die Tageszeitung Il Giornale sprach ironisch von einem „Draghizid“.
Was genau ab 9.30 Uhr im Senat der Republik passieren wird, war selbst am Dienstagabend noch nicht klar. Bis zuletzt hatte Draghi seine Absichten nicht näher erläutert. Die Medien spekulierten bereits über den Inhalt der Rede. Womöglich werde der Premier noch einmal den Verantwortlichen ins Gewissen reden wollen. Andere vermuteten eine harte Ansage an die Fünf-Sterne-Bewegung, die Draghi die Gefolgschaft versagt und damit die Regierungskrise erst ausgelöst hatten.
Das Einzige, was klar ist: entweder wird es eine Neuauflage des Kabinetts Draghi geben oder Neuwahlen. Die anderen Optionen sind im Verlauf der Tage unwahrscheinlicher geworden – dafür haben sich die Parteien zu sehr auf den aktuellen Ministerpräsidenten mit Treuebekundungen festgelegt. Das ist bemerkenswert, weil der ehemalige EZB-Präsident noch am Donnerstag ein „Draghi bis“, also ein neues Kabinett unter dem alten Premier, ausgeschlossen hatte.
Letzteres ist möglicherweise der Grund, warum Matteo Salvini (Lega) und Silvio Berlusconi (Forza Italia) nicht allzu schnell Richtung Neuwahlen preschen wollen. Eine Regierung „Draghi bis“ ohne Sterne wäre eine Entlastung für die Konservativen – und es gäbe Ministerposten zu verteilen.
Insbesondere haben es Lega und FI bisher verstanden, eine Reform des Staatsbürgerrechts zu verhindern, obwohl eine Mehrheit von PD und M5S dazu ausreichen würde, das ius soli durchzusetzen – und damit Italien grundlegend und nachhaltig zu verändern. Auch bei Themen wie Ausweitung des Grundeinkommens oder Sterbehilfe bestand ein linker Konsens. Dieser hatte jedoch keine Auswirkungen, da Draghi aus Rücksicht auf den „gemeinsamen Weg“ radikalen Ideen keinen Platz bot.
Zwar hatte es am Dienstagnachmittag Unmut bei Lega und FI gegeben, weil sich Draghi mit PD-Chef Letta, nicht aber mit den Spitzen der rechten Parteien ausgetauscht hatte. Doch noch am Abend brach eine Delegation von Spitzenvertretern, darunter Salvini, zum Palazzo Chigi auf, um die Parität wiederherzustellen. Berlusconi, der nicht anwesend war, telefonierte mit Draghi. Salvini und Berlusconi speisten zudem am Mittag wie am Abend, um das gemeine Vorgehen eng miteinander abzustimmen. Beide setzten Akzente, indem sie etwa Investitionen in die Kerntechnik neuester Generation und ein härteres Vorgehen gegen die Massenmigration forderten. Die Botschaft: wenn wir weitermachen, wollen wir uns das auch vergolden lassen.
Letta gab sich am Dienstagabend sicher, dass Draghi der neuen Konstellation zustimmen werde. Morgen werde „ein schöner Tag“. Nach Lettas Ansicht wird Draghi also weitermachen – mit oder ohne Sterne. Auch Ex-Premier Matteo Renzi, der seit der Abspaltung vom PD eine eigene Fraktion im Parlament leitet, ging davon aus, dass die Regierung am Mittwoch nicht stürzen werde.
Anscheinend hat man einen Konsens gefunden: die 5 Sterne, die das Desaster angerichtet haben, sollen als Sündenbock zur Rechenschaft gezogen werden. Die Beute teilen dann die Parteien, sonst so eitel zerstritten, brüderlich untereinander auf. Zumindest so lange, bis die Wahlen im Frühjahr ins Haus stehen.