Wahlen könnten die Demokratie gefährden. Das scheint der unerklärte Wahlspruch der aktuellen italienischen Legislaturperiode zu sein. Lieber versuchen die Verantwortlichen, das vierte italienische Kabinett in vier Jahren einzurichten, als dem rechten Lager, dass bereits 2018 die relative Mehrheit der Stimmen gewann, die Möglichkeit einer Regierungsübernahme nach Neuwahlen einzuräumen.
Nicht anders kann man es interpretieren, wenn in wenigen Tagen gleich mehrere ausländische Regierungsoberhäupter auf Mario Draghi einwirken wollen. Nachdem Draghi seinen Rücktritt als italienischer Premierminister ankündigte, riefen sowohl der französische Präsident Macron als auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im Palazzo Chigi an. Sie wollten auf den Ex-EZB-Chef einwirken, doch noch auf seinem Stuhl zu bleiben – so berichtet es zumindest die Tageszeitung Repubblica. Zu diesem Kreis gehöre auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Indes wendeten sich in einem Aufruf mehrere Bürgermeister italienischer Großstädte an den Noch-Ministerpräsidenten, darunter Roberto Gualtieri aus Rom und Beppe Sala aus Mailand. Sie baten Draghi, sein Amt weiterzuführen. Augenfällig: es handelt sich vornehmlich um Bürgermeister, die dem linken Partito Democratico (PD) angehören. Der hatte vor Draghis Rücktrittsankündigung den Mund besonders vollgenommen: wenn Draghi zurücktrete, müsse man wieder an die Urne gehen. Nun hat man Angst vor der eigenen Courage.
Denn die ganze angestimmte Oper hat vor allem den Zweck, den parteipolitischen Gegner über Draghi-Belobungen von der Macht fernzuhalten. Denn bei keiner Regierungskrise der letzten drei Jahre waren Neuwahlen so wahrscheinlich wie jetzt. Neben der EU und den linken Parteien galt dabei vor allem einer als der größte Hintertreiber: Sergio Mattarella.
Der Staatspräsident versucht seit Beginn der Legislatur diese mit Biegen und Brechen bis zum Ende zu führen. Zwar hat die Lega in den Umfragen verloren und die „rechte Gefahr“, die von Salvini ausgeht, scheint gebannt. Doch gleichzeitig hat die „rechte Gefahr“, die von Meloni und ihren „Brüder Italiens“ (FdI) ausgeht, umso beständiger zugenommen. Mehrmals betonte er gegenüber Draghi, dass er dessen Rücktrittsangebot nicht annehmen werde. Doch es scheint, dass dieser Druck auf den Euro-Hüter erst recht zu dessen Widerborstigkeit führt. Ein ehemaliger EZB-Chef, der nur zu bestimmten Konzessionen den Schleudersitz des Premierministers übernehmen wollte, lässt sich nicht einfach herumkommandieren.
Diese in der Legislatur einzige vom Bürger legitimierte Konstellation gereichte damals bereits zu Ärger. Luigi Di Maio (M5S) und Matteo Salvini (Lega) kamen Staatspräsident Mattarella wohl nur Tage zuvor, bevor dieser eine technokratische Regierung zusammenzimmern konnte. Insbesondere die EU-kritischen Töne beider Parteien waren dem politischen juste milieu ein Dorn im Auge. Die Parteien rotteten sich zusammen, bevor das Establishment vollendete Tatsachen schaffen konnten.
Der Bruch der gelb-grünen Koalition durch Salvini im Spätsommer 2019 geschah nicht zuletzt, um von Neuwahlen zu profitieren, und den konservativen Parteien eine klare Mehrheit im Parlament zu verschaffen. Doch Salvini hatte nicht mit dem Opportunismus der Anti-Establishment Sterne gerechnet, die plötzlich mit der „casta“ paktierten und dem linken Partito Democratico (PD) zurück zur Macht verhalfen.
Giuseppe Conte blieb als Premier im Amt – und auch damals bevorzugten es Mattarella, ein unregierbares Parlament mit zerstrittenen Koalitionspartnern auszuhalten, statt reinen Tisch zu machen. Die Sterne drohten zu verblassen, die Lega stärkste Kraft zu werden – und damit jene „Rechten“, die man innerhalb wie außerhalb Italiens zu den Widergängern Mussolinis stilisierte. Dabei knirschte es zwischen M5S und PD mindestens so häufig wie mit der Lega – womöglich sogar mehr.
Die aktuelle Krise wirkt daher in vielen Facetten wie eine Neuauflage der letzten. Doch nach Jahren des Koalitionsgeschachers, der Spaltungen und der Einwirkungen – Wählerwille oder die Souveränität des Bürgers spielen offenbar schon lange keine Rolle mehr – übernehmen die Ermüdungserscheinungen. Mit Draghi hat sich die italienische Politik einen Außenseiter geholt, der keine Ambitionen darauf hat, sein Amt wie ein Löwe zu verteidigen und den die Idee antreibt, es irgendwann wieder zurückzuerobern.
Die italienische Partitokratie, die linke Kaste, die anderen europäischen Länder und die EU flehen Draghi an zu bleiben. Denn offenbar ist bekannt, dass es keinen Plan B gibt. Wer soll nach den verschiedenen Koalitionen und den Zerwürfnissen noch zusammenarbeiten? Verträgt Italien noch eine Übergangsregierung? Man klammert sich an der Hoffnung auf ein „Draghi-bis“, also ein Draghi-Kabinett mit anderen Mehrheiten. Der Verzweiflungsschrei wird lauter, weil kein erlösender Bejahungsruf kam.
Und Draghi selbst? „Es gibt gute Gründe zu gehen und es gibt gute Gründe zu bleiben“, lauteten die sphinxgleichen Worte aus dem Regierungssitz zum Wochenende. Das kann man als Unverbindlichkeit deuten – oder als Methode, um den Preis höher zu treiben. Dass jemand zur Macht getragen werden will, ist ein Novum für die römische Politik.