Es gibt nicht viele lichte Momente bei Anne Will. Marcel Fratzscher verbraucht gleich am Anfang einen: In Deutschland gab es schon vor dem Ukraine-Krieg eine „Einkommensarmut“, sagt der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Außerdem hätten 30 Prozent der Bevölkerung kein Erspartes, mit dem sie auf Preiserhöhungen für Strom reagieren könnten. Wie das passieren konnte in einer der reichsten Industrienationen der Welt und wie wir aus dieser Situation rauskommen? Diesen Fragen widmete sich spontan die Sendung von Anne Will. War ein Spaß. Es ist Anne Will. Da geht es darum, was auf den Karteikarten der Moderatorin steht. In dem Fall Energiemangel, Preisobergrenzen und der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. Und damit es weder überraschend noch interessant wird, passiert das in Form des Austauschs von politischen Plattitüden.
Apropos schlechte Ergebnisse. Will hat wieder ihren liebsten Christdemokraten eingeladen: Jens Spahn. Er steht ebenso für die Versäumnisse der Merkel-Regierung wie für den planlosen Neustart der CDU. Nur mit der Tradition Ludwig Erhards hat Spahn indes weniger am Hut: Bei Will fordert er, den Gaspreis zu deckeln. Einen „Basisbeitrag“ solle es geben, auf den sich die Verbraucher verlassen könnten. An dieser Stelle ist Arbeitgeber-Chef Rainer Dulger zu nennen, der den zweiten lichten Moment der Show hat, als er sagt: „Wir wissen gar nicht, welche Feuer wir zuerst austreten sollen.“ So viele schwere Probleme kämen gleichzeitig zusammen.
Aber die Gäste wirken nicht mal so, als ob sie auch nur ein einziges Feuer austreten könnten – eher so, als ob sie brennende Späne noch weiter in die Landschaft schießen. Das zeigt sich schon beim einfachen Thema, Atomkraftwerke länger laufen zu lassen. Da stellte sich nun raus, dass entgegen den Aussagen von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) die Betreiber der Atomkraftwerke doch angeboten haben, Brennstäbe zu besorgen. Was Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang dazu zu sagen hätte, wäre interessant gewesen. Doch für grüne Politiker hat Anne Will eine Schutzzone geschaffen, in der die keine heiklen Fragen zu fürchten haben.
Stattdessen darf Lang ihr Programm zur Atomkraft abspulen. Die helfe nicht. Da sie Strom produziere und keine Wärme. Nun verstromt Deutschland Gas, das wiederum für die Wärme-Erzeugung eingespart werden könnte. Diese Einsparung ist so dringend notwendig, dass Habeck in seiner Verzweiflung die Bürger sogar dazu aufruft, weniger zu duschen und mit kaltem Wasser zu putzen. Angesichts dieses Zusammenhangs wirkt Langs Argumentation am Thema vorbei, ausweichend und vielleicht sogar ein wenig dümmlich. Doch von dieser Konfrontation bleibt Lang in der grünen Schutzzone Anne Will verschont.
Fratzscher ist es, der für die erhellenden Momente sorgt. Im Guten wie im Schlechten. Die Inflation solle man nicht dramatisieren. Jeder Euro, der mehr ausgegeben werde, sei ja auch ein Euro, der anderswo mehr eingenommen werde. So was gilt in Deutschland als Wirtschaftsexperte. Gut. Man könnte ihm unterstellen, er hätte sagen wollen, dass der Staat mitten in der schweren Krise den Bürgern so viele Steuern abnimmt wie noch nie und ihnen davon was erlassen könnte. Doch das sagt er halt nicht.
„Allein seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Deutschland 16,72 Milliarden Euro für Gas, Öl und Kohle nach Russland überwiesen“, zitiert die Bild Daten. Sie stammen aus einer Untersuchung des „Centre for Research on Energy and Clean Air“. Auch die steigenden Ausgaben für Rohstoffe haben dafür gesorgt, dass Deutschland im vergangenen Monat zum ersten Mal seit 30 Jahren eine negative Handelsbilanz hatte. Also mehr Geld ins Ausland gezahlt als dort erwirtschaftet hat. Das ist aber noch nichts gegen das Szenario, dass es im Winter an Energie mangeln könnte, um gleichzeitig Wohnungen zu beheizen und Industrie zu betreiben. Die bisherigen Rituale, von denen auch Anne Will lebt, ziehen dann nicht mehr: Steuererhöhungen fordern oder „Wohltaten“ für die Bürger, der Staat, der eingreifen soll oder das Unternehmen, das ja die Löhne erhöhen könnte.
Noch sind es diese Rituale, an denen sich die Gäste von Anne Will festklammern. Die alte Rezepte beschreien, wie ein Albträumender im Schlaf nach Hilfe ruft. Die sich vorm Aufwecken fürchten. Noch drei Tage, bis sich entscheidet, ob Putin das Gas wieder fließen lässt oder nicht. Was dann passiert? Die Sendung von Anne Will lässt dazu keine Schlüsse zu. Das kann sie nicht mehr leisten. Sie ist im Moment nur gut dafür, vorzuführen, wie hilflos und planlos die Beteiligten sind. Wie schon seit langem. Sonst wäre es in einem bisher reichen Land nicht zu „Einkommensarmut“ und fehlenden Rücklagen gekommen, ohne dass es in der wichtigsten politischen Talkshow bemerkt worden ist.